60. Kapitel
Amon ging zügig die Hauptstraße zum Markt hinunter. Hier waren in den letzten Tagen immer wieder Geschosse eingefallen. Viron schickte ihnen täglich Warnschüsse. Es war kein offener Angriff auf die Stadt, sondern nur eine einzige Salve aus den Katapulten des Königs um sie daran zu erinnern, in welcher Lage sie sich befanden. Man konnte beinahe die Uhr danach stellen. Sobald Viron morgens sein Zelt verließ gab er den Befehl zum Schießen und für die Bewohner Zenons begann dadurch jeder Tag mit dem Schrecken der einschlagenden Geschosse. Zwar wussten sie, wann die Salve kommen würde, aber sie wussten nicht, wo sie einschlagen würde. Die meisten trafen zum Glück leere Häuser, denn die Menschen hatten sich in entferntere Stadtteile zurückgezogen, die außerhalb der Reichweite der Katapulte lagen. Doch der Einschlag ließ sie alle für einen Moment zusammenzucken und sie lauschten dem Donnern der Steine, die aus ihren Mauern gerissen wurden. Dann kamen sie aus ihren Häusern gelaufen um den Schaden zu begutachten. Heute war wieder ein Wohnhaus in der Hauptstraße getroffen worden. Die Trümmer lagen quer über die Straße verteilt und der Staub wirbelte über den Köpfen der Menschen, die die Steine und Balken aus dem Weg räumten. Amon ging vorbei und nickte ihnen zu. Die Helfer hielten kurz inne und erwiderten seinen Gruß. Auf ihren Gesichtern sah er überall dieselbe Frage: „Gibt es Neuigkeiten? Wie lange müssen wir noch durchhalten?"
Amon schüttelte den Kopf und sie kehrten betrübt zu ihrer Arbeit zurück. Amon hatte sich daran gewöhnt, dass jeder in der Stadt sein Gesicht kannte. Ohne weiteres hatten die Menschen seine Führung an Leylas Seite angenommen und vertrautem ihm dadurch ihr Leben an. Amon schluckte und richtete seine Gedanken zurück auf sein Vorhaben. Er suchte Sahir und normalerweise fand man ihn im Lazarett am Markt. Dort half er, die Verletzen der ersten Schlacht zu versorgen und mittlerweile fanden sich auch alle, die im Verlauf der Aufräumarbeiten verletzt wurden oder anderweitig krank waren dort ein um sich behandeln zu lassen. Noch waren die Krankheiten nicht auf Mangelernährung oder ähnliches zurückzuführen, doch Amon fürchtete den Tag, da ihre Vorräte zur Neige gehen würden. Leyla hatte ihm versichert, dass sie noch für mindestens einen Monat versorgt seien, aber noch war kein baldiges Ende der Belagerung in Sicht.
Das Lazarett war in der großen Markthalle eingerichtet worden. Davor brannte ein großes Kochfeuer und Amon begrüßte einige seiner Jungs, die dort beim Kochen und Waschen halfen. Erleichtert vernahm er die Nachricht, dass beim morgendlichen Beschuss niemand verletzt worden war. Als er die Halle betrat ließ er sich einen Moment Zeit um seine Augen an das Schummerlicht zu gewöhnen, dann ließ er den Blick über die provisorischen Betten schweifen. Er schätzte etwa 40 belegte Betten aber auf den meisten saßen die Patienten aufrecht und aßen und unterhielten sich. In wenigen Betten nur lagen schwer Kranke und an einem entdeckte er Sahir, der gerade einem Jungen half sich aufzurichten um zu essen. Amon ging hinüber und grüßte seinen Freund.
„Amon, schön dich zu sehen", sagte Sahir ohne von seiner Arbeit abzulassen. „Was gibt's?"
Amon reichte ihm ungefragt die Schüssel mit Brei, die für den Jungen bereitstand und während Sahir begann ihn zu füttern, fragte Amon wie es um die Vorräte im Lazarett stand, ob sie mehr Helfer brauchten oder mehr Medikamente. Sahir seufzte.
„Medikamente sind knapp, wir versuchen sie so wenig wie möglich einzusetzen, denn wenn es noch einmal zur Schlacht kommt, werden wir sie dringend brauchen."
Amon nickte. Sie wussten beide, dass dieser Tag kommen würde.
„Es gibt noch einen kleinen Vorrat an Medikamenten in der Kammer vom Arzt des Herzogs. Ich kann sie dir bringen lassen", erklärte Amon und Sahir nickte dankbar.
Einen Moment schwiegen sie und Amon wand sich innerlich. Sahir war sein Freund, aber seit seiner Offenbarung über die schwarze Königin und das Nichts sah Amon ihn in einem anderen Licht. Er hatte schon immer gern Sahirs Geschichten gehört, aber nun war ihm bewusst geworden, dass Sahir viel mehr zu wissen schien, als er preisgab und dass er Dinge wusste, von denen sonst niemand je gehört hatte. Amon hatte unzählige Fragen an ihn, wusste aber nicht, wie er sie formulieren sollte. Sahir unterbrach seine Überlegungen und fragte ihn nach Neuigkeiten.
„Irgendeine Nachricht von Lucius und Gorjak?"
Amon schüttelte den Kopf.
„Nein, nichts."
