44. Kapitel
Aric hatte geglaubt, sie würden nie ihr Ziel erreichen, als die Soldaten endlich vor einem Zelt Halt machten. Sie hatten ihn durchs halbe Heerlager geschleppt und Aric kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Ein Pfeil steckte zwischen seinen Rippen und ein anderer in seinem Rücken. Er hatte kaum Zeit gehabt, sich darüber zu wundern, dass er noch lebte, als die beiden Männer gekommen waren, ihn fest unter den Armen gepackt hatten und mit sich gezogen hatten, während seine lahmen Beine über den Boden schleiften. Nun schleppten sie ihn durch den Zelteingang und stießen ihn grob zu Boden.
„Der Gefangene, Herr", hörte er einen der beiden sagen.
„Gut. Schickt Viron zu mir und bringt mir den Priester her, auf der Stelle!", erwiderte eine zweite Stimme in befehlsgewohntem Ton und Aric spürte den kühlen Luftzug, als einer der Soldaten das Zelt verließ um den Befehl auszuführen.
Für einen Moment herrschte Stille, dann sprach die Stimme erneut.
„Dies ist also der Mann, der heldenhaft versucht hat, die kleine Magierin zu retten. Was hat er sich dabei gedacht, frage ich mich, hmm? Allein gegen ein ganzes Heer?"
Aric reagierte nicht. Er war müde und er wollte gar nicht erst die Hoffnung in dem Mann wecken, er könne ein längeres Verhör durchstehen. Jemand packte ihn unsanft im Genick und zog ihn auf die Knie.
„Erweise deinem König Respekt, Elender! Er hat dich was gefragt."
„Tsts, nicht doch mein Lieber. Behandelt man so einen Gast?" erwiderte die Stimme amüsiert. „Dennoch, es ist unhöflich jemanden zu ignorieren, wenn er mit Euch spricht."
Wie auf Befehl schob sich eine zweite Hand nun unter Arics Kinn und zwang ihn, den Mann anzusehen, der vor ihm stand. Es war der König, prunkvoll in einer glänzenden Rüstung mit purpurnem Mantel und einer funkelnden Krone auf dem Kopf. Aric überspielte seine Überraschung und funkelte ihn finster an.
„So ist es besser, nicht wahr?", sagte der König vergnügt.
Dann wurde seine Miene ernst und er beugte sich zu Aric hinunter. Seine Hand erschien vor Arics Augen und ließ einen Gegenstand vor ihm hin und her baumeln.
„Wisst ihr, was das ist?", fragte der König und Aric versuchte trotz seines verschwommenen Blickes zu erkennen, was da vor ihm schwebte. Es war eine Kette und daran hing ein kleiner silberner Ring. Selbst, wenn er gewusst hätte, was er da vor sich hatte, hätte er es dem König nicht gesagt. Dieser schien nichts anderes erwartet zu haben, denn er fuhr bereits fort.
„Das ist ein Ring. Nicht irgendein Ring, nein. Es ist der Zwilling zu dem Ring, den mein Sohn trug, als er starb. Seht ihr die Gravur? Taos und Estell, der Bastard und seine Magierhure! Nun sagt mir, wie gelangt dieser Ring wohl in die Hände eines kleinen Mädchens? Ein Mädchen, das sich dann auch noch als mächtige Magierin entpuppt!"
Aric setzte eine gleichmütige Miene auf, doch sein Kopf schmerzte von der Anstrengung, die Worte des Königs zu verarbeiten. Er redete sich immer mehr in Rage, doch Aric hatte nur einen Gedanken: Wenn dies Annas Ring war, wo war dann Anna?
„Antworte mir!", schrie der König und versetzte ihm einen harten Schlag gegen die Schläfe. Die Welt vor seinen Augen verschwamm und er sackte zusammen.
„Eure Majestät, Ihr wünscht mich zu sprechen?", ertönte in diesem Moment eine kalte Stimme hinter ihm und Aric schloss erleichtert die Augen, während er dem Gespräch der beiden Männer lauschte.
„Priester!", fuhr der König den Neuankömmling wütend an. Dann schien er sich zu besinnen und etwas beherrschter fuhr er fort. „Ich habe Euch nicht hergebracht, damit ihr meine Soldaten für eure magischen Spielchen opfert und die Frau, die ich seit Monaten versuche aufzuspüren, beinahe umbringt!"
„Verzeiht mir, Majestät, aber ich habe Euch bereits erklärt, dass der Einsatz meiner Kräfte ihren Preis hat."
„Ihren Preis?", brüllte der König. „Ihren Preis?! Euer kleines Intermezzo mit dieser Magierin hat hunderten meiner Männer das Leben gekostet. Für solche Zwecke habt ihr doch den Silieren aufgespießt. Nährt euch von seiner Lebenskraft, nicht von der meiner Männer!"
„Die Lebenskraft des Silieren ist bei Weitem nicht ausreichend gegen die Mächte dieser Frau. Ihr Schild hat Euch am Angriff auf die Stadt gehindert. Nun habt ihr freien Zugriff, Majestät. Ob eure Männer nun zu meinen Zwecken fallen, oder vor den Toren Zenons, ist doch ein und dasselbe."
