73. Kapitel
„Wohin gehen wir?", fragte Koshy verwirrt, als Anna den Pfad verließ und sich Richtung Norden wandte.
„Wir treffen uns mit Saronn. Ich habe ihm eine Nachricht geschickt. Er wartet nur wenige Meilen nördlich von hier auf uns", erklärte sie und ging voran, während sich das Dickicht vor ihr öffnete und ihnen den Weg frei machte.
Saronn saß entspannt auf einem Baumstumpf und wartete. Als Anna auf die kleine Lichtung trat, stand er auf und ging kam ihr entgegen. Für einen Moment sahen sie sich einfach nur an, jeder auf der Suche nach den richtigen Worten. Irgendwann wurde das Schweigen unangenehm und ging Anna ging mit zusammengekniffenen Lippen an Saronn vorbei und setzte sich neben dem Baumstumpf auf die Erde. Saronn runzelte die Stirn, aber gesellte sich mit einem Seufzen zu ihr. Er schenkte Koshy ein Willkommenslächeln, das dieser fröhlich erwiderte, dann wandte er sich geduldig Anna zu.
Anna starrte auf ihre Füße und ließ ihren Geist wandern. Sie war sich ihrer Umgebung absolut bewusst, spürte jede kleinste Bewegung in den Elementen. Der Wald um sie herum war voller leben und jeder Herzschlag, jeder Atemzug war ein Teil von ihr. Jede Sekunde erzählte ihr tausend Geschichten. Anna schloss die Augen, schob die Welt ein wenig von sich und horchte in sich hinein. Sanft berührte sie die Essenz ihrer Mutter und Wärme durchflutete sie wie eine zärtliche Umarmung. Anna wusste, dass ihre Mutter nicht wirklich in ihrem Innern fortbestand. Es waren lediglich Erinnerungen und Gefühle, die Anna von ihrer Mutter erzählten, sie ihr näher brachten, ihrem Leben und ihrer Vergangenheit, ihren Hoffnungen und ihren Ängsten. Auch alles, was Estell gelernt und gewusst hatte, war hier verwahrt und für Anna zugänglich. Und es war nicht nur Estells Wissen allein, es war das Wissen des Serafins, das Wissen aller Generationen, ausgehend von der schwarzen Königin selbst. Anna trug dieses Wissen ebenfalls in sich, in ihrem Erbe, aber durch die Essenz ihrer Mutter erlangte sie einen tieferen und verständlicheren Einblick. In den letzten Tagen hatte Anna vieles davon erforscht und aufgenommen. Manches hatte sie verwirrt und anderes war ihr wie eine Offenbarung vorgekommen. Und dem neuen Wissen folgten neue Fragen. Vor allem war ihr intensiv bewusst geworden, welche Rolle sie im Gefüge dieser Welt spielte und Anna wusste besser als jedes andere lebende Wesen, dass sie zwar gegen das Nichts in den Kampf ziehen musste, um das Leben auf der Erde zu schützen, dass sie sich aber gleichzeitig auf keinen Fall dabei im Nichts verlieren durfte. Der Verlust des Serafin würde das Leben aus den Fugen treiben. Selbst wenn sie das Nichts besiegte, würde das Leben ohne den Serafin langsam vergehen. Nicht sie selbst musste diesen Kampf überleben, sondern die Macht des Serafin. Deshalb brauchte sie Saronn.
Anna sah auf und blickte zu Saronn, der sie abwartend musterte.
„Ich brauche deine Hilfe", sagte sie dann fest und er runzelte die Stirn. „Ich werde gegen den Priester kämpfen, aber er ist nicht das eigentliche Problem. Der eigentliche Drahtzieher hinter dem Priester ist die verdammte Seele des Königs, der Rache an der schwarzen Königin üben will. Sie hat ihn ins Nichts verbannt und wie auch immer er es geschafft hat, dort weiter zu existieren, er wird nicht ruhen bis er sich an der Frau gerächt hat, die ihm das angetan hat. An ihr und an der ganzen Welt, die sie nicht daran gehindert hat. Ich bin der Serafin, Saronn, genau wie sie, wir sind eins. Sie ist die schwarze Königin und so bin ich die schwarze Königin, wir sind untrennbar miteinander verbunden, über alle Zeiten hinaus. Ich bin sie und sie ist ich und wir sind das Ziel seiner Rache", erklärte sie Saronn so gut sie konnte, was die Mondprinzessin ihr offenbart hatte. „Ich werde mich selbst ins Nichts begeben und ihn dort besiegen müssen, bevor ich die Tür zum Nichts schließen kann, andernfalls wird er weiterhin eine Gefahr darstellen. Ich darf aber auf keinen Fall dort unterliegen. Meine Seele muss, egal in welchem Zustand, wieder zurückkehren in diese Welt, damit die Kräfte des Serafin im Fall meines Todes der Erde zurückgegeben werden können. Sollten sie im Nichts vergehen, wird diese Welt im Chaos versinken."
Saronn sah sie ernst an. Dieses Mädchen war nicht mehr die Anna, die er großgezogen hatte. Sie war auch nicht die Anna, die er vor kurzem wiedergefunden hatte, die den Krieger retten wollte. Er versuchte das übermütige aufmüpfige und sorglose Mädchen in der ernsten Frau ihm gegenüber wiederzufinden und scheiterte. Was er sah, war Estell in ihrer ganzen Größe. Ihre Macht spiegelte sich in ihren Augen und die Tragweite ihrer Handlungen schlug sich in jedem ihrer Worte nieder. Aber es war nicht Estell, die da vor ihm saß.
