Epilog
Die Ketten klirrten leise, als sie ihn von Bord führten. Aric blinzelte angestrengt in die helle Sonne. Nach einem Jahr Dunkelheit war bereits das Dämmerlicht der Zelle unter Deck eine Qual gewesen. Seine Augen hatten sich während der Gefangenschaft angepasst, hatten das Blut des Erdlings in seinen Adern aus der Versenkung geholt. Es hatte ihm im Kerker gute Dienste erwiesen, war er doch in der Lage gewesen, in der Dunkelheit etwas zu sehen. Doch so lange es gedauert hatte sich auf das Dunkel einzustellen, so viel Zeit schien er auch zu brauchen sich wieder an das Licht zu gewöhnen. Nach einem weiteren Blinzeln wurde das Bild vor ihm schärfer. Aric sah sich überrascht um. Er erkannte die Stadt kaum wieder. Sie war fast komplett neu aufgebaut worden und blühte vor Leben.
Seine Wachen schoben ihn über den Landesteg hinunter auf einen belebten Pier, wo zwei vertraute Gestalten auf ihn warteten. Leyla und Amon begrüßten ihn lächelnd und auf Leylas Wink hin nahm Fin, der Hauptmann ihrer Garde, ihm verlegen die Ketten ab. Aric rieb sich erleichtert die Handgelenke und richtete sich auf.
„Zenon ist jetzt eine autonome Stadt. Wir gehören weiterhin zu Abhan und haben Schutz- und Handelsverträge mit dem König, zumal er ja auf unseren Hafen angewiesen ist", erklärte Leyla ihm stolz, „aber wir machen nun unsere eigenen Gesetze!"
Aric nickte stumm und als er Leylas verwirrten Blick bemerkte, sagte er „Herzlichen Glückwunsch" und rang sich ein schmales Lächeln ab.
„Danke", erwiderte Leyla strahlend. „Ihr seid hier immer herzlich willkommen. Zenon steht tief in Eurer Schuld", erklärte sie dann fest. „Taos hätte Euch gerne selbst abgeholt, aber die Verhandlungen mit Rhoddenof sind ihm dazwischengekommen. Der Inselstaat möchte in das Friedensabkommen zwischen Ibna, Melau und Abhan aufgenommen werden...nun ja, auf jeden Fall hat er Pferde und Ausrüstung für Euch geschickt. Gorjak wird Euch nach Abeno begleiten", schloss sie entschuldigend und Aric nickte nur knapp. Er hatte Gorjak bereits auf dem Schiff gesehen mit dem er hergebracht worden war und seine Gegenwart hatte ihn beruhigt.
Nur langsam wurde ihm bewusst, dass er hier kein Gefangener war, dass die Menschen ihn hier nicht als Verbrecher sahen, sondern als Freund und dass er nicht in ein neues Gefängnis kam, sondern nach Hause. Die Menschen hießen ihn lächelnd willkommen und als Gorjak neben ihn trat und wie selbstverständlich einen Arm um ihn legte und ihn angrinste, da schwand langsam die Anspannung aus seinen Schultern und er begann freier zu atmen.
Doch erst als er auf seinem Pferd saß und ein schwarzer Rabe sich mit lautem Flügelschlagen auf seiner Schulter niederließ, umspielte ein vertrautes Lächeln seine Lippen. Unter den überraschten Blicken seiner Freunde streichelte er dem Vogel über das sanfte Gefieder und der Rabe pickte spielerisch in sein Haar. Er wusste sofort, wer das Tier geschickt hatte und er sandte Anna ein leises Dankeschön in den Wind. Der Wind antwortete mit einer heftigen Böe und Arics Lächeln wurde breiter. Ein Jahr lang war das seine Verbindung zu ihr gewesen und er hatte gelernt ihre Sprache zu verstehen. Sie hatte ihm die Einsamkeit erträglich gemacht, aber was noch viel wichtiger war: Sie hatte ihm Hoffnung geschenkt. Hoffnung darauf, dass er sie doch nicht ganz verloren hatte, dass ein Teil von ihr noch immer zu ihm gehörte. Hoffnung auf eine Zukunft, in der er zwar auf seine Freiheit verzichten musste, aber nicht auf seine Träume.
„Du bist ungewöhnlich still."
Aric sah seinen Freund finster an.
„Was soll ich schon dazu sagen? Garde des Königs! Was hat er sich nur dabei gedacht? Ich sehe den nächsten Krieg schon kommen. Kargoff wird ihm für diese Unverschämtheit eigenhändig das Zepter entreißen!", ließ er seinem Unmut freien Lauf. Taos war verrückt geworden. Anders konnte er sich diesen Unsinn nicht erklären. Gorjak neben ihm lachte nur.
