1. Kapitel
Amon traf sie am Fischmarkt. Ihre Wangen waren rot von der Kälte. Die Kapuze verbarg ihre wilden Locken, doch Amon wusste, dass sie so feuerrot waren, wie ihre Backen. Sie grinste ihn an und ohne ein weiteres Wort verschwanden sie zusammen in einer kleinen Seitenstraße.
„War erzufrieden?"
„Ja", erwiderte Anna und Amon freute sich auf das Abendessen, das sie erwarten würde.
Seit jenem verhängnisvollen Nachmittag im Schloss hatte sich einiges verändert. Sie hatten sich auf den alljährlichen Herbstball des Herzogs geschlichen um mitzunehmen, soviel Bauch und Hände tragen konnten. Es war ein riskantes Spiel gewesen, doch Anna und er waren noch nie vor Schwierigkeiten zurückgeschreckt. Im Gegenteil. Sie waren unter den Straßenkindern bekannt wie bunte Hunde. Die besten und waghalsigsten kleinen Diebe der Stadt. Und mit jeder Herausforderung bewiesen sie erneut ihr Können. An diesem Tag hatten sie allerdings das Spiel verloren. Sie hatten zu viel gewagt und waren erwischt worden.
Amon grinste in sich hinein. Wer zuletzt lacht...
Seit Anna an jenem Tag mit diesem seltsamen Aric zusammengestoßen war, gab es jeden Abend was zu futtern und die Aussichten für den Winter standen zum ersten Mal nicht lebensbedrohlich.
Die beiden wanden sich durch die engen Straßen, vorbei am Markt und an den großen Häusern der reichen Bürger. Jedes Mal wenn Amon hier vorbei lief, stellte er sich vor wie es wohl wäre in solch einem Haus zu wohnen. Es war mollig warm im Winter und angenehm kühl im Sommer. Bedienstete würden jeden Tag die leckersten Speisen kochen und sonntags gab es Pflaumenkuchen.
Amon beobachtete einen Lieferanten, der mit einem Karren voller Holz durch das Hoftor fuhr. Wie lange dieses Holz wohl reichen würde um solch ein großes Haus zu beheizen? An den Fingern rechnete er aus, was der Händler für sein Holz bekam und schüttelte wütend den Kopf. Ein Tuchhändler lebte hier mit seiner Frau und seiner 12-jährigen Tochter. Zu dritt verbrauchten sie eine Ladung Holz in wenigen Wochen, deren Wert mehrere Familien aus den armen Vierteln über den Winter bringen konnte. Zenon war eine wohlhabende Stadt, aber dennoch litten hier viele Menschen Hunger. Die Kluft zwischen arm und reich wurde zunehmend größer und das Elend breitete sich in den Vierteln aus wie eine Krankheit. Viele Menschen landeten auf der Straße, weil sie die Mieten nicht bezahlen konnten, manche suchten freiwillig ihr Glück in der Ferne. Immer wieder sah man ganze Familien ihr Hab und Gut verkaufen und mit einem Karren und einem kleinen Beutel Geld zum Stadttor hinausziehen.
Amon hatte noch nie jemanden zurückkommen sehen.
Die Häuser blieben verlassen zurück und begannen zu verfallen. Amon wusste, dass die Menschen von der Straße dort in kalten Nächten und im Winter Schutz suchten. Niemand scherte sich darum und weil die vorübergehenden Bewohner dort nichts renovierten, sondern einfach weiterzogen, wenn es im Haus zu feucht wurde, zerfielen die meisten Häuser langsam und bescherten den äußeren Vierteln einen verwahrlosten Anblick. Amon war dieser Anblick vertraut, denn die Viertel waren seit Jahren sein Zuhause und sein Spielplatz.
Er konnte sich daran erinnern, dass es nicht immer so gewesen war.
Das Unglück, das die Bürger der Stadt heimsuchte, war noch nicht alt, doch es wuchs mit jedem Jahreswechsel verheerend an. Traurig dachte Amon an jenen verhängnisvollen Winter vor sechs Jahren zurück, als es auch seine Familie getroffen hatte. Sein Vater war eines Abends nicht mehr von der Arbeit im Wald nach Hause gekommen. Ein Baum hatte ihn erschlagen. Er war Holzfäller gewesen.
Doch damit hatte das Unglück erst begonnen. Mutter wurde krank und Amons Bruder, der neugeborene Seth verhungerte, als ihre Milch versiegte. Die Familie hatte kein Geld für einen Arzt und so erlag seine Mutter zur Jahreswende einer schweren Lungenkrankheit. Sie hatte nach dem Tod des Vaters Schulden machen müssen um sich und die Kinder über Wasser halten zu können und als sie starb, nahmen ihre Gläubiger rücksichtslos das Haus auseinander bis ihnen nichts blieb als die Kleider, die sie am Leib trugen. Amon war elf Jahre alt gewesen, als er mit seiner Schwester Emma und dem erst dreijährigen Bruder Tom plötzlich auf der Straße stand. Er hatte kein Geld und das wenige, das er auf dem Markt aus den Abfällen zog, reichte kaum um seinen eigenen Hunger zu stillen. Also brachte er seine beiden Geschwister ins Waisenhaus. Er hatte sich geschworen, sie eines Tageswieder zurück zu holen. Eines Tages würde er der Stadt Gerechtigkeit bringen und niemand würde ihn aufhalten können.
