Kapitel 37 | Schuld und Schmerz I
Schwerer Crash wegen Glatteises in der Innenstadt
Gestern am späten Abend musste die Kreuzung Deichstraße-Himmelsgärtenallee aufgrund eines Unfalls gesperrt werden. Die Bremsen eines LKWs versagten auf einer vom Schneematsch bedeckten Seitenstraße in der Innenstadt, wodurch der Truck ein Auto von der Fahrbahn rammte. Der Fahrer des Wagens war auf der Stelle tot.
Nach Aussagen der Polizei war der Fahrer des LKWs, der den Unfall verursachte, aufgrund von Überstunden während der Weihnachtszeit bereits zu müde zum aufmerksamen Fahren gewesen. Infolgedessen wird nun gegen die Spedition Bringut wegen rechtswidrigen Arbeitsverhältnissen ermittelt.
- aus „Der Merkur" - Ausgabe vom 21. Dezember des vorletzten Jahres
„Geht es dir besser?"
Miles hob den Blick und nickte kurz in Frau Wasabis Richtung. Vor wenigen Minuten war sie zurück ins Gästezimmer gekommen und hatte ihn aufgeweckt, um zu fragen, ob er etwas essen möge. Sein Magen war einverstanden gewesen und hatte Miles gezwungen, sich die von den Schatten zerissenen Klamotten anzuziehen und seiner Lehrerin in die Küche zu folgen; ein kleiner und gemütlicher Raum, mit einem Tisch, der noch zwei weiteren Personen genügend Platz bieten konnte.
Ein Blick auf die Küchenuhr verriet ihm, dass es bereits spät am Nachmittag war. Es gab einen selbstgemachten Gemüseauflauf mit Nudeln, den die Hüterin just in diesem Moment aus dem Ofen holte und nun direkt vor ihm auf dem Tisch platzierte. Ein verführerischer Duft breitete sich wie ein Urlauber auf seinem Liegestuhl aus und weckte Miles' Lebensgeister. Wann hatte er das letzte Mal so etwas Gutes gerochen? Nach der gestrigen Nacht erschien es ihm eine Ewigkeit her zu sein.
Frau Wasabi wies ihn an, sich zu bedienen, während sie selbst eine Flasche Wasser und Orangensaft aus dem Kühlschrank holte, die sie zusammen mit zwei Gläsern auf den Tisch stellte. Er wartete höflich, bis auch sie ihren Teller gefüllt hatte, bevor sie beide sich einen guten Appetit wünschten und mit dem Essen begannen – schweigend.
Miles probierte den Auflauf und stellte fest, dass seine Nase ihn nicht enttäuschte. Es schmeckte wirklich so gut, wie es der Duft versprach. Verschämt, weil seine Lehrerin ihn jetzt auch noch bekochte, warf er ihr einen flüchtigen Blick zu, nur um dann zur Flasche mit dem Orangensaft zu greifen und sich ein Glas einzuschenken. Frau Wasabi aß seelenruhig weiter und übersah sein Verhalten.
Er hätte nicht bleiben sollen. Zwar hatte er schon oftmals gelogen, aber dieses Mal fühlte es sich ... echt unangenehm an. Felix wäre beinahe gestorben, nur seinetwegen! Wieso freute er sich nicht einfach, dass der Junge sich für ihn eingesetzt und vor der Extraktion bewahrt hatte? Selbst als er mit Däx letztes Schuljahr in den Baumarkt eingebrochen war und die Polizei ihn mit aufs Revier geschleift hatte, war er nur verärgert gewesen, dass man sie entdeckt hatte. Was war nur los mit ihm?
„Sie kochen sehr gut", lobte Miles, dem die Stille zwischen ihnen nicht behagte. „Schmeckt lecker."
Die Hüterin hob den Kopf und schmunzelte leicht. „Es stellt keine besondere Herausforderung dar, wenn man bedenkt, dass du dich hauptsächlich von Fast Food und Fertiggerichten ernährst."
„Tja ..." Etwas verlegen stocherte er in seinem Essen herum, bevor er sich eine weitere Gabel in den Mund schob und den Blick aus dem Fenster richtete.
Draußen präsentierte sich ihm eine schnuckelige kleine Terasse. Darüber ragte ein großer Apfelbaum auf, welcher gerade die Endergebnisse eines langen Photosyntheseprozesses darbot. Miles sah zurück auf seinen Teller, schluckte den Bissen hinunter und lud sich den nächsten auf die Gabel.
