Kapitel 16 | Winfried van Harzel II
„Gut", lächelte der kleine Mann vor ihnen in die Runde. „Dann ist es nochmal an mir, mich kurz vorzustellen. Mein Name ist Winfried van Harzel. Ich bin seit dreißig Jahren Lehrer für Runenkunde und Experimentelle Magie. Es ist mir eine besondere Freude, Mentor für euch, der jüngsten Magiergeneration zu sein. Bevor wir beginnen, kurz noch ein paar Worte zu unserer Hochschule. Ihr wisst, dass dieser Kurs den besonderen Decknamen Soziales Verhalten bekommen hat. Nun, das gilt auch für alle weiteren Kurse hier. Ihr habt vielleicht schon einmal irgendwo aufgeschnappt, dass jemand sich darüber beklagt, dass die Kurse an der Hochschule immer voll sind. Nun, das liegt daran, dass wir hier eben kein Sozialtraining, Sprachkurse oder Fortbildungslehrgänge anbieten und somit keine Nichtmagier reinlassen. Bis jetzt ist das noch nicht weiter aufgefallen, weil die Leute ja sehen, wie viele Menschen hier täglich ein und ausgehen, außerdem haben wir ein paar magische Freunde in der Stadtverwaltung." Er zeigte ein verschmitztes Lächeln. „Ihr bekommt somit einen kleinen Vorgeschmack, wie das Leben als Magier so abläuft. Nun denn, am besten gebe ich euch erst einmal einen Überblick über euren Wochenplan an der Hochschule."
Miles horchte auf, während van Harzel ihre Fächer für den jeweiligen Tag ankündigte. Die Woche begann mit Runenkunde und Miraculogie und klang aus mit Geschichte der Magie und Angewandte Magie. Den Mittwoch ließ er geflissentlich aus.
„Runenkunde?", wisperte Miles, der etwas Spannenderes erwartet hatte. „Ich dachte, man wird uns hier den Umgang mit unseren Kräften beibringen?"
Zu seiner Überraschung ging Cora darauf ein. „Meine Hüterin hat mir von der Runenkunde erzählt", antwortete sie genauso leise. „Wie der Name schon sagt wird uns da das Lesen und Schreiben der nordischen Runen beigebracht. Ich weiß allerdings beim besten Willen nicht, wozu das gut sein soll, schließlich sind die Runen schon ein wenig überholt."
Beim letzten Satz drehte van Harzel seinen Kopf genau in ihre Richtung, woraufhin Cora erschrocken zusammenzuckte.
„Bäm! Du hast da gerade sein Fachgebiet beleidigt. Gigafail!", wisperte Miles so leise wie möglich.
„Du meinst also, die Schrift ist längst überholt und verstaubt", sagte van Harzel laut und Cora nickte eingeschüchtert. „Ja, da magst du recht haben, aber ihr müsst in der Lage sein überholte und verstaubte Verzauberungen zu erkennen, denn die gibt es heute noch."
„Verzauberungen?", warf ein älterer Junge in der mittleren Reihe ein und lenkte damit die Aufmerksamkeit von Cora ab. „So was wie verfluchte Ringe oder magische Artefakte? Warum steht das nicht auf unserem Stundenplan?"
Van Harzel wandte sich dem Sprecher zu. „Ansatzweise wird das Thema in Runenkunde behandelt werden, aber einen vertiefenden Kurs bekommt ihr im zweiten Jahr, versprochen!"
Das schien dem Jungen zu genügen.
Also fuhr van Harzel mit seinen Erklärungen fort: „Ein letztes Fach bleibt zu erwähnen, aber das betrifft nicht alle von euch. Und zwar werdet ihr Privatunterricht in eurer jeweiligen Gabe erhalten. Wir haben vom zentralen Verwaltungsamt der magischen Gesellschaft bereits die nötigen Unterlagen zugesandt bekommen. Keine Sorge, wir behandeln die natürlich vertraulich, falls ihr nicht wollt, dass man eure Begabung hier kennt. Also laut dem Amt haben wir tatsächlich neun speziell begabte Schüler in diesem Kurs. Ich möchte, dass diejenigen, die das betrifft jetzt einmal kurz den Arm heben. Ich werde dann zu euch kommen und euch einen Zettel mit dem Namen eures Meisters sowie seine Raumnummer geben."
Miles hob die Hand. Er sah, wie auch die süße Heilerin den Arm reckte, von der er ja bereits wusste, dass sie eine Heilerin war. Außerdem fuhr noch Coras Arm neben ihm in die Höhe. Da Herr van Harzel am anderen Ende des Raumes begann, die sich erhobenen Arme abzuklappern, fragte er:
„Du auch? Was ist denn deine Begabung?"