Anna sah ihn fragend an.
„Denkst du wieder an Emma?"
Amon seufzte.
„Ist das so offensichtlich?", fragte er resigniert und Anna nickte.
„Du solltest sie besuchen gehen. Wann warst du das letzte Mal dort? Sie würde sich sicher freuen und Tom auch. Der Kleine himmelt dich an", sagte sie aufmunternd, doch Amon schüttelte den Kopf.
„Jedes Mal wenn ich dort bin wird mir bewusst, dass ich nichts erreicht habe. Ich verdiene seine Bewunderung nicht und ertrage Emmas sorgenvollen Blick nicht. Ich kann ihr nicht mehr in die Augen sehen, wenn ich es nicht schaffe, sie da raus zu holen."
Anna klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter.
„Ach komm schon, das Waisenhaus mag ein Dreckloch sein, aber wenigstens haben sie ein Dach über dem Kopf, täglich eine warme Mahlzeit und Emma konnte sogar ein paar Jahre zur Schule gehen. Das ist doch gut! Du solltest dir um die beiden keine Sorgen machen. Sie sind stark, genau wie du und sie brauchen ihren Bruder, Amon, nicht dein Geld, das du im Übrigen gar nicht besitzt", sagte sie und Amon seufzte. Sie hatte ja Recht, aber das änderte nichts daran, dass er sich schuldig fühlte. Er lebte in den Tag hinein, aß, wenn er etwas fand und war so sehr von seinem eigenen Überleben eingenommen, dass er zu oft vergaß, was er sich geschworen hatte.
Als sie um die nächste Straßenecke bogen, schauten sie sich sorgfältig um. Ein Betrunkener schlief an der gegenüberliegenden Hauswand seinen Rausch aus. Sonst war niemand zu sehen. Hastig legten sie die letzten Schritte zur Stadtmauer zurück. Ein Beobachter hätte wohl den Eindruck gehabt, sie lösten sich in Luft auf. Doch in Wahrheit verschwanden sie mit geübter Schnelligkeit hinter dem dichten Efeu, das die Mauer entlang wuchs. Amon kroch hinter Anna in die kalte Dunkelheit. Sein Knie stieß an einen Stein und er fluchte leise. Da entflammte vor ihm ein schwaches Licht. Anna hatte den alten Kerzenstummel, der auf dem Boden einer umgedrehten Kiste klebte, entzündet.
Sie lächelte ihn an.
„Heute ist Sonntag", sagte sie geheimnistuerisch und zog den Beutel an ihrem Gürtel hervor.
Amon machte große Augen, als sie mit ihren kleinen Händen neben dem Brot auch noch zwei Streifen Speck und ein kleines ledernes Säckchen zutage förderte. Der süße Geruch von Honig stieg ihm in die Nase.
„Ist das, was ich denke, das es ist?", fragte er ungläubig.
„Ja genau. Frischer Honig", erwiderte sie, steckte den Finger hinein und schleckte ihn genüsslich ab.
„Das Festmahl kann beginnen!"
Draußen vor der Mauer schlang Aric seinen Mantel enger um die Brust und sah zum Himmel. Ein Sturm zog auf, ausgerechnet jetzt. Kopfschüttelnd wandte er sich zum Gehen. Hier an der Küste konnte ein Gewitter schnell und mit ungewohnter Stärke hereinbrechen und es war besser sich dann nicht im Freien aufzuhalten. An der nächsten Straßenecke hielt er inne und wandte sich dem Betrunkenen zu, der noch immer in sich zusammengesunken am Straßenrand lag.
„Verdammt", fluchte er leise, während er sich umsah. Er stieß die nächste Tür auf und warf einen prüfenden Blick hinein. Das Haus war leer und staubig. Zwar sah das Dach nicht besonders Vertrauen erweckend aus, aber es war besser als gar nichts.
Kurz entschlossen packte er den Mann unter den Achseln und zog ihn ins Haus.
„Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich einen Eid geschworen habe. Ich sollte dich dort draußen erfrieren lassen", brummte er wütend, als er die Tür hinter sich schloss. Er ließ den Mann mitten im Raum auf dem Boden liegen und stapfte hinüber in eine Ecke voll gammligem Stroh, das er neben dem Fremden aufhäufte. Dann zerschlug er dieÜberreste zerfallener Möbelstücke zu Kleinholz, stapelte es darüber und entzündete ein kleines Feuer. Als die Flammen an Kraftgewannen, ließ er sich daneben nieder um sich zu wärmen. Es war kaum Zeit vergangen, doch der Regen peitschte schon mit Wucht gegen die morschen Läden und der Wind pfiff in hohen Tönen durch die Gassen.
