34. Kapitel
Anna hatte sich aus ihren nassen Sachen geschält und sie zum Trocknen in der Nähe des Kochfeuers aufgehängt. Von Li bekam sie ein trockenes Hemd und eine Hose, die ihr viel zu weit und zu lang war. Sie schlug die Beine um und schnürte ihren Gürtel um den Bund. Die Luft in den Tunneln war feucht und kalt, sodass sie trotz der trockenen Kleidung immer noch fror. Zitternd stand sie am Feuer und rieb sich die steifen Glieder. Über dem Feuer hing ein großer Kessel aus dem würziger Dampf aufstieg. Neugierig blickte sie hinein. Ein Mädchen, das Anna nicht kannte, kam herbei und rührte mit einem langen Stock um. Sie konnte kaum über den Rand des Kessels blicken und streckte ihre Arme weit über den Kopf um den Stock im Kessel zu halten. Anna trat neben sie.
„Hier, lass mich das machen", bot sie an und griff nach dem Stock.
Dankbar überließ das Mädchen ihr die Arbeit. Der heiße Dampf an ihren Händen und die Bewegung so nah am Feuer ließen endlich das Zittern abklingen. Wohlige Wärme kroch in ihre Glieder und sie begann andere Bedürfnisse wahrzunehmen. Ihr Magen knurrte laut und als hätte sie es gehört kam das kleine Mädchen mit einer Holzschale zurück, die sie Anna lächelnd reichte. Anna nahm sie und tauchte sie in den Eintopf. Vorsichtig nippte sie an der heißen Flüssigkeit und nahm den köstlichen Duft in sich auf.
„Danke!", hauchte sie dem Mädchen zu und reichte ihr wenig später die leere Schale zurück. Dann sah sie sich in der Halle um und beobachtete das geschäftige Treiben. Überall liefen Kinder vorbei, trugen Holz und Bündel mit Decken und anderen Vorräten herbei, verschwanden in den dunklen Gängen zu allen Seiten des Sammelbeckens und tauchten genauso unerwartet wieder daraus hervor. Anna folgte ihnen mit den Augen. Viele von ihnen liefen direkt auf das goldhäutige Mädchen zu, das Li genannt wurde. Sie hörte ihnen zu, antwortete und entließ sie wieder, wahrscheinlich mit einem neuen Auftrag, in Richtung Stadt. Anna erhob sich und ging auf das Mädchen zu. Es war offensichtlich, dass Li hier eine tragende Rolle innehatte. Als sie näher kam, blickte Li fragend von ihrer Arbeit auf.
„Kann ich mich hier irgendwo nützlich machen?", fragte Anna gerade heraus.
Li nickte dankbar und warf einen Blick in die Halle während sie überlegte.
„Geh zurück zum Kochfeuer und hilf Lara mit dem Essen. Sammelt die leeren Schalen überall in der Halle ein, füllt sie und verteilt das Essen an die Leute. Bring einen kleinen Topf davon ins Krankenlager und sorgt dafür, dass die Menschen aus dem Gefängnis dort drüben versorgt sind. Lara hilft dir, dich zurechtzufinden. Wir haben nicht viele Decken, aber versucht sie so zu verteilen, dass diejenigen sie bekommen, die es am Nötigsten haben. Wir haben keinen Zugang zur Stadt und ich weiß nicht, wie lange das anhalten wird. Wir müssen die Rationen einteilen. Mach eine Bestandsaufnahme unserer Vorräte und sag mir, wie es aussieht."
Anna folgte ihrem Finger wenn sie auf die betreffenden Bereiche zeigte, die versorgt werden mussten und hörte aufmerksam zu. Dann nickte sie und eilte zurück zu dem Mädchen am Kochfeuer.
„Lara?", sprach sie sie an. „Ich bin Anna."
Sie erklärte ihr, welche Aufgabe sie von Li bekommen hatte und Lara verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln ob der bevorstehenden Aufgabe, das wenige Essen fair einzuteilen. Als Anna geendet hatte, richtete Lara sich geschäftig auf, drückte Anna den Rührstab wieder in die Hand und nahm einen Beutel vom Boden um die leeren Schüsselchen einzusammeln.