Cora reagierte weniger kommunikativ als zuvor auf dem Flur. „Als ob ich dir das sagen würde."
Er zuckte die Schultern. Irgendwie erstaunte ihn ihre Antwort nicht. Er musste seine Meinung über Cora wirklich noch mal überdenken. Sie hatte diese zickige Art der zweiten Kategorie, die ihn schon bei Sarah genervt hatte. Vielleicht war sie ein Hybrid.
Während sie warteten, setzten erste Unterhaltungen ein, wie sie es immer taten, wenn der Lehrer selbst gerade nicht redete. Da sie vorne am Rand saßen, kam Herr van Harzel erst zum Schluss zu ihnen.
„Euch beide kenne ich ja schon vom Namen her", sagte er mahnend. „Die Zuspätkommer prägen sich immer gut ein. Der ist für dich", er reichte Cora einen braunen Umschlag, „und dieser für dich, Miles."
Er nahm den letzten Umschlag entgegen. Neugierig geworden suchte Miles einen Bleistift aus seiner Federmappe und riss das Dicke Papier damit ein. Drinnen befand sich eine schlichte Notiz.
Erzmagier Lo He stand dort in schnörkeligen Lettern. Raum C4-150.
Lo He, wiederholte Miles in Gedanken. Klingt asiatisch.
Er faltete den Zettel zusammen und schob ihn zu seinem Smartphone in die Hosentasche. Beiläufig schielte er zu Cora hinüber, konnte aber nichts erkennen, da auch sie ihre Mitteilung bereits zusammenfaltete.
„Alle anderen, die jetzt keinen Umschlag bekommen haben, haben den Mittwochnachmittag frei." Ein vereinzelter Freudenruf ertönte aus der hinteren Reihe. Miles schmunzelte. Eines der kleinen Bratzenkinder, welches nicht kapiert hatte, dass es einfach nur unbegabt war und ein freier Nachmittag diesmal nicht wirklich etwas Gutes bedeutete.
Miles runzelte die Stirn. Jetzt, wo er gerade darüber nachdachte - wieso saßen hier Schüler, die überhaupt keine magische Begabung hatten? Für die von Blacky erwähnten unbegabten Fälle waren das nämlich ein paar zu viele. Er schätzte den Kurs auf etwa zwanzig Leute. Demnach war weniger als die Hälfte begabt. Was also hatten die anderen hier zu suchen? Nachdenklich beobachtete er van Harzel, der nun erste Schulbücher verteilte.
„Leubrunners Lehrbuch der Magie", verkündete er. „Eine der umfangreichsten und besten Lektüren, die es gibt. Scheut euch also nicht, auch nach dem Unterricht drin zu schmökern."
„Ist das Heft für ein Lehrbuch nicht etwas ...", begann Cora, noch während sie die Hand hob.
„Etwas dünn?", vollendete ihr Kursleiter die Frage und sein Blick wanderte abermals zu ihnen nach vorne. „Natürlich. Das Lehrbuch wurde auf magisch komprimiertem Papier gedruckt. Das spart Platz."
„Ah, verstehe", sagte Cora und van Harzel wandte sich wieder ab, um mit dem Verteilen fortzufahren.
„Du machst dich bei ihm nicht gerade beliebt", witzelte Miles, weil ihm langweilig war.
„Ich denke, da hast du wohl recht", räumte Cora ein.
„Du stimmst mir zu!?"
„Ähm ja, sowas kommt vor."
Miles starrte sie verständnislos an. Okay, Cora gehörte nicht in Kategorie zwei, so viel stand fest. Dieses Mädchen war merkwürdig. Ausnahmsweise war das neue Schulbuch für Miles in diesem Moment interessanter, als Coras mädchenuntypisches Verhalten.
Er griff nach dem schmalen Heft, das van Harzel ihm umsichtig auf den Tisch legte. Es war dicker als die Schulbücher, die er aus der Mittelstufe kannte, reichte aber längst nicht an die Größe der Exemplare heran, wie Däx' großer Bruder sie schleppte, geschweige denn an den Wälzer eines nichtmagischen Bandes.
„Ulrich Schwafel. Grundzüge der modernen Gesellschaftsstruktur", las er. „Wtf, das scheint nicht das richtige Buch zu sein. Herr van Harzel?"
Er hob die Hand und der untersetzte Kursleiter fing seinen Blick auf.