„Und Anna?", fragte Sahir vorsichtig und senkte dabei seine Stimme fast zu einem Flüstern.
Amon sah ihn an. Eine der vielen Fragen, die er an Sahir hatte, war Anna. Sahir schien überhaupt nicht überrascht, als sie ihre Magie offenbart hatte und Amon fragte sich, was er noch alles wusste, das Anna ihm selbst verheimlicht hatte. Sahir schien die Frage in seinen Augen zu sehen und lächelte gequält.
„Ich habe keine Antworten für dich, Amon, tut mir leid."
Amon seufzte und senkte den Kopf.
„Keine Neuigkeiten, auch nicht von ihr", beantwortete er Sahirs vorhergegangene Frage.
Sahir nahm seine Antwort stumm zur Kenntnis und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Er half dem Jungen zurück ins Bett und stand dann auf. Er ging auf Amon zu und zog ihn mit sich außer Hörweite des Jungen.
„Der Herzog?", fragte er dann leise drängend.
Amon verzog das Gesicht. Leyla ging seit der ersten Krisenbesprechung täglich hinunter in die Kerker um ihren Vater zum Reden zu bringen, doch der Herzog blieb stur und seit seiner Prophezeiung, sie würden alle ins Verderben rennen, hatte er nichts mehr gesagt.
„Er schweigt weiter wie ein Grab", antwortete er leise und Sahir schüttelte frustriert den Kopf.
„Amon!", kam da plötzlich ein Ruf vom Halleneingang. Amon wandte sich um und sah Mika, einen seiner Jungs auf sich zulaufen. Atemlos blieb er kurz vor ihm stehen und stieß seine Nachricht hervor: „Leyla schickt nach dir. Es gibt eine Situation am Hafen. Ein Schiff hat angelegt. Sie wartet dort auf dich."
Mika hatte kaum ausgeredet, da war Amon auch schon auf dem Weg. Seit Wochen saßen sie in der Stadt fest und die Hände waren ihnen gebunden. Sie waren zum Abwarten verdammt und der Willkür der Belagerer ausgeliefert. Es machte die Menschen mürbe und rastlos und auch Amon hielt die Situation kaum aus. Mikas Nachricht rettete ihn aus der Mutlosigkeit. Was auch immer am Hafen vor sich ging, wenigstens gab es ihm etwas zu tun.
Nur wenige Minuten später erreichte er den Hafen und nach einem kurzen suchenden Blick entdeckte er Leyla am Landesteg, die sich mit zwei Männern in einem Beiboot unterhielt. Amon gesellte sich zu ihr und musterte die Männer. Es waren Seeleute. Matrosen, wie er an ihrer Kleidung erkannte. Einer der Männer schien eine höhere Stellung innezuhaben, denn er stand aufrecht und sprach mit befehlsgewohntem Ton.
„Die Stadt steht unter Belagerung, der Hafen ist gesperrt. Wir können es uns nicht leisten eine weitere Schiffsmannschaft zu verpflegen. Bitte steuert einen anderen Hafen an", erklärte Leyla gerade geduldig und Amon beobachtete interessiert, wie der Mann vor ihm sich verlegen wand. Er wiederholte noch einmal seine Bitte im Hafen anlegen zu dürfen und die Vorräte aufzustocken.
Amon schüttelte genervt den Kopf.
„Habt ihr nicht gehört, was Herzogin Leyla gesagt hat? Wir befinden uns im Kriegszustand und der Hafen ist für alle fremden Schiffe gesperrt. Fahrt weiter nach Ibna, das ist nur wenige Tage entfernt, wenn ihr guten Wind habt", bekräftigte er nun Leylas Worte.
Doch der Seemann gab so schnell nicht auf.
„Bitte, unsere Trinkwasservorräte sind aufgebraucht. Sie reichen uns keinen vollen Tag mehr."
Der Mann flehte geradezu und Leyla sah Amon fragend an. Amon musterte die Männer erneut. Er wurde das Gefühl nicht los, dass mehr hinter der Sache steckte. Langsam schüttelte er den Kopf. Leyla schien seine Meinung zu teilen, denn sie schickte die Matrosen zurück auf ihr Schiff und gab ihren Männern den Befehl, sie zu eskortieren um sicher zu stellen, dass das Schiff den Hafen wieder verließ. Amon nickte ob ihrer Entscheidung zustimmend und wandte sich zum Gehen, da packte ihn der Matrose am Arm. Sofort waren Soldaten bei ihm und drängten den Mann zurück ins Boot. Amon fixierte ihn wütend.
„Letzte Chance, die Wahrheit zu sagen!", fuhr er den Matrosen an, der plötzlich in sich zusammenzusinken schien. Er schien mit sich zu ringen und als er sprach, warf er einen unsicheren Blick zu seinem Vorgesetzten.
„Bitte, wir haben lebende Fracht", erklärte er dann.
Amon zog fragend die Brauen hoch und Leyla hakte nach.
„Lebende Fracht?"
„Menschliche, lebende Fracht", korrigierte nun der offensichtlich befehlshabende Matrose trocken.
Amon klappte das Kinn herunter, während Leylas Gesicht sich in eine wütende Grimasse verwandelte.
„Sklaven?", brauste sie auf. „Euer Schiff ist ein Sklavenschiff?"
Beide Männer nickten.
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