Aric zog einen Schlauch Wein vom Gürtel und nahm einen Schluck. Während der betrunkene Fremde seinen Rausch ausschlief, kehrten Arics Gedanken zurück zu dem Straßenkind Anna. Sie hatte ihre Freude über den Honig kaum verbergen können und hatte Aric so auf grausame Weise daran erinnert, wie viele Menschen unter der Willkür des Herzogs litten und vor dem nahen Winter standen ohne einen Penny in der Tasche. Aric schnaubte. Die Zustände in den äußeren Vierteln Zenons waren himmelschreiend, aber die Kassen des Herzogs waren voll. Er schien sich nun schon seit Jahren in seinem Schloss zu verschanzen und die Probleme seiner Stadt gelassen zu ignorieren. Es kümmerte ihn nicht, wie es den Menschen ging und Aric fragte sich seit einiger Zeit, woher der Herzog sein Geld bekam, wo doch immer weniger Bürger in Zenon imstande waren Steuern zu zahlen. Deshalb war er hier hergekommen. Es war seine Aufgabe, die Machenschaften des Herzogs zu durchschauen und seine Entdeckungen dem Orden zu berichten. Doch sein Auftrag erwies sich schwieriger als erwartet. Der Herzog ließ sich nicht in die Karten schauen und im Gegensatz zu seiner Fahrlässigkeit gegenüber seinem Volk, schien ihm diesbezüglich kein einziger Fehler zu unterlaufen.
Aric hatte einen Eid geschworen, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen und die Schwachen zu verteidigen. Nun saßer tagein tagaus auf seinem Posten am Hafen und versuchte über die Machenschaften des Herzog auch einen Hinweis auf die Intrigen des Königs zu bekommen, denn soviel war klar: Der Herzog handelte nicht eigenmächtig und ohne die Zustimmung oder zumindest die Gleichgültigkeit des Königs war er ein machtloser Mann.
Die Probleme Zenons spiegelten im Kleinen die Probleme des ganzen Landes Abhan wieder und Aric wusste, der Herzog war zwar ein elender Egoist, aber die eigentliche Krankheit dieses Landes ging vom König selbst aus. König Maar war ein selbstherrlicher Tyrann, der seine Armeen mit Fleisch und Getreide bei Kräften hielt, während zu seinen Füßen zahlreiche Menschen verhungerten und erfroren.
Frustriert stützte Aric den Kopf in die Hände. Seine Beobachtungen brachten ihn keinen Schritt weiter. War es das, wofür er jahrelang gekämpft hatte? Hatte er dafür alles hinter sich gelassen? Seine Familie, sein Zuhause? Natürlich musste der König in seine Schranken gewiesen werden, aber das brachte einer armen Witwe nicht ihren Mann zurück und es füllte ihren Kindern auch nicht den Magen. Die Begegnung mit dem Straßenmädchen zwang ihn, seine Prioritäten neu zu ordnen. Sie wohnte mit diesem Jungen in der alten Stadtmauer. Wahrscheinlich hatten sie dort eine alte Wachstube entdeckt, die sie vor den Witterungen und vor fremden Blicken schützte. Als er das Mädchen zum ersten Mal getroffen hatte, war sie vor Soldaten der Garde weggelaufen, nicht vor gewöhnlichen Männern der Stadtwache. Die Nische in der Mauer bot ein perfektes Versteck. Er hatte ihr damals vor allem aus Mitleid Arbeit angeboten, weil sie zu stur gewesen war, sein Brot anzunehmen, doch nach einiger Zeit musste er nun zugeben, dass sie ihm tatsächlich hilfreich war. Sie war gewissenhaft und vieles, das sie ihm erzählte, war ihm neu. Sie schien an Orte zugelangen, von denen er nicht einmal wusste, dass sie existierten und schnappte Gespräche auf, die ganz sicher nicht für fremde Ohren bestimmt waren. Keine Frage, das Mädchen war talentiert. In ihr steckte sicher mehr als sie zugab und Aric würde herausfinden, was es war. Zwar hatte er einen Auftrag des Ordens auszuführen aber streng genommen war er nur seinem Gewissen verpflichtet. Er hatte seinen Entschluss gefasst. Sie würde für ihn spionieren, während er sie beobachtete. Er würde sie nicht mehr aus den Augen lassen. Zufrieden legte er etwas Holz aufs Feuer, zog sein Schwert hervor und polierte es sorgfältig. Nach einigen Stunden ließ der Sturm nach und die darauf folgende Stille wiegte ihn in einen unruhigen Schlaf.
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