„Er würde tausend Kriege für dich ausfechten, Aric. Und das hätte er auch getan, würde er deine Wünsche nicht respektieren. Weiß der Himmel, wie du das gemacht hast, aber unser König hat einen Narren an dir gefressen."
Gorjaks Worte klangen leicht, seine Augen blitzten vor Humor, doch Aric hörte, was er eigentlich sagte: Taos hatte nicht verhindern können, dass er diesen Pfeil abschoss. Doch er würde verhindern, dass diese Tat sein Leben zerstörte. Und es war ihm egal, wie die Welt darüber dachte. Aric seufzte ergeben. Trotz all seiner Wut auf Taos' Dummheit, konnte er nicht anders, als gleichzeitig tiefe Dankbarkeit zu empfinden. Egal, wohin es ihn verschlagen hätte, ob als Gefangener oder als freier Mann, er hätte Taos nicht im Stich gelassen. Sein Leben zu beschützen war für Aric so selbstverständlich wie Atmen. Und wahrscheinlich wusste Taos das.
„Ich werde ihm das Leben zur Hölle machen", brummte er, was Gorjak nur noch lauter lachen ließ.
„Ganz bestimmt. Es wäre eine Schande, wenn Taos auch nur einen Tag lang vergessen würde, was er dir zu verdanken hat."
Aric starrte ihn stumm zu Boden, doch Gorjak zuckte nur die Schultern. Arics strenge Miene störte ihn kein bisschen. Er wusste, was darunter brodelte.
Der Rabe auf Arics Schulter schlug unruhig mit den Flügeln und Aric sah auf. Er hob die Hand und strich dem Vogel besänftigend über das Gefieder, doch dann hielt er mitten in der Bewegung inne. Er zügelte sein Pferd und sah sich um. War er wirklich so abgelenkt gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wohin sie ritten?
„Wir sind seit drei Tagen unterwegs. Abeno müsste längst in Sichtweite sein. Gorjak, wo zur Hölle sind wir?"
Gorjak grinste.
„Taos wird selbst frühestens morgen in die Hauptstadt zurückkehren. Also dachte ich, ein kleiner Umweg könnte nicht schaden", bemerkte er leichthin.
Arics Augenbrauen wanderte in die Höhe, doch Gorjak schwang sich aus dem Sattel, zog seine Provianttasche herunter und setzte sich unter den nächsten Baum.
„Halte dich weiter gen Norden. Es dürfte nicht mehr weit sein", meinte er, als Aric ihn ungläubig ansah. „Ach und grüß' sie von mir."
Der Rabe flatterte aufgeregt mit den Flügen und schließlich erhob er sich mit einem Krächzen in die Lüfte. Aric starrte ihm nach, wie er sich von einer Windströmung treiben ließ und... verschwand.
Er blinzelte, sein Pferd setzte sich ganz ohne sein Zutun wieder in Bewegung. Nur wenige Augenblick später begann die Luft um ihn herum zu flimmern.
Und dann sah er sie.
Anna hatte Gorjak schon vor Wochen geschrieben. Tag für Tag hatte sie diesen Moment herbeigesehnt. Schlussendlich war sie aufgebrochen um ihm entgegenzueilen. Gorjak und Aric waren nicht mehr weit entfernt. Ihr Gespräch hallte in ihrem Kopf wieder. Sie wusste von Taos' Plänen für Arics Zukunft und so schwer es ihr fiel es zu akzeptieren, es war eine gute Idee. Aric lebte für seine Sache, er hatte dafür gekämpft und wäre beinahe dafür gestorben. Nicht für Anna oder Aurora – nein für eben diesen König auf Abhans Thron, für die Hoffnung, die in seinem Herzen brannte, die Hoffnung auf eine bessere Welt. Mit seinem Schwert in der Hand, an Taos' Seite – da war sein Platz. Dort gehörte er hin. Und auch, wenn er es sich nicht eingestehen wollte – tief in seinem Innern wusste er es.
Anna wartete in einem kleinen Hain ganz in der Nähe der Barriere. Sie legte Aurora auf eine Decke ins weiche Graß, das Mädchen schmatzte im Schlaf vor sich hin und sie lächelte. Die kleine Feuermagierin hatte von Geburt an lichterloh gebrannt, als wäre sie selbst aus Feuer. Saronn war, wie immer, vor allem fasziniert, doch Anna hatte sich große Sorgen gemacht. Es war praktisch unmöglich einem Säugling Kontrolle zu lehren und Anna und Saronn hatten alle Hände voll zu tun ihren Radius zu beschränken. Als sie beschlossen hatte Aurora mitzunehmen, war ihr klar, dass es ein großes Risiko darstellte. Aber sie konnte nicht anders als diese Chance zu nutzen.
Als neben dem Kind ein Rabe auf der Decke landete, gab sie Aurora einen Kuss und stand langsam auf. Sie wandte sich um, und ihr Herz schlug schneller.
Aric stand am Rand der Lichtung, mit Tränen in den Augen und sein Blick huschte zwischen ihr und dem Mädchen hin und her. Sie konnte den Aufruhr in seinem Innern spüren, seine Freude sie wiederzusehen und den Kitzel der Neugier. Eine unausgesprochene Frage lag zwischen ihnen in der Luft, doch in diesem Moment hatte Anna keine Worte. Sie war vielleicht der Serafin, aber sie war auch ganz einfach nur das Mädchen, das sich nach ihm verzehrt hatte. Vernunft, Schicksal und Entbehrungen hatten ihre gemeinsame Zeit geprägt und in diesem Augenblick, in diesem Moment, der nur ihr und Aric gehörte, ließ sie all ihre Selbstbeherrschung fahren. Und es waren nicht die entfesselten Elemente, die Aric beinahe von den Füßen rissen, sondern ihre stürmische Umarmung, als sie sich ihm entgegenwarf. Wortlos zog er sie an sich, vergrub das Gesicht in ihrem Haar und schluchzte leise ihren Namen.
„Ich liebe dich, Aric", flüsterte sie und seine Antwort war ein erleichtertes Stöhnen.
Irgendwann ließ er sie widerwillig los und sein Blick fiel auf Aurora. Sie waberte, wie Glut im Kamin, wurde heller und ihre Konturen verschmolzen. Dann schälte sich das Kindergesicht wieder aus der Glut, wurde klar und weiß und die schwarzen Haare kringelten sich engelsgleich auf ihrem Kopf. Sie begann sich zu rühren, die Finger zuckten, dann schlug sie die Augen auf. Sofort war sie wieder von Flammen umgeben. Ein Blick in die tiefschwarzen Abgründe genügte um zu wissen, wessen Tochter sie war, doch Anna sagte es Aric trotzdem. Schock und Faszination glitten über seine Züge und er kniete sich vor ihr auf die Erde, wie ein Jäger, der versucht sich einem Reh zu nähern ohne es zu erschrecken. Anna streckte die Hand nach ihrer Tochter aus und dimmte die Flammen mit einem einzigen Gedanken zu einer warmen Glut, die die helle Haut zum Leuchten brachte.
„Sie ist lebendiges Feuer, als hätte der Blitz, der uns getroffen hat, sich in ihr eingenistet. Eine kleine Quelle, die nie versiegt", erklärte sie leise.
Aric streckte die Hand nach seiner Tochter aus und als er sie auf die Wange des Mädchens legte, verschwand die Glut. Aurora starrte ihren Vater mit großen Augen an. Er starrte zurück – und Tränen liefen seine Wangen hinab.
„Ihr Name ist Aurora", fuhr sie fort, während stumme Schluchzer seinen Körper schüttelten.
Anna legte die Arme um ihn und drückte einen Kuss auf seine Wange.
„Es sieht fast so aus als hättest du einen ähnlich hypnotisierenden Effekt auf sie wie auf mich", stellte sie voller Wärme fest.
Aric blinzelte, ließ alle Vorsicht fahren und nahm das Kind behutsam in die Arme. Ihre kleinen Hände schossen sich um seinen Finger und er lächelte sie an.
Dann sah er auf.
„Ich habe noch ein Versprechen einzulösen", sagte er rau.
„Das hast du", bestätigte sie nur und ihr Herz donnerte gegen ihre Brust.
Aurora zappelte unruhig in Arics Armen, als Annas Gefühle die Elemente tanzen ließ. Aric sah sie mit großen Augen an. Seine Hand strich über ihre Wange, an ihrem Kiefer entlang hinunter an ihren Hals, dann schob sie sich in ihren Nacken und zog sie näher zu sich heran. Dunkle Abgründe, tief und endlos wie die Erde selbst nahmen sie gefangen, betteten sie weich, Endlosigkeit und Wärme umfingen sie gleichermaßen, beruhigten ihr Herz und streichelten ihren Geist.
„Was bist du nur für ein Wunder!", bemerkte er überwältigt und dann trafen seine Lippen auf ihre.
Der Tanz der Elemente legte sich und es wurde still. Ganz still – denn dieser Moment gehörte ihr und sie wollte ihn nicht mit der Welt teilen. Die Vernunft würde sie einholen, sie würde sie wahrscheinlich auch wieder trennen, aber hier und jetzt waren sie zusammen und es war perfekt.
"Ich liebe dich", hauchte Aric gegen ihre Lippen und seine Worte fanden den Weg direkt in ihr Herz. Sie wusste diese Liebe war ihre Rettung, ihr Anker. Diese Liebe würde sie beide begleiten, würde sie jede Widrigkeit überstehen lassen - gemeinsam.
Sie sah in diese wunderschönen dunklen Augen - und zurück blickte ihre Zukunft.
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