97. Kapitel
Vier Monate nach Maars Tod unterzeichneten Seth und Taos in Ibna die neuen Friedensverträge. Seth hatte die Unterstützung der ibnischen Flotte bekommen, um seine Heimat von der Willkür der Söldner zu befreien und als er nun neben Taos seine Unterschrift auf den Vertrag setzte, leuchteten seine Augen zum ersten Mal seit Jahren wieder voller Hoffnung. Taos freute sich für ihn und lächelte ihm zu. Doch Seth' Miene wurde ernst, als er seinen Freund ansah und er legte Taos fragend eine Hand auf die Schulter.
„Wie geht es Aric?", fragte er leise.
Taos seufzte.
„Morgen Nachmittag ist die Urteilsverkündung", sagte er besorgt und Seth runzelte die Stirn.
„Wir haben uns alle für ihn eingesetzt, sie können nicht ignorieren, wie viele Leben er durch sein Handeln gerettet hat", versuchte er Taos zu beruhigen, doch der schüttelte nur zweifelnd den Kopf.
„Er hat einen König ermordet. Egal was für ein Tyrann mein Vater war oder wie viele Leben er dadurch gerettet hat, Maar war unbewaffnet und das Kriegsrecht garantiert ihm Unversehrtheit während dem Verlauf der Verhandlungen. Für das Kriegsgericht ist Arics Eigenmächtigkeit ungeheuerlich. Sie werden ein Exempel an ihm statuieren um ein solches Verhalten im Keim zu ersticken", erklärte er und Seth schnaubte ungehalten.
„Keiner von denen, die dort auf der Richterbank sitzen, hat nicht mindestens einen Angehörigen, dem durch Maar Leid widerfahren ist oder den Aric durch sein Handeln gerettet hat. Zwanzigtausend Männer konnten seinetwegen unversehrt zu ihren Familien zurückkehren, zählt das denn gar nicht? Zudem hat Maar selbst sich nie an das Kriegsrecht gehalten, warum sollte er Anspruch darauf haben? Der ganze Prozess ist eine Farce", fuhr er auf und Taos nickte betrübt.
„Hast du mit ihm gesprochen?", fragte Seth dann ruhiger.
„Einmal, kurz vor Beginn des Prozesses. Sie schotten ihn ab, er darf keinen Kontakt nach außen aufnehmen. Als ich ihn damals im Gefängnis besucht habe, hat er mich gebeten nicht wiederzukommen. Er wollte nicht, dass auch nur der geringste Verdacht aufkommt, ich könnte in die Sache verwickelt gewesen sein. Weil Aric von Anfang an erklärt hat, er habe allein und völlig eigenmächtig gehandelt, ist meine Thronfolge eine simple Erbschaftsfrage. Niemand zweifelt meinen Anspruch an, es ist praktisch nur eine Frage des Respekts gegenüber einem gefallenen König, dass ich die Krone erst aufsetze, wenn sein Mörder bestraft wurde. Ich schwöre dir, wenn nicht die Zukunft eines ganzen Landes davon abhängen würde und wenn ich nicht genau wüsste, dass Aric mir niemals verzeihen würde, wenn ich mir in dieser Sache einen Fehltritt erlaube..."
Taos redete sich immer mehr in Rage. Zu lange trug er diese Last nun schon mit sich herum. Seth hob beschwichtigend die Hände und als Taos merkte, dass er laut geworden war, senkte er seine Stimme.
„Ich halte mich an die Regeln, ich habe es Aric versprochen, aber ich schwöre dir, ich werde nicht zulassen, dass er dafür mit dem Leben bezahlt", erklärte er fest und Seth glaubte ihm aufs Wort.
Als Aric am nächsten Nachmittag in die Anklagebank geführt wurde, sah er viele vertraute Gesichter. Taos war dort und Lanis, Gorjak, Oliver und Lucius. Sogo und viele weitere Freunde aus der Festung hatten den Weg nach Ibna auf sich genommen um ihn zu unterstützen. Aric war dankbar für ihre Anwesenheit. Viele von ihnen hatten für ihn ausgesagt und egal wie das Urteil lauten würde, er wusste, sie würden ihn nicht im Stich lassen. Ein Gesicht jedoch suchte er vergeblich. Er hatte nicht wirklich mit ihr gerechnet, aber er konnte nicht anders, als es sich immerzu zu wünschen. Er wusste, weshalb sie nicht hier war und seine größte Angst war, sie nicht wiederzusehen, sollte das Urteil schlecht ausfallen. Er machte sich keine Illusionen. Auf sein Verbrechen stand der Tod. Taos hatte bei seinem ersten und einzigen Besuch im Gefängnis die Hoffnung verlauten lassen, dass das Gericht aufgrund der zahlreichen Verbrechen, die Maar ungestraft an seinem eigenen und anderen Völkern verübt hatte, Aric gegenüber Milde walten lassen würde. Aber nach unzähligen Verhören und Verhandlungen hatte Aric sich damit abgefunden, dass er sein Leben verwirkt hatte. Er bereute seine Tat nicht und er hatte daraus keinen Hehl gemacht. Ein einziges Mal hatte er sich erklärt und seine Gründe ausführlich dargelegt, dann hatte er geschwiegen und die Verhandlungen still und regungslos über sich ergehen lassen. Lange genug hatte er seine schützende Maske getragen und als er nun in der Anklagebank stand, war seine Miene verschlossen und bewegungslos.
Doch in seinem Innern sah es anders aus. Er konnte seine Gefühle vor der Welt verbergen, aber das hieß nicht, dass sie ihn nicht beeinträchtigten. Er hatte Angst vor dem Urteil, Angst vor seiner Endgültigkeit. Während in ihm ein kalter Sturm tobte, blickte er stur nach vorn. Die Ketten um seine Handgelenke klirrten, als er leicht das Gewicht verlagerte.
Plötzlich spürte er einen leichten Windstoß. Er blinzelte, dann wurde es warm auf seinen Schultern. Wie ein Mantel legte sich schwere warme Luft über ihn und er musste sich zusammenreißen um nicht erschrocken aufzufahren. Aus den Augenwinkeln sah er wie Lucius ihn mit offenem Mund anstarrte und das gab ihm die Bestätigung, die brauchte: Anna hatte endlich ihr Schweigen gebrochen.
Aric unterdrückte den Impuls sich umzudrehen, er wusste, es gab dort nichts für ihn zu sehen. Er wusste, der tröstende Mantel aus Magie war nichts Sichtbares oder Greifbares, er wusste auch, dass Anna nicht hinter ihm stand, wie er es sich vielleicht gewünscht hatte. Doch sie war trotzdem hier. Irgendwie. Sie schickte ihm ihre Wärme und ihre Unterstützung. Er straffte die Schultern und richtete sich auf um sein Urteil zu vernehmen.
Die Anklage wurde erneut verlesen, dann senkte sich gespannte Stille über den Saal.
„Das Gericht verhängt folgendes Urteil: Der Angeklagte wird zu einem Jahr und einem Tag Haft verurteilt, das er nutzen wird um die Ungeheuerlichkeit seiner Tat zu bedenken und zu bereuen. Nach einem Jahr und Tag wird der Angeklagte in den Dienst seines amtierenden Herrschers entlassen und wird den Rest seines Lebens seinem Land und seinem König zur Verfügung stellen um die Schuld zu begleichen, in der er ihm gegenüber steht. Dem Herrscher Abhans steht es frei zu entscheiden, auf welche Weise und an welchem Ort der Angeklagte seinen Dienst am Land versehen wird. Verstößt der Angeklagte gegen sein ihm auferlegtes Urteil oder entfernt sich unaufgefordert von seinem Dienstort, werden die mildernden Umstände für nichtig erklärt und die Höchststrafe vollzogen."
Dem Hammerschlag des Richters folgte ein kollektiver Seufzer und das laute Krachen einer Faust auf Holz. Gorjak sprang wütend auf und stürmte aus dem Raum. Aric senkte den Blick. Sein Herz schlug heftig gegen seine Brust und er musste sich konzentrieren um seine Atmung ruhig zu halten. Sie hatten ihn nicht zum Tode verurteilt.
Er hörte Gorjaks wütenden Abgang, der sich nicht mit weniger als einem Freispruch zufrieden geben würde und er spürte Taos' bohrenden Blick auf sich. Doch um nichts in der Welt würde er diesen Moment mit jemandem teilen. Der warme Wind, der ihn umgab, trocknete die Tränen der Erleichterung, noch bevor sie seine Augen verlassen konnten und eine seltsam beruhigende Vibration durchströmte seine Adern und dämpfte die Furcht, die angesichts der einsamen Haft, die ihm bevorstand, in ihm aufstieg.
Widerstandslos ließ er sich abführen und erst als sich die schweren Zellentüren hinter ihm schlossen, hob er den Blick. Der Wind in seinem Rücken hob sich und strich ihm tröstend über die Wange.
„Du bist nicht wirklich hier, oder?", flüsterte er in die Dunkelheit.
Die Brise zog vor seinem Gesicht von links nach rechts. Ein Kopfschütteln. Trotz der Enttäuschung musste Aric lächeln.
„Aber du kannst mich hören?", fragte er interessiert.
Der Wind hob sein Kinn und stieß dann über seinem Kopf wieder herab. Ein Nicken.
„Nun, es wird eine einseitige Unterhaltung werden, aber es ist besser als gar nichts", versuchte er zu scherzen.
Er ging hinüber zu der dünnen Decke, auf der er die letzten Monate versucht hatte zu schlafen und setzte sich. Der Boden war kalt und hart und Aric stöhnte als seine Knochen dagegen protestierten. Widerwillig versuchte er sich mit der Tatsache anzufreunden, dass er die nächsten zwölf Monate hier verbringen würde. Er schauderte und erschrak zutiefst, als unter ihm die Erde vibrierte. Einen Moment später stieg Wärme daraus hervor und als er sich von dem Schrecken erholt hatte, begann die Erde unter ihm sich zu formen, der harte Lehm veränderte sich, passte sich seinem Körper an und weiches Moos spross unter seinen Händen hervor. Er runzelte entnervt die Stirn.
„Eine Vorwarnung wäre nett gewesen", zischte er in die Leere, bevor er sich mit klopfendem Herzen zurücklehnte.
Ein Jahr. Seine Glieder entspannten sich auf seinem neuen, überraschend bequemen Bett und er brachte ein zaghaftes Lächeln zustande.
„Danke, Anna", flüsterte er und der Wind deckte ihn sanft zu.
Aric schloss die Augen und zum ersten Mal seit der Schlacht um Zenon fiel er in einen ruhigen erholsamen Schlaf.
Taos hatte die Luft angehalten und als der Hammerschlag fiel, stieß er sie zitternd aus. Er sah Gorjak nach, der wütend aus dem Raum stürmte. Er verstand seinen Zorn, doch im Augenblick zählte vor allem, dass Aric am Leben bleiben würde. Er suchte Arics Blick, doch vergeblich. Aric hatte den Kopf gesenkt und wenig später wurde er von den Wachen abgeführt. Taos war es nicht möglich zu erkennen, wie er das Urteil aufgenommen hatte. Neben ihm erhob sich Lanis und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Er ist praktisch in der Festung aufgewachsen. Er gehört zur Familie. Nun liegt sein Leben in deiner Hand, Taos. Vergeude es nicht!", sagte er ernst und Taos sah seinen Freund überrascht an. Echte Sorge lag in seinen Zügen und Taos wurde bewusst, dass die Jahre nicht nur ihn verändert hatten. Lanis war nicht einfach der Hohe Meister, ein Anführer und Repräsentant, er war seinen Männern ein Mentor und Freund, manchen vielleicht sogar so etwas wie ein Vater.
„Ich gebe dir mein Wort", erwiderte er fest und Lanis' Züge entspannten sich ein wenig.
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