„Wie kann ich dir helfen?", fragte er den Serafin.
„Koshy wird dafür sorgen, dass ich zurückkehre, auf welche Art auch immer. Ich möchte, dass du für Koshys Sicherheit sorgst, dass du ihn völlig abschirmst von den Geschehnissen um uns herum. Wir werden auf einem Schlachtfeld sein, im schlimmsten Fall zwischen feindlichen Fronten. Du musst sicherstellen, dass Koshy sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren kann und dass niemand ihm auch nur ein Haar krümmt", erwiderte Anna mit Nachdruck.
Koshy sah sie von der Seite mit großen Augen an. Er sah aus, als wollte er widersprechen, überlegte es sich dann aber doch anders. Saronn nickte ernst.
„Ich werde den Jungen schützen, mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen", versprach er.
Anna nickte zufrieden.
„Ich habe noch eine weitere Bitte", fuhr sie nach einer kurzen Pause fort.
Saronn horchte auf, denn ihr Tonfall hatte sich verändert. Sie holte hörbar Luft, dann legte sie sanft eine Hand auf ihren Bauch.
„Es gibt noch jemanden, der deinen Schutz braucht", erklärte sie leise. „Ich weiß, wie mächtig du bist, Saronn und selbst wenn mein Leben nach dem Kampf an einem seidenen Faden hängt, kannst du es verlängern. Du kannst es hinauszögern, solange, bis der nächste Serafin das Licht der Welt erblickt. Die Elemente werden dir dabei helfen, denn sie werden das Erbe des Serafin erhalten wollen. Aber sollte ich die Geburt nicht überleben, sollten mich die Kräfte dann verlassen um sich an das neue und stärkere Leben meiner Tochter zu binden, dann wird sie jemanden brauchen, der für sie sorgt."
Saronn sah sie fassungslos an, Koshy grinste wissend.
„Das ist nicht dein Ernst!", stieß der alte Magier hervor und seine stoische würdevolle Miene löste sich in Unglauben auf.
Anna wusste, was er dachte. Sie erinnerte sich gut an die Worte, die sie ihm entgegengeschleudert hatte, an den Hass in ihrer Stimme als sie ihm vorgeworfen hatte, er hätte sie eingesperrt und ihre Kindheit zerstört. Und dennoch vertraute sie ihm nun das Leben ihres ungeborenen Kindes an, von dessen Existenz sie selbst erst seit wenigen Tagen wusste.
Doch Saronn überraschte sie:
„Bist du nicht etwas jung um Mutter zu werden? Du bist ja kaum selbst den Kinderschuhen entwachsen!"
Seine Worte waren so unerwartet, so... menschlich, dass sie Anna für einen Moment sprachlos zurückließen.
„Und wer ist der verantwortungslose Taugenichts, der dir das eingebrockt hat, obwohl du bei Gott andere Probleme hast?", wetterte er weiter. „Weiß er wenigstens von seinem Glück? Nur für den Fall, dass er in nächster Zeit von einem Schwert durchbohrt wird, oder – die Elemente mögen es verhindern – die nächsten 18 Jahre in einem Kerker verbringt!"
Anna sah ihn immer noch etwas ungläubig an, doch anders als sonst, schlug sie nicht zurück. Ihre Verbindung zum Wasser hatte den Zorn des Feuers gebändigt und ganz nebenbei vermittelte es ihr ein eindeutiges Gefühl dafür, was sich hinter Saronns Worten in Wahrheit verbarg. Etwas, das sie früher nicht hatte sehen können – oder wollen. Sie seufzte tief und unterbrach seine Schimpftirade mit ruhigem Ton.
„Ich verdanke dir sehr viel, Saronn. Ich habe nie etwas davon zurückgeben können und das tut mir leid. Ich konnte dich lange Zeit nicht verstehen, aber nun weiß ich, was dein Herz fühlt, ich kann es spüren!", erklärte sie.
Er blinzelte, als hätte er sich verhört.
„Ich weiß, du machst dir Sorgen, Saronn, aber das hier ist ein Geschenk! Du und ich haben es uns gegenseitig nicht leicht gemacht und leicht wird es wohl auch niemals zwischen uns sein, dazu sind wir viel zu verschieden. Aber bitte lass unsere Vergangenheit nicht diese Entscheidung beeinflussen. Ich bitte dich, Saronn. Ich brauche deine Zusage, andernfalls kann ich nicht in diesen Kampf ziehen!", flehte sie nun beinahe und Saronns Miene wurde weich. Er seufzte schwer.
„Du bist für mich wie eine Tochter, Anna. Das warst du schon immer. Wie könnte ich dir diese Bitte abschlagen?", lenkte er ein und Anna lächelte unter Tränen.
„Ich danke dir Saronn!", sagte sie fest und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Er sah sie überrascht an, dann lächelte er liebevoll zurück, bevor seine Miene wieder den würdevollen und beherrschten Ausdruck annahm, den Anna von ihm kannte. Zufrieden stand sie auf. Saronn folgte ihrem Beispiel und gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach Zenon.
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