Kapitel 1 - Der Nordwall - Teil 2
Bartholomäus lag bereits auf seiner Pritsche, als ich ins Zelt zurückkehrte. Ich trat leise an ihn heran und legte eine Hand auf seine Schulter. Wie alle Schatten war auch er ein leichter Schläfer, denn er fuhr sofort hoch und setzte sich mit einem alarmierten Ausdruck auf.
»Erzähl mir von den Edlen, die hierhergekommen sind«, verlangte ich im Flüsterton. »Wer sind sie und wie stehen sie zum Dakahn?«
Bartholomäus zog die Brauen zusammen. »Ist das wirklich so wichtig, dass du mich deswegen wecken musst?«
»Ja.«
Er seufzte, ließ sich zurück auf die Pritsche sinken und rieb sich die Augen. »Es sind Osrik und Gael. Beide waren Befürworter des Dakahns und haben ihm an die Macht verholfen. Aber seitdem der Dakahn die rhenarischen Geiseln in seiner Gewalt hat, haben sie sich von ihm distanziert. Anscheinend gibt es Streit zwischen ihnen. Deshalb waren wir alle überrascht, dass ausgerechnet sie der Aufforderung des Dakahns nachgekommen sind.«
»Glaubst du, sie haben es getan, weil sie vorhaben, dem rhenarischen Dakahn etwas anzutun?«
»Das haben wir ebenfalls in Betracht gezogen. Aber wir wissen nicht, wie sie das anstellen wollen. Die Dakahne werden sich an einer heiligen Stätte nördlich von hier treffen, und zwar unter vier Augen. Danach kehren sie in ihre jeweiligen Lager zurück, und dorthin werden die sanaelischen Edlen Thorak wohl kaum folgen. Falls sie also etwas vorhaben, müssten sie es schon vor aller Augen tun, und das wird schwer möglich sein, denn Thorak wird mit Sicherheit für solch eine Eventualität gerüstet sein.«
Ich trat von Bartholomäus zurück und ließ mich auf der Pritsche nieder. Meine Schläfen pochten und ich hob meine Hände, um sie zu massieren.
»Keine Sorge«, tröstete mich der Schatten, »sowohl wir sanaelischen als auch die rhenarischen Schatten behalten die Edlen im Auge. Sie werden nicht an Thorak herankommen können.«
Das war jedoch nicht das Einzige, was mir Magenschmerzen bereitete. »Ich glaube, sie setzen Yarran unter Druck. Der Dakahn war gerade völlig neben sich. Er hat Nachtkreuz geraucht und vielleicht sogar welches zu sich genommen, denn seine Lippen haben einen leichten Grünstich...«
Bartholomäus blickte mich ruhig an. »Wir alle greifen von Zeit zu Zeit zu Nachtkreuz. Selbst du, wenn mich nicht alles täuscht. Und Yarran ist zwar unberechenbar, aber selbst er wird sich nicht von den Edlen zu einem Mord in einer Stätte verleiten lassen, die von Hohepriestern geweiht worden ist.«
Ich legte mich ebenfalls auf die Pritsche, neben Fenris, der schon schlief. Ein tiefes Seufzen entkam meinen Lippen. Vielleicht hatte Bartholomäus recht und ich sah alles viel zu schwarz, zumal der Dakahn offenbar noch nicht bereit war, sich dem Willen seiner Edlen zu beugen. »Er hat mir befohlen, morgen an seiner Seite zu reiten.«
»Neben ihm und seinen Edlen?«, wunderte sich Bartholomäus.
Ich schnaubte. »Wohl kaum. Vielmehr glaube ich, dass er mich benutzt, um Osrik und Gael auf Abstand zu halten, denn die beiden werden sich sicherlich weigern, in der Nähe eines Bastards, und noch dazu eines Spions, zu reiten.«
Bartholomäus schien eine Weile darüber nachzudenken, denn er wurde sehr still. »Das ist nicht gut, denn du brauchst ihre Stimmen«, sagte er langsam. »Und wenn er auf diese Weise einen Keil zwischen dich und die Edlen treibt, wird es schwer, ihre Zustimmung zu gewinnen, sobald es an der Zeit ist, ihn als Dakahn zu ersetzen.«
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich kein Dakahn werden will«, brummte ich.
»So wie ich dir gesagt habe, dass es selten nach deinem Willen geht, wenn unser Meister seine Finger im Spiel hat.«
»Die Edlen würden es doch sowieso niemals zulassen. Es fließt zu viel distriktlerisches Blut durch meine Adern, um ein Dakahn zu werden.«
»Sie werden natürlich eine Ausnahme für dich machen, wenn wir ihnen den richtigen Anreiz dafür bieten. Vergiss hinterher nur nicht, auch deinen Teil unserer Abmachung einzuhalten und mich zu deinem neuen Herrn der Schatten zu machen.« Bartholomäus gähnte herzhaft. »Gibt es sonst noch etwas, das nicht bis morgen warten kann?«
»Nein«, sagte ich und schloss selbst die Augen.
Als ich Stunden später erwachte, lagen zu meiner Verblüffung auf dem Klapptisch ein sauberes Schnallenhemd, ein breiter Gürtel mit silberner Schließe und sogar ein Paar Lederstiefel, die sich anfühlten, als wären sie eigens für mich gefertigt worden. Bartholomäus hatte sie aus Al-Khurab mitgebracht, nur für den Fall der Fälle, wie er mir mitteilte. Und als wäre das nicht genug, gab er mir auch etwas von von seinem Haaröl ab, damit ich es verwenden konnte, um meine Haare glatt nach hinten zu streichen.