„Na dann, los!", sagte sie wie ein Krieger vor dem Gefecht und Anna musste schmunzeln, während sie dem kleinen Mädchen nachsah, das sich unter die Menschen mischte und fleißig ihrer Aufgabe nachkam. Anna war froh etwas zu tun zu haben. So blieb sie in Bewegung und konnte sich gleichzeitig einen Überblick über die Situation verschaffen. Immer wieder sah sie bekannte Gesichter und viele ihrer alten Spielkameraden winkten ihr zu oder kamen zum Feuer um sie zu begrüßen. Zum Reden schien allerdings kaum Zeit. Der Alarm hatte alle in einen wachsamen und gespannten Zustand versetzt und die Bedrohung, die von der Stadt ausging, war ihnen allen deutlich bewusst. Jeder packte mit an und war gleichzeitig stets sprungbereit wie ein gespannter Bogen. Ständig flogen unruhige Blicke in Richtung der dunklen Tunnel und man wartete unentwegt darauf, dass etwas passierte.
Doch die Stunden vergingen und alles blieb ruhig. Anna hatte mittlerweile von dem organisierten Ausbruch erfahren und es hatte sie nicht überrascht zu hören, wer der Drahtzieher hinter der Rebellion war. So lange sie Amon kannte, hatte er immer davon geredet, gegen den Herzog und sein Regime aufbegehren zu wollen, der Stadt Gerechtigkeit zu bringen und seine Geschwister aus dem Waisenhaus zu holen. Noch hatte sie weder Tom noch Emma in dem Gewimmel entdecken können, doch sie war sich sicher, dass sie sich irgendwo hier unten aufhielten. Lara kam mit einem großen Topf zu ihr herüber.
„Hier, der ist für die Kranken drüben. Füll ihn auf und bring ihn hinüber, ja?" bat sie, während sie Anna den Topf reichte. Anna nickte und nahm sich eine große Kelle für den Eintopf und einen Beutel mit trockenem Brot, dann trug sie alles zusammen zum Krankenlager.
Dort angekommen verteilte sie das Essen und half einigen der Schwächeren sich aufzusetzen, bevor sie ihnen eine Schale heißen Eintopf in die Hand drückte. Als sie sich umwandte um auf die nächste Reihe provisorischer Betten zuzugehen, entdeckte sie Aric, der auf seinem Lager saß und sich ernst mit Amon, Sahir und Li unterhielt. Er wirkte ins Gespräch vertieft, doch sein Blick folgte ihr, als sie nun auf die Gruppe zuging. Bevor die anderen sie bemerkten, sprach er sie an.
„Anna!", sagte er schlicht und lächelte kaum merklich.
Amon und Sahir wandten sich sofort zu ihr um und sie hob ihren Topf und die Kelle mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Li kam herbei und nahm ihr eine Schale und ein Stück Brot ab und verteilte es unter der kleinen Gruppe. Anna trat an das Lager und musterte Aric abschätzend.
„Wie geht es dir?", fragte sie.
„Wird schon", erwiderte Aric knapp, reichte ihr die nun leere Schüssel zurück und wandte sich wieder Amon zu. Dieser nahm den Faden des Gesprächs wieder auf und Anna verfolgte erstaunt die Planungsrunde zum Sturz des Herzogs.
Der Plan klang verrückt und genial zugleich und sie blickte in die kleine Runde von Intriganten, die sich offenbar zu den Rächern der Stadt ernannt hatten und sich nun für einen Krieg bereit machten, von dem sie sich kaum vorstellen konnte, dass er real war. Es wirkte absurd. Hier stand sie zwischen ihren Freunden, zwischen ihrem alten Leben als Straßenkind an Amons Seite und ihrem neuen Leben als Krieger bei Aric. Es fühlte sich gut an. Alles, was sie war und sein wollte, fügte sich zusammen und sie war wieder ganz. Nun ja, dachte sie, beinahe. Eine Komponente fehlte. Ein wesentlicher Teil ihrer selbst passte nicht dazu. Ihre Magie. Wie immer das, was sich nicht mit ihrem Leben, wie sie es sich wünschte, vereinbaren ließ. Das, was sie von einem normalen Mädchen unterschied. Sie sah hinüber zu Li und fragte sich, was wohl gewesen wäre, wenn sie geblieben wäre. Wenn sie die Stadt nicht verlassen hätte, nicht überfallen worden wäre, Aric nicht wieder gesehen hätte und vor allem Oliver nicht kennengelernt hätte. Sie hätte ihre Magie weiterhin tief in sich verschlossen, hätte versucht ununterbrochen etwas zu sein, was sie nicht war. Vorsichtig fühlte sie nun in sich hinein. Die Kraft rauschte wie ein reißender Fluss durch sie hindurch und die Luft, die sie umgab, floss durch ihren Schutzschild, bildete gleichzeitig eine Barriere und eine Verbindung nach außen. Eine Modifikation, die sie vorgenommen hatte, als sie die Kriegerfeste verlassen hatte. So konnte sie Informationen aus dem Wind filtern und war trotzdem gegen neugierige Blicke geschützt. Denn jeder Magier hatte eine starke Aura, die ihn umgab wie waberndes Licht, die sein Wesen und seine Kraft beschrieb. Saronn hatte ihr ein einziges Mal die seine gezeigt. Eine kraftvolle Glut roten Lichtes mit Ausbrüchen von tosenden Flammen und dunklen Tiefen. Sie hatte darin sofort sein Wesen erkannt. Seine Bindung zum Feuer, seinen aufbrausenden Zorn und das viele, das sie nicht über ihn wusste, verborgen in der Schwärze. All die Geheimnisse, die sich hinter seiner ernsten strengen Art verbargen. Ihre eigene Aura war völlig anders. Sie wusste das, obwohl sie sie selbst nicht so sehen konnte. Man konnte eine Aura nicht im Spiegel betrachten. Es war etwas weniger Greifbares. Energie.