„Lasst euch von dem Titel nicht verwirren. Jedes magische Buch hat einen extra langweiligen Tarntitel, beziehungsweise Tarninhalt, für den Fall, dass es in die Hände von Nichtmagiern gerät. Diese werden dann entsprechend dem Titel einen anderen Inhalt vorfinden, sollte der Name des Buches allein nicht schon abschreckend genug sein. Es ist dasselbe Prinzip wie mit den Kursen, die wir anbieten, schließlich sitzt ihr ja jetzt auch nicht im Sozialtraining."
Miles senkte langsam die Hand. „Klar", sagte er nüchtern und schlug das Buch auf.
Leubrunners Lehrbuch der Magie, stand dort geschrieben. Na also. Der Name kam ihm vage vertraut vor. War das das Buch, aus dem Blacky manchmal zitiert hatte?
„Ich sehe schon, die ersten von euch lesen bereits interessiert", freute sich Herr van Harzel. „Dann werde ich euch auch gleich die erste Hausaufgabe vorstellen. Ihr arbeitet dazu in Zweierteams. Jeder mit seinem Tischnachbarn, bevor hier alle wild durch den Saal rennen."
Miles fing Coras Blick auf.
„Komm schon", sagte er aufmunternd. „Teamarbeit. Ist doch toll. Weißt du, wofür Team steht? Für Toll, ein anderer macht's. Viel Spaß, Cora."
Sie öffnete den Mund zum Protest, hielt aber inne, da Herr van Harzel nun mit der Erklärung der Hausaufgabe fortfuhr.
„Der Einführungsteil von Leubrunners Lehrbuch ist eher allgemein gehalten und gibt einen ersten und breiten Einblick in die Miraculogie. Ich möchte, dass ihr euch zu zweit ein Kapitel aussucht und einen kleinen Vortrag darüber vorbereitet. Alles klar? Dann dürft ihr auch gleich anfangen, euch ein wenig einzulesen und das Thema auszusuchen, damit ihr außerhalb des Kurses nicht so viel zu tun habt."
„Heißt das, wir fangen heute noch nicht mit Runenkunde an?", fragte ein Schüler hinter Miles. Van Harzel nickte zustimmend.
„In der Tat. Die Arbeit mit dem Leubrunners ist mir sehr wichtig. Außerdem ist es sinnvoll, mit Miraculogie einzusteigen. Runenkunde machen wir dann übernächste Woche. Zeit haben wir genug."
Und mit diesen Worten überließ er den Kurs seiner Arbeit. Miles wollte gerade mit dem Durchblättern fortfahren, als ihm Coras grimmiger Gesichtsausdruck auffiel.
„Team steht für: Tu etwas, andernfalls bekommst du es mit mir zu tun."
Miles lächelte milde. „Teabdemmzt? Das kommt wohl eher dabei raus. Klingt wie eine mutierte Form von Alzheimer."
Cora hob drohend den Finger. „Falsch. Das Mir ist so einschüchternd, dass alle anderen Anfangsbuchstaben umstehender Wörter nicht mehr Teile dieses Akronyms sein wollten."
„Weil Wörter sich ja auch einschüchtern lassen", konterte Miles spöttisch.
„Na toll, mein Teampartner ist zu blöd, die rhetorische Figur der Personifikation zu erkennen", seufzte Cora und verdrehte die Augen.
„Naja, wenn du veraltete Sprachmittel zum Kommunizieren benutzen musst, dann kann es mit deiner Intelligenz auch nicht weit her sein."
In Coras Augen blitze es und ein triumphales Lächeln schlich sich in ihr Gesicht.
„Du bist echt blöd. Rhetorik meint Redekunst und hat nichts mit ‚retro' zu tun. Zumal es ein Verb wie retroisch gar nicht gibt. Hast da wohl was verwechselt, hm? Viel zu lernen du noch hast, junger Padawan."
Entwaffnet starrte Miles sie an. Ich habe verloren, erkannte er entsetzt. Ich habe ein Wortgefecht verloren und zwar gegen ein Mädchen! Ein Mädchen, das zu allem Überfluss auch noch eine Klasse unter mir ist.
„Die dunkle Seite stark in dir ist", sagte er verdrießlich, „im wahrsten Sinne des Wortes."
Es wurde auch nicht besser, als Miles die Tragweite ihres kleinen Duells erkannte. Mit dem jetzigen Stand musste er also in einem weiteren Wortgefecht zeigen, dass er nicht dumm war, und das ging am besten mit einem Gegenbeispiel. Das heißt, er musste tatsächlich einen Beitrag zu ihrer gemeinsamen Hausaufgabe leisten, denn hier ging es um seinen Stolz!