„Das ist es nicht!", zischte der König gefährlich. „Ich habe nicht vor, sie näher als Schussweite an Zenon heranzulassen. Ich brauche dieses Heer noch. Zenon brauchte nur einen kleinen Denkzettel. Niemand kommt in meinem Reich einfach mit einer Rebellion davon, auch wenn sie gegen diesen Nichtsnutz von Herzog geführt wird!"
Der Zelteingang schwang auf, als ein Soldat eintrat.
„Majestät?"
„Viron, sehr gut. Stellt das Feuer ein und sattelt mein Pferd. Ich will meine Garde in der nächsten Stunde marschbereit. Ich kehre zurück nach Abeno!"
„Aber Majestät", setzte der Soldat überrascht an, doch die kalte Stimme des Priesters unterbrach ihn.
„Mit Verlaub, Majestät, Zenon hat keine Chance gegen eure Streitmacht."
„Natürlich nicht, deshalb verschwende ich ihre Kräfte auch nicht darauf. Ich will die Stadt wieder, nicht ihre Trümmer. Viron, zieht die Truppen außer Schussweite und stellt Euch auf eine Belagerung ein."
„Aber Majestät. Zenon war auf uns vorbereitet. Eine Belagerung könnte sich über Wochen hinziehen", erwiderte Viron ungläubig.
„Ich habe Zeit", sagte der König ungerührt. „Hungert sie aus und wenn sie mürbe werden, verhandelt. Ich will diese Magierin haben, wenn sie noch in der Stadt sein sollte. Und ich will Zenon. Ich brauche meinen Hafen!!"
„Wie Ihr wünscht", erklärte Viron und wandte sich zum Gehen.
„Was geschieht mit dem Gefangenen, Herr?", fragte der Soldat, der noch immer hinter Aric stand und ihn festhielt. Überflüssigerweise, denn Aric konnte kaum atmen, geschweige denn, sich bewegen. Seine Beine fühlten sich taub an und sein Rumpf brannte wie Feuer. Er fror und gleichzeitig brach ihm der Schweiß aus allen Poren.
„Ich bin noch nicht mit ihm fertig. Macht einen Wagen bereit. Ich werde ihn mitnehmen."
Die Fahrt war eine Tortur. Aric lag auf dem Boden des Wagens und bei jeder Unebenheit fuhr ihm der Schmerz durch die Glieder. Man hatte ihm die Pfeilspitzen entfernt und die Wunden grob mit einem Leinenstreifen verbunden. Offensichtlich schien der König Wert darauf zu legen, dass sein Gefangener lebend in der Hauptstadt ankam. Um sich abzulenken, ließ Aric die Geschehnisse der letzten Stunden Revue passieren. Er begann am Morgen, als die Nachricht vom Feuer auf den Ebenen die Ankunft des Heeres ankündigte. Er hatte sich in dieser Nacht lange überlegt, wie er die Situation handhaben sollte. Er befand sich in einem Dilemma. Es widerstrebte ihm, Anna der Gefahr in der Schlacht auszusetzen, doch er wusste auch, dass er ihr, der Kriegerschülerin, diese Erfahrung nicht vorenthalten durfte. Als Tochter von Taos und Erbin des Throns durfte er nicht zulassen, dass ihr etwas zustieß, und dennoch konnten ihre Fähigkeiten ihnen möglicherweise allen das Leben retten. Seine ganz persönlichen Ängste und Wünsche diesbezüglich fügte er der langen Liste von Wenn und Aber an und fällte schließlich seine Entscheidung. Als er dann gesehen hatte, wie die Wand aus Pfeilen an ihrem gigantischen Schild abgeprallt war, hatte er sich darin bestätigt gefühlt, ihr diese Chance gegeben zu haben.
Aric hatte schon einige Magier getroffen, aber abgesehen von Olivers Heilkünsten, noch nie einen tatsächlich seine Kraft einsetzen sehen. Annas Macht überwältigte ihn und für einen kurzen Augenblick fürchtete er, wozu dieses zierliche kleine Mädchen imstande war. Dann war der Augenblick vorbei und er sah sie fallen. Aric kannte die rationale Erklärung für sein darauffolgendes Handeln: Er war für sie verantwortlich. Sie war seine Schülerin und die Thronerbin und es durfte ihr nichts geschehen. Aber hier in der Dunkelheit des Transportwagens musste er sich eingestehen, dass dies nicht die Gründe gewesen waren, die ihn angetrieben hatten. Aric erinnerte sich an das Gefühl, weil es immer noch da war. Schwächer, im Hintergrund, aber da. Er hatte noch nie so empfunden und das verwirrte ihn. Als er Anna hatte fallen sehen, hatte ihn eine tiefe Angst erfasst: Die Angst vor Verlust. Auch jetzt beherrschte sie seine Gedanken und ihm wurde bewusst, dass das Mädchen sich zwar in die Strukturen seines Lebens eingeordnet hatte, es aber trotzdem völlig auf den Kopf stellte. Alles, was ihn früher angetrieben hatte - sein Pflichtgefühl, sein Sinn für Gerechtigkeit, sein Wunsch nach Frieden - all das trat in den Hintergrund und das Einzige, was zählte, war Anna.
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