Sie spürte die Veränderung im Wind noch bevor sie den Mann sah. Erschrocken wandte sie sich um und sah einen blonden jungen Mann aus dem Gang vom Nordtor her heraustreten. Sie reagierte instinktiv, indem sie ihren Schild verstärkte und magische Fühler in die Richtung des Mannes ausstreckte. Im selben Moment, als der Mann überrascht die Augen aufriss, erkannte sie ihren Fehler. Sie hatte sich schützen wollen und dabei zu erkennen gegeben. Sie hatte gespürt, dass der Wind einen Vertrauten in der Halle willkommen hieß. Einen anderen Magier? Sie starrte ihn an und sein suchender Blick fiel auf sie, während er vorsichtig näher kam.
Aric war ihre alarmierte Haltung aufgefallen und er folgte ihrem Blick.
„Anna? Was ist los?"
Doch Anna antwortete nicht. Sie spürte wie ein Hauch Magie über ihren Schild strich. Fragend. Fordernd. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Sie nahm nicht wahr, dass Arics Miene sich angesichts des Mannes zu einer unbeweglichen Maske verschloss, sah nicht, wie Amon aufstand um den Fremden zu begrüßen und wie er in der Bewegung innehielt, als er der Spannung zwischen ihm und ihr gewahr wurde. Blicke huschten von ihr zu dem Mann und zurück, doch in Annas Geist schrillten alle Alarmglocken. Sie hörte nur Saronns eindringliche Stimme:
„Du bist eine Magierin, Anna, das allein gefährdet dein Leben mehr als du es dir vorstellen kannst. Magier werden geächtet und verfolgt und diesem Schicksal kannst du nicht entkommen."
Die einzigen, vor denen sie sich nicht verbergen konnte, waren Magier desselben Elementes. Freund oder Feind, fragte sie sich ängstlich, während sie versuchte zu entscheiden, wie sie jetzt reagieren sollte.
Der Fremde nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sich verneigte und sich höflich vorstellte.
„Ich glaube, wir kennen uns nicht. Meine Name ist Lucius Ferndala."
Anna antwortete nicht. Amon unterbrach die peinliche Stille, indem er vortrat und Lucius die Hand zur Begrüßung reichte.
„Lucius, du kommst gerade recht. Wir warten schon auf Nachrichten aus dem Schloss. Es müssen wichtige Entscheidungen getroffen werden. Wir zählen auf Leylas Hilfe."
Annas Starre löste sich, als Lucius sich Amon zuwandte. Ohne zu zögern nahm sie ihren Topf und den Beutel Brot auf, lief hinüber zu einem Helfer, dem sie beides übergab um die restlichen Kranken zu versorgen und verschwand eilig in Richtung Kochfeuer auf der anderen Seite des Beckens.
Während die Männer ihr verwirrt nachsahen, musterte Aric den Neuankömmling. Es war ihm nicht entgangen, dass Anna den Mann bemerkt hatte, bevor er zu ihnen getreten war und dass sie vor ihm zurückgewichen war. Es war ihm auch aufgefallen, dass sie ihm ihren Namen nicht genannt hatte und er erinnerte sich sehr wohl an diesen Mann. Den Mann, der sich auf der Ebene einfach in Luft aufgelöst hatte.
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