Er wusste nicht, wie er nun mit Frau Wasabi umgehen sollte. Das Gefühl war ungewohnt und absolut unangenehm. Reue? Scham? Unsicherheit? Alles auf einmal?
„Miles, ist das wirklich wahr, was Felix erzählt hat?"
Vor Schreck hätte er beinahe die Gabel fallen gelassen.
„Was wollen Sie damit sagen?", knurrte er wie ein in die Ecke gedrängtes Tier. „Wollen Sie etwa andeuten, das alles sei meine Schuld? Dass ich den Jungen zum Trinken angestiftet – ihn wenn nicht sogar abgefüllt habe? Glauben Sie etwa, ich habe ihm gedroht, damit er Sie anlügt?"
Frau Wasabi horchte auf und runzelte die Stirn. „Himmel, wie kommst du denn darauf?", fragte sie ehrlich erstaunt.
„Sie haben mir unterstellt zu lügen! Immer denken alle ..."
„Ich habe dir nicht unterstellt zu lügen, was redest du da?", unterbrach die Hüterin, bevor er mit seiner Verteidigungsrede fortfahren konnte. „Miles, hör doch mal genau zu, was man dir sagt, bevor du dich angegriffen fühlst! Du führst dich auf, als würde ich dir jeden Moment den Kopf abreißen, und das, obwohl du dem jungen Felix gestern das Leben gerettet hast."
Beschämt starrte er auf seinen Teller. Idiot, schimpfte er sich. Weise sie noch deutlicher darauf hin, dass du ein schlechtes Gewissen hast. Nein, besser noch: Sag es ihr einfach gleich!
Komischerweise wollte er das sogar. Frau Wasabi glaubte ihm. Sie glaubte, dass er nicht das Problemkind aus der Klasse war, das nur seine Lehrer ärgern und andere Schüler drangsalieren wollte. Und dieses Vertrauen missbrauchte er.
Frau Wasabi legte die Stirn in Falten und warf ihm einen forschen Blick zu.
„Du hast ein schlechtes Gewissen", stellte sie fest.
Shiiiit!
„Und du streitest es noch nicht einmal ab", fügte sie überrascht hinzu, als er nur beschämt vor sich hinschwieg. Innerlich verfluchte sich Miles bereits. Hätte er ihr Angebot zu bleiben doch bloß ausgeschlagen! Wieso ließ ihm seine Zunge im Stich? Wenn er jetzt nichts erwiderte, wäre die ganze Lüge umsonst, die Felix ihr so glaubhaft aufgetischt hatte.
Zischend zog er die Luft ein, als nun die Schattenrisse an seinem Körper zu brennen begannen.
„Felix hat gar keinen Alkohol gestohlen, habe ich recht?", fragte die Hüterin und ihre Stimme klang wie das große Luftholen vor dem Sturm. „Sag nicht, du hast ...?"
Frau Wasabi beendete den Satz nicht.
Miles wimmerte. Der Schmerz in seinen Gliedern nahm immer mehr zu, wurde beinahe unerträglich.
„Ich hab ihn abgefüllt", sprach Miles es aus. „Ich war's, okay!?"
Die Hüterin sah aus wie eine Frau, die soeben erfuhr, dass ihre Tochter mit vierzehn schwanger geworden sei. Kam dies für sie wirklich so unerwartet?
Ungeachtet seines schlechten Gewissens – oder gerade deswegen – keimte Miles' Trotz wieder in ihm auf. War sie wirklich so naiv gewesen, ihm so etwas nicht zuzutrauen? Ihm, den alle anderen Lehrer schon verdächtigten, bevor überhaupt etwas passiert war? Hatte sie ernsthaft angenommen, er sei unschuldig, hätte sich sogar noch für den Kleinen eingesetzt, um ihn zu schützen?
„Und das nach deinen eigenen Erfahrungen mit dem Alkohol!", fuhr Frau Wasabi mit mühsam unterdrückter Wut fort, „wie kamst du auf diese kranke Idee, einen elfjährigen Jungen abzufüllen!? Das ist nicht nur durch das Jugendschutzgesetz verboten, sondern auch durch die Gesetze der Magier! Miles, jetzt sieh mich an und sag mir, was du dir dabei gedacht hast!"