Miles grummelte und blätterte durch Leubrunners Lehrbuch. Dann wollte er wenigstens ein spannendes Kapitel bearbeiten. Er wusste auch schon genau, worüber er mehr erfahren wollte. Suchend wendete er Seite um Seite. Es musste doch ein Kapitel über Schatten geben.
„Hey, Miles", stupste Cora ihn an. „Hier ist etwas über die verschiedenen Begabungen von Magiern. Wir sind ja beide begabt, da ist das doch ganz interessant. Außerdem bekommen wir in unserem Privatunterricht bestimmt auch noch einige Zusatzinformationen, wodurch sich das Thema geradezu anbietet. Was meinst du?"
Eine Antwort blieb aus, denn Miles hatte nur Augen für seine Suche. Zweimal war er schon mit diesen Wesen aneinandergeraten und hatte es beide Male nur knapp überlebt. Eine weitere Begegnung würde es auf jeden Fall geben und wenn er das nächste Mal in Schwierigkeiten geriet, wollte er sich zu verteidigen wissen. Und der erste Schritt, sich zu Wehr zu setzen, bestand darin, seinen Feind zu kennen. Das wusste er aus einem Online Game.
„Miles? Hast du mir zugehört?"
Verdammt! Besaß dieses Buch denn kein Inhaltsverzeichnis? Er meinte doch, eines gesehen zu haben. Ach ja, erinnerte er sich an das magisch komprimierte Papier. Ich muss dafür hochscrollen. Dort! Schatten, Schatten, Schatten wo seid ihr? Sein Finger verharrte auf dem Papier. Da! Es gab tatsächlich ein Kapitel über die schwarzen Wesen unter dem Oberbegriff Magische Geschöpfe. Neugierig blätterte er weiter nach hinten.
„Miiiles", sagte Cora gedehnt und stieß ihm einen Finger gegen die Schulter. „Hör auf, mich zu ignorieren."
Verdammt, dieser Eintrag liegt nicht mehr im ersten Abschnitt des Buches und darf daher nicht für die Hausaufgabe verwendet werden. Miles brummte unzufrieden. Egal. Er würde das jetzt trotzdem lesen, denn er wollte mehr über diese Wesen erfahren. Hastig fing er an zu blättern.
„Miles", flüsterte Cora. „Wie wäre es, wenn wir beide uns in der Pause auf die Toilette zurückziehen und ich dir einen blase?"
Dem Jungen fiel das Buch aus den Händen.
„Schwanzgesteuert also auch noch", sagte die Neuntklässlerin trocken und hielt dem verwirrten Miles ihr eigenes Exemplar des Leubrunners unter die Nase. „Aber immerhin habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit und weiß auch in Zukunft, wie ich sie bekomme. Was hältst du davon?"
Miles wich ein wenig zurück, um die Buchstaben auf dem Papier erkennen zu können.
„Magier und ihre Begabungen", las er und nahm ihr das Buch aus den Händen. Neugierig scrollte er weiter nach unten. Scrollte und scrollte und scrollte ...
„Cora, das ist ja ein ewig langes Kapitel."
„Das sind die anderen auch. Weißt du etwas Besseres?"
„Ähm ..." Mist, die Schatten konnte er nicht nehmen, weil sie ja im falschen Abschnitt des Buches behandelt wurden.
„Okayo, ich werte das dann mal als Einverständnis", rief seine Sitznachbarin aus und grinste breit, während sie ihm ihr Buch wieder aus der Hand riss. Miles gab sich geschlagen und bückte sich, um sein eigenes vom Boden aufzuheben. Ein Kapitel über Magierbegabungen zu lesen, konnte auch nicht verkehrt sein. Vielleicht erfuhr er da etwas über seine eigene Gabe; etwas, das Blacky ihm nicht hatte beibringen können. Und sich seiner eigenen Stärken bewusst zu sein, war genauso nützlich, wie die Schwächen der Schatten zu kennen. Das wusste er aus einem Hollywood Film.
Und so tat Miles etwas sehr Seltenes: Er las in einem Schulbuch:
Nicht selten geschieht es, dass ein mit dem M-Gen ausgestatteter Magier eine Gabe entwickelt. Man nennt solche Magier auch „begabte Magier".
Miles ließ das Buch sinken. Ach ne!? Wäre ich nicht drauf gekommen. Jetzt wusste er wieder, warum er sich nicht an Blackys Lektionen erinnerte: Sie waren so trocken wie dieses Lehrbuch. Er hatte etwas Spannenderes erwartet. Ungeduldig scrollte er weiter nach unten, bis sein Finger auf einer neuen Überschrift verharrte.
Sieh einer an, da wird es interessant!
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro