
81. Kapitel
Auf der Ebene vor Zenon spürte Koshy Anna immer schwächer werden. Er drohte sie zu verlieren, spürte die Kälte, die aus dem Nichts zu ihm heraufkroch. Kälte, die Annas Seele durchdrang und nun auf seine überging. Er schnappte nach Luft und versuchte verzweifelt dagegenzuhalten. Er schöpfte Kraft aus der Erde und dem Wind, der ihn umgab und legte alle Liebe und Freude, die er aufbringen konnte, in die Verbindung zu Anna. Er durfte nicht versagen, das hatte er seinem Vater versprochen.
Saronn hörte, wie der Junge aufkeuchte und sah sich erschrocken um. Doch Koshy saß weiter konzentriert auf der Erde und so wandte Saronn seine Aufmerksamkeit wieder dem Tor zu. Es wuchs weiter an und Koshy und er hatten schon zweimal zurückweichen müssen, um nicht von seinem Sog erfasst zu werden. Es würde nicht mehr lange dauern bis es die Stadt erreichte.
Von den Zinnen der Stadtmauer beobachteten Aric und Taos neben vielen anderen das Geschehen. Beunruhigt sahen sie zu, wie sich die Schwärze, in der Anna und der Priester verschwunden waren, sich immer weiter ausbreitete. Als plötzlich der Wind auffrischte, sah Aric fragend zu Lucius hinüber. Doch Lucius schüttelte den Kopf. Als hätte er seine Frage erraten, streckte er die Hand aus und deutete auf den Waldrand. Aric musste sich anstrengen um in Feuer und Rauch überhaupt etwas auszumachen, aber dann sah er sie: Sie traten aus dem Wald, entlang der Feuerwand, die noch immer Maars Armee in Schach hielt. Je näher sie der Ebene kamen, desto deutlicher wurden ihre Umrisse. Aric zählte zwölf Männer und Frauen, die sich nacheinander zu Saronn gesellten. Als Saronn sie bemerkte, ging ein Ruck durch ihn, als wäre er aus einer Starre erwacht. Er begann zu gestikulieren und Aric war sich fast sicher, dass er sich mit den Neuankömmlingen beratschlagte. Wenig später löste sich die Gesellschaft auf und die zwölf begannen sich um das Loch aus Dunkelheit zu verteilen. Einer nach dem anderen blieben sie stehen und bildeten einen großen Kreis um das Nichts.
„Was tun sie da?", fragte Taos verwirrt und Aric schüttelte nur den Kopf. Er hatte keine Ahnung.
Doch in Lucius neben ihnen kam plötzlich Bewegung.
„Sie versuchen das Tor zum Nichts zu schließen", stammelte er fassungslos und als Aric seinem überraschten Blick folgte, konnte auch er es erkennen.
Vor den Füßen der zwölf Magier, denn es mussten Magier sein, schlussfolgerte Aric, brach die Erde auf. Wasser stieg daraus empor und bildete regelrechte Wasserfälle rund um die Dunkelheit. Der Wind wirbelte die Erde auf und trug sie mit sich in einen immer enger werdenden Sturm, der die Dunkelheit einschloss. Inmitten des Wirbels begann die Erde zu brennen und nach und nach entstand eine Windhose aus allen Elementen, die mit ihrer bloßen Kraft die Dunkelheit zu verdrängen schien. Anders als Aric erkannte Lucius darin das feine und eng geflochtene Netz aus Magie, das die Zwölf dem Nichts entgegenwarfen und das sie immer neu verstärkten, sobald das Nichts begann sich hindurchzufressen. Immer dicker und undurchdringlicher wurde die Schicht und ganz langsam, Lucius traute seinen Augen kaum, wurde das Tor kleiner.
„Es funktioniert", erklärte er überrascht und die neben ihm standen und es hörten, atmeten erleichtert auf. Nur Aric stieß ihn aufgebracht an.
„Sie können es doch nicht schließen, solange Anna nicht zurück ist", schrie er und schüttelte Lucius wie von Sinnen.
Lucius starrte ihn entsetzt an.
„Ich kann sie nicht davon abhalten", erklärte er bestürzt und sah fassungslos zu, wie Aric zum Sprung über die Mauer ansetzte.
Gorjak reagierte schneller und Lucius fragte sich einen Moment lang, wo er so plötzlich hergekommen war. Er packte seinen Freund bei den Armen und hielt ihn in fester Umklammerung, während Aric wie wahnsinnig versuchte sich zu befreien.
„Diesmal nicht, Aric", sagte Gorjak ruhig, doch sein unerschütterliches Grinsen war ihm vergangen.
„Was hattest du vor? Dich da mitten hineinstürzen?", fragte er, als Aric sich etwas beruhigt hatte. Aric schüttelte nur den Kopf und starrte hilflos auf das sich immer weiter schließende Tor.
Taos trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Sie schafft es", erklärte er nachdrücklich, als müsste er sich selbst davon überzeugen.
Anna ließ sich treiben. Sie spürte wie der König immer mehr Besitz von ihr ergriff und ließ es geschehen. In ihr war nur noch Leere. Sie vergaß, warum sie gekommen war, vergaß die Welt, für die sie kämpfen musste. Raash wand sich in ihrem Innern und die Seele ihrer Mutter zog sich zurück, wurde dünn und leise und verstummte schließlich, bis Anna ganz allein war. Gefangen in einem Gefängnis aus Eis. Irgendwo in der Ferne hörte sie Koshys Ruf, der mit Kräften versuchte, sie zurückzuholen. Doch ihr Wille war gefangen, bewegungslos, gefühllos, gebettet in der Kälte und Endlosigkeitin der Seele des dunklen Königs.
„Greif danach!", befahl er plötzlich und seine kalte Stimme hallte durch die Leere ihres Geistes wie das Echo in den Bergen. „Los doch, greif nach deiner Rettungsleine!", forderte er sie auf und mit einem letzten Rest ihres Verstandes erkannte sie seine Absicht: Er hatte sich in ihr eingenistet und würde mit ihr zurückkehren. Zurück in die Welt der Menschen, in die Welt der Lebenden, im Körper des Serafin und dadurch ausgestattet mit grenzenloser Macht. Sie war in eine Falle getappt. So leicht...
Vage wunderte sie sich über die Gleichgültigkeit, die sie bei dieser Erkenntnis empfand. Doch der Gedanke verschwand so schnell er gekommen war. Und während ihre Seele in der Kälte des Nichts erstarrte, begann der König durch ihre Erinnerungen zu pflügen. Bilder tauchten aus dem Nichts auf und wurden zerfetzt wie Nebelschwaden. Eine Träne perlte über ihre Wange, geweint von jemandem, den sie vergessen hatte. Anna spürte, wie dieser kleine Beweis von Leben in der Leere verpuffte, doch er hinterließ – etwas. Einen Funken in ihrem Inneren, ein Gefühl von...
Liebe. So schnell es gekommen war, so schnell unterdrückte sie es. Versteckte es. Doch während die Erinnerung an eine andere Träne auf weißer Haut unter zwei dunklen warmen Abgründen sich unbeeindruckt auflöste, blieb dieses kleine Brennen in ihrer Seele erhalten und begann zu rebellieren.
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