Miles antwortete nicht, sondern sprang von seinem Stuhl auf, um sich abzuwenden. Er wollte nicht mit ihr reden. Wieso auch? Er war nun auch bei ihr unten durch, genau so wie bei allen anderen. Was sollte er jetzt noch Rechenschaft ablegen?
„Sieh mich an!", verlangte Frau Wasabi und erhob sich ebenfalls von ihrem Platz. Miles hatte nie zuvor so viel Wut in ihrer Stimme vernommen, selbst in den unruhigsten Schulstunden nicht. Trotzig wandte er ihr sein Gesicht zu.
„Es war ein Spaß, okay?", fauchte er und verschränkte bockig die Arme vor seinem geschundenen Körper. „Nichts weiter."
„Ein Spaß?", fragte sie entgeistert. „Miles, ihr wärt beinahe gestorben!"
„Aber nur, weil Felix diesen Schatten angestarrt hatte. Das war nicht meine ..."
„... Schuld?", fragte Frau Wasabi lauernd und kniff die Augen zusammen. Inzwischen hatte sie nichts mehr mit der netten und lustigen Lehrerin gemeinsam, die er aus der Schule kannte.
„Er sollte doch noch gar nicht in der Lage sein, die Biester sehen zu können", murrte Miles. „Es hätte überhaupt nichts passieren sollen."
„Es ist aber etwas passiert!", wies sie auf das Offensichtliche hin. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ein Alkoholrausch einen Magier seine Kraft vorzeitig entdecken lassen kann. Felix hätte sterben können! Ihr hättet beide sterben können!" Vorwurfsvoll sah sie ihn an.
Miles starrte trotzig zurück. Ey, ich hab's kapiert! Ich habe das nicht mit Absicht gemacht, es war anders geplant gewesen!
„Miles, was hat dir Felix getan, dass du ihn abgefüllt hast?"
„Er hat mich genervt", verteidigte er sich.
„Genervt? Nur genervt!?", echote sie entgeistert.
„Was heißt nur?", fing Miles an. „Seinetwegen bin ich von einem Magier in der Altstadt bewusstlos gedroschen und ausgeraubt worden. Mein ganzes Geld für diesen Monat ist futsch; ich musste etwas von meinen Ersparnissen nehmen, die meine erste große Geburtstagsparty zu meinem Sechzehnten finanzieren sollten. Seitdem rennt er mir hinterher und lässt mich nicht in Frieden, lässt mich sogar vor meinen Freunden lächerlich aussehen, obwohl ich ihm schon tausend Mal gesagt habe, er soll sich endlich verziehen! Er hat mir sogar die Gelegenheit auf ein drittes Date mit Katy versaut! Ich wollte ihn einfach loswerden!"
Wütend starrte er in ihr ausdruckloses Gesicht. Wieso hatte er das gerade gesagt? Er hatte doch beschlossenen, dass es sinnlos war, sich jetzt noch vor ihr zu rechtfertigen.
„Und dann willst du sein neuer großer Bruder sein?", fragte Frau Wasabi und zog die Augenbrauen hoch. „Keine gute Strategie, denn Geschwister behält man ein Leben lang."
„Das hab ich doch nur gesagt, damit er das Geheimnis für sich behält."
„Weswegen du mir auch eben brav alles gestanden hast", deckte Frau Wasabi den Fehler in seiner Argumentation auf. „Miles, du belügst dich hier doch selbst!"
„Was soll das eigentlich?", fuhr er sie ungehalten an. „Ich hab Mist gebaut und dafür werden mir jetzt meine magischen Kräfte genommen! Was wollen Sie noch von mir?"
„Was ich von dir will?", wiederholte Frau Wasabi verdutzt. „Himmel, Miles, ich will wissen, warum Jungs wie du überhaupt so eine Scheiße abziehen!"
„Na, ist doch klar: weil ich ein nerviges Problemkind und durchweg schlecht bin."
„Aber das ist doch gar nicht wahr!", widersprach Frau Wasabi erregt. „Niemand ist von grundauf schlecht!"
„Ach nein?", fragte Miles bitter. „Und warum sagen Ihre Kollegen das dauernd? Und warum behandelt mich meine Mutter dann immer so, als ob ich ihr nur Probleme verursachen würde? Und warum schreien Sie mich jetzt an und verurteilen mich, wo ich mir doch nur einen Spaß erlaubt habe?" Ihr Schweigen war wie ein Geständnis für ihn. „Also doch!"
„Nein", begann Frau Wasabi von Neuem und ging langsam um den Tisch herum auf ihn zu. „Irgendetwas ist nicht in Ordnung. Schließlich ist es nicht normal, wenn Jugendliche Kinder mit Alkohol abfüllen und sie aus Achtlosigkeit beinahe damit umbringen. Das muss eine andere Ursache haben, denn kein Mensch – und ich betone, wirklich keiner! – ist von Grund auf irgendwie verdorben, böse oder schlecht und ich will herausfinden, warum du meinst, dass dem so wäre. Ich will dir doch helfen, begreif das endlich!"
Miles schnaubte verächtlich. „Helfen, ja? Das sieht gerade ganz anders für mich aus!"
„Weil es auf die sanfte Tour in deinen Dickschädel nicht rein geht!", entgegnete sie aufgebracht und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Ich habe jetzt mehrfach versucht mit dir zu reden, aber du blockst ständig ab. Vorhin, hast du endlich mal einen klitzekleinen Funken Reue gezeigt, aber nun sitzt du hier wie der König auf seinem Thron und gibst Felix die Schuld daran, dass ihr beinahe gestorben wärt!"
„Ich hab doch schon gesagt, dass ich Mist gebau..."
„Und damit ist die Suppe ausgelöffelt?" Diesmal war es die Hüterin, die ein missbilligendes Schnauben von sich gab. „Weißt du, was ich glaube?", fragte sie unschuldig. „Du hast ganz genau kapiert, wie verantwortungslos dein Handeln gestern war. Dich selbst in Gefahr zu bringen – kein Problem – aber ein wehrloses Kind? Du hast ein schlechtes Gewissen – wag es nicht, das abzustreiten – und du willst das Geschehene gegenüber Felix wiedergutmachen. Macht das etwa ein Jugendlicher, der von grundauf schlecht ist?"
Miles schwieg. Ihr gefiel die Art nicht, wie sie ihm die Widersprüche in seinen Aussagen vorhielt. Es gefiel ihm ganz und gar nicht!
„Ich kann dir helfen", schlug seine Lehrerin nun einen versöhnlicheren Tonfall an. „aber dafür musst du mir schon sagen, was los ist."
„Mir helfen?", fauchte Miles abfällig und wich so weit zurück, bis er mit seinem Gesäß an den Küchenschrank in seinem Rücken stieß. „Und was wollen Sie tun? Niemandem erzählen, was gestern Nacht passiert ist? Das machen Sie sowieso nicht!"
„Ach nein?", fragte sie herausfordernd und näherte sich ihm. „Soll ich es als erstes deiner Mutter erzählen? Wie wird die wohl reagieren?"
„Oh nein, Miles hat wieder Mist gebaut? Können Sie das regeln, ich habe heute noch Spätschicht", flötete Miles sarkastisch.
„Denkst du das wirklich?", bohrte Frau Wasabi nach. „Das klingt nicht nach der Ida Helion, die ich in den zahllosen Elterngesprächen kennengelernt habe."
„Schön, dass Sie meine Mutter besser kennen, als ich!"
Er wollte sich gerade beleidigt abwenden und dem Gespräch durch Schweigen seinerseits ein Ende bereiten, aber die Hüterin war noch nicht fertig.
„Und ich kenne da noch jemanden. Was würde dein Onkel Reginald jetzt von dir denken?"
Miles zuckte zusammen. „Lassen Sie meinen Onkel da raus!", raunte er leise.
Die in dem Satz enthaltene Information schien irgendwie unterzugehen.
„Ach? Und wieso nicht?", fragte Frau Wasabi angriffslustig. „Wäre er enttäuscht von dir gewesen?"
„Das können Sie gar nicht wissen!", rief Miles und mit seiner Wut flammten auch die Schattenrisse in seinem Fleisch auf. „Sie haben keine Ahnung, wie er reagiert hätte!"
„Tatsächlich nicht?" Und bevor Miles ihr eine garstige Antwort entgegenschleudern konnte, schlug Frau Wasabi ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass er meinte, den Nachhall des Klatschens noch Sekunden später durch seinen Schädel tönen zu hören.
„Es stimmt, ich kannte deinen Onkel nur flüchtig", fuhr Frau Wasabi in gemäßigterem Ton fort. „Aber wir hatten schon einmal einen ähnlichen Fall und da hörte ich ihn sagen: ‚dem Jungen hätte ich links und rechts eine geklebt.'"
Miles rieb sich die schmerzende Wange und starrte seine Lehrerin hasserfüllt an. Was nahm sie sich eigentlich heraus? Ihm einfach eine zu verpassen! Das war gar nicht erlaubt!
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und verließ fluchtartig die Küche. Er wollte weg von hier – vor allem weg von Frau Wasabi. Leider machten die Schattenrisse jede Bewegung seiner Gelenke zu einer Tortur und so taumelte Miles notgedrungen ins Gästezimmer, um sich bäuchlings aufs Bett fallen zu lassen. Tränen standen ihm in den Augen. Nicht vor Schmerz, nein.
Abermals betastete er seine Wange und tiefe Scham überkam ihn. Es stimmte, so hätte Reg vermutlich reagiert.
Schritte und das leise Schließen der Tür deuteten darauf hin, dass die Hüterin das Gespräch noch nicht für beendet hielt. Langsam hörte er sie näherkommen und spürte, wie sich die Matratze bewegte, als sie sich neben ihm aufs Bett setzte.
„Dein Onkel war ebenalls ein begabter Magier, genau wie du", schlug sie einen sanfteren Tonfall an. „Ich habe erst kürzlich davon erfahren, dass er vorletzten Winter verstorben ist. Genaugenommen erfuhr ich es, als ich mich nach ihm erkundigte, weil ich eure Verwandschaft vermutete und mit ihm über dich reden wollte."
Miles spürte, wie die Tränen in seinen Augen anschwollen und hielt krampfhaft die Luft an, um nicht laut losschluchzen zu müssen. Reg ... ein begabter Magier?
„Ich dachte immer, er wäre kein – wie sag ich das? – bedeutendes Familienmitglied gewesen, weil ich ihn in der kurzen Zeit, in der ich jetzt deine Lehrerin bin, nie auf einem Elternabend gesehen habe. An der Hochschule gab er sich immer distanziert und kühl und erwähnte seine Familie nie, ganz, als ob sie ihm nichts bedeuten würde, aber das ist nicht so, habe ich recht?" Ihre Stimme war leiser und einfühlsamer geworden und nichts deutete mehr darauf hin, dass sie sich eben noch angeschrien hatten. „Er hat dir sehr nahe gestanden, oder Miles? Näher als deine eigene Mutter, die für euren Unterhalt viel arbeiten muss, oder dein Vater, der dich schon vor deiner Geburt verlassen hat."
Egal wie stark Miles auch kämpfte, jetzt bahnten sich die Tränen vollends ihren Weg. Er wollte sich zusammenreißen, aber es gelang ihm nicht und er hasste sich dafür. Er hasste es, nun vor seiner Lehrerin zu flennen wie ein Kleinkind, dem man seinen Lutscher weggenommen hatte.
„Lass es raus, Miles", hörte er Frau Wasabis sanfte Stimme. „Lass es raus, damit der Schmerz endlich heilen kann, den du zu lange schon mit dir herumschleppst."
Es war eh zu spät. Also versuchte sich Miles seinen Rest Stolz zu bewahren, indem er sich das Kissen griff und sein Gesicht hineindrückte, bevor er hemmungslos drauflos heulte. Er weinte, wie er es seit seiner frühesten Kindheit nicht mehr getan hatte, weinte jede Träne, die er zurückgehalten hatte, selbst dann, als seine Mutter ihm letzten Winter die schlechte Nachricht überbracht hatte.
„Er war der Beste", sagte er mit vom Kissen gedämpfter Stimme. „Er war immer für mich da. Morgens hat er gearbeitet, um meine Mum zu entlasten und damit wir das Haus behalten konnten; aber wenn ich von der Schule kam, war er bereits zu Hause und hat für uns gekocht. Manchmal hat er es zeitlich nicht geschafft und mich stattdessen mit dem Auto von der Schule abgeholt, um mit mir zum nächsten Supermarkt zu fahren, damit wir unterwegs diskutieren konnten, was wir uns gemeinsam zubereiten würden. Für eine Eins im Zeugnis hat er sich in den Ferien frei genommen, um mit mir und Mum in einen Freizeitpark oder ans Meer zu fahren und als ich in der fünften Klasse keine mehr nach Hause brachte, weil ich wegen einer guten Note verspottet wurde, ist er zu dem betreffenden Schüler gefahren und hat ihn und seine Eltern zusammengeschissen – und er konnte Leute zusammenscheißen!
Und plötzlich war er nicht mehr da. Und Mum ... sie hat es einfach totgeschwiegen! Als hätte es Reg nie gegeben!"
Miles schniefte und ein neuer Schwall Tränen rann ihm aus den Augen. Während seiner Erzählung war Frau Wasabi an ihn herangerückt und streichelte nun vorsichtig über seine Schulter.
„Was ist vorletzten Winter geschehen?", fragte sie und Miles ließ das Kissen sinken.
„Es war kurz vor Weihnachten", begann er langsam, als er sich den entsprechenden Tag in Erinnerung rief. „Ich hatte meiner Mum einen Roman in einer Buchhandlung in der Innenstadt bestellt – als Weihnachtsgeschenk. Allerdings habe ich versäumt, ihn dann abzuholen, weil es an dem Tag geschneit hatte und ich zusammen mit Däx und ein paar Freunden den Vormittag mit einer Schneeballschlacht gegen die Asis aus der Parallelklasse verbracht habe.
Jedenfalls kam ich später als sonst nach Hause und erinnerte mich erst, als Reg mich fragte, ob ich das Geschenk denn abgeholt hätte. Ich verfluchte mich für meine Vergesslichkeit und wollte schon wieder nach draußen rennen, um mein Versäumnis nachzuholen, aber Reg hielt mich zurück und sagte, das würde ich zu Fuß nicht mehr vor Ladenschluss schaffen, ich solle lieber ins Wohnzimmer gehen und den Baum schmücken, den er gerade aufgestellt hat, während er eben für mich mit dem Auto hinfahren und es holen würde. Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe. Auf der Fahrt rammte ihn ein LKW von der Kreuzung. Der Fahrer ist bei rot gefahren und konnte wegen Glatteis nicht mehr bremsen."
Miles wischte sich mit den Fingern die Tränen aus den verweinten Augen, woraufhin Frau Wasabi ihm ein Taschentuch reichte.
„Du gibst dir die Schuld dafür, habe ich recht?", fragte sie, während er sich den Rotz aus der Nase schnaubte. „Du gibst dir allein die Schuld dafür."
„Ich habe Schuld!", rief Miles und drehte den Kopf, um sie ansehen zu können. „Hätte ich das Geschenk nicht vergessen, dann hätte er nicht losfahren müssen und wäre nicht totgefahren worden. Es ist allein meine Schuld, dass er tot ist ... meine Schuld!"
„Das ist nicht wahr!", widersprach die Hüterin und Miles ließ zu, dass sie ihn in den Arm nahm. „Das war ein Unfall. Niemand hat Schuld an so etwas. Höchstens der LKW Fahrer, der bei rot gefahren ist."
„Das hat Mum auch gesagt, aber es stimmt nicht ... es ist meine Schuld."
„Und glaubst du, dich für deine Schuld nun bestrafen zu müssen?", fragte sie weiter.
Miles antwortete nicht. Wie sollte er darauf auch antworten?
„Glaubst du, du musst ständig Mist bauen, damit du auf diese Weise indirekt von anderen für den Tod deines Onkels bestraft wirst?"
Erneut trat ihm das Wasser in die Augen.
„Miles, glaubst du, Reginald wäre mit alldem glücklich? Er hat dich über alles geliebt, so wie du ihn geliebt hast, das weißt du! Und es macht Menschen nicht glücklich, wenn sie sehen, wie sich ihre Lieben das eigene Leben zerstören. Könnte dein Onkel dich sehen, du würdest ihn tief verletzen."
„Das ist es ja gerade ... er kann mich nicht mehr sehen! Er ist tot!", wiedersprach Miles und seine Stimme zitterte vor Verzweiflung.
„Liebe geht über den Tod hinaus, Miles. Jede von dir soeben vergossene Träne beweist das!"
Daraufhin wusste er keine Antwort mehr. Er saß einfach nur da und weinte stumme Tränen, fühlte sich leer und für immer verlassen.
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Heute mal ein Einblick in Miles' Vergangenheit. Und damit eine völlig andere Seite vom ihm. Bin gespannt, was ihr dazu sagt.
Sorry für das lange Kapitel, aber ich wollte die Szene ungerne mittendrin unterbrechen - hätte die Stimmung gekillt.
Ab jetzt gibt es außerdem zusätzlich jeden Freitag ein neues Kapitel. Ich wünsche euch einen guten Start ins Wochenende :)
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