Ich fühlte mich mit der neuen Kleidung und Frisur genauso Fehl am Platz wie im Palast in den Distrikten, wo ich mich jeden Tag in unbequeme Gewänder zwängen musste. Aber Bartholomäus schien zufrieden mit meinem Aufzug.
»Vergiss nicht: Du musst um jeden Preis vermeiden, dass Yarran auf die Idee kommt, den Nordwall zu überqueren und ins Gebiet der Herunen vorzudringen«, mahnte er mich und klopfte mir auf die Schulter. »Hals- und Beinbruch.«
»Kommst du etwa nicht mit?«
»Im Gegensatz zu dir wurde ich nicht eingeladen. Außerdem bin ich nicht so begierig darauf wie Yarran, die Leichen zu sehen.« Er schob mich auf den Zelteingang zu. »Geh jetzt. Einen Dakahn sollte man nicht warten lassen.«
Ich trat hinaus ins Freie und atmete tief ein, um Mut zu sammeln. Es war ein kühler, bewölkter Herbstmorgen und der Wind trug den Geruch von Regen mit sich, der sich über die Unbezwingbaren ergoss. Langsam wandte ich mich Fenris zu, der auf meiner behandschuhten Hand hockte und mich erwartungsvoll musterte. ›Du weißt, was zu tun ist.‹
›Ich soll die überfallene Siedlung erkunden.‹
Ich nickte. ›Halte dabei besonders das nördliche Gebiet im Auge. Wenn du dort eine Bewegung ausmachst oder etwas Verdächtiges siehst, gib mir Bescheid und such im Zweifelsfall das Weite. Die Herunen sind ausgezeichnete Bogenschützen.‹
Fenris erhob sich in die Lüfte und ich blickte ihm für einige Augenblick nach, während ich mein Bewusstsein in zwei Teile aufteilte. Einen Teil schickte ich zu ihm, um die Umgebung durch seine Augen im Blick zu behalten, der andere blieb in meinem Körper. Nachdem ich mich auf diese Weise davon überzeugt hatte, dass das Gebiet nördlich des Lagers sicher war, sattelte ich mein Pferd, das neben unserem Zelt gegrast hatte, und führte es an den Zügeln zum westlichen Teil des Zeltlagers. Dort hatte sich Yarran mit seinen drei Edlen und etwa zwei Dritteln seiner Männer versammelt, um sich zum Aufbruch bereitzumachen.
Unzählige Blicke verfolgten mich, während ich mir meinen Weg durch Pferde und Reiter zum Dakahn bahnte. Ich zwang mich, sie zu ignorieren und meinen Atem ruhig zu halten, doch es fiel mir verdammt schwer.
Yarran zurrte gerade den Sattelgurt fest, als er mich entdeckte. Nur noch sechs Schritte trennten mich von ihm, da stellte sich mir ein Edler in den Weg.
Der ältere Mann musterte mich mit unverhohlener Verachtung. Wie Yarran war er reinen Geblüts, was bedeutete, dass er die typischen Merkmale der Steppenbewohner besaß: Sonnenverwöhnte Haut, stechend graue Augen und rabenschwarzes Haar.
Auch ich trug ihre Züge, wenn auch in abgeschwächter Form. Mein Haar war dunkel, doch nicht schwarz. Meine Haut war sonnengebräunt, aber heller als ihre. Umd mein Gesicht war schmaler, die Wangenknochen weniger markant. In den Augen eines Distriktlers waren diese Unterschiede kaum der Rede wert, für die Steppenbewohner hingegen waren sie unübersehbar. Ich stach aus der Menge heraus wie ein fauler Apfel in einem Korb makelloser Früchte.
»Wohin des Weges, Bastard?«, fragte er.
»Ich bin auf Befehl des Dakahns hier.«
Die wenigen Gespräche, die noch zu hören gewesen waren, als der Edle mich angesprochen hatte, verstummten auf einen Schlag. Innerlich krümmte ich mich, doch was blieb mir anderes übrig, als Ruhe zu bewahren?
Der Edle hob eine Braue. »Was für ein Befehl soll das gewesen sein? Begib dich gefälligst zurück an deinen Platz hinten im Tross.«
»Lass ihn zu mir durch, Osrik«, sagte Yarran, während er sich auf sein Pferd schwang. »Er ist wirklich auf meinen Wunsch hier. Ich habe ihn gestern darum gebeten, an meiner Seite zu reiten.«
Die Miene des Edlen verdunkelte sich, und ich sah, wie er die Fäuste ballte und die Lippen zusammenpresste. Er sagte nichts, doch die Worte, die er zurückhielt, standen ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er mich ebenso gut hätte anschreien können - oder den Dakahn. Denn es war schwer zu sagen, auf wen von uns beiden er zorniger war. Um es mir nicht gänzlich mit ihm zu verscherzen, neigte ich den Kopf in einer leichten Verbeugung, ehe ich mich an ihm vorbeischob.
Neben Yarran kam ich zum Stehen und verbeugte mich erneut, diesmal tiefer. Als ich mich wieder aufrichtete, traf mein Blick auf den des Dakahns. Seine Augen waren noch immer von roten Äderchen durchzogen, die Pupillen geweitet, doch wenigstens war der matte Schimmer verschwunden.
Die Aufmerksamkeit aller lastete nach wie vor schwer auf mir. Sie ließ auch dann nicht von mir ab, als ich auf mein Pferd stieg und der Dakahn seines mit einem kräftigen Stoß seiner Hacken vorwärts trieb. Für einige Atemzüge war ich mir nicht sicher, was das zu bedeuten hatte - ob ich ihm folgen sollte oder nicht - bis Yarran sich umdrehte und mich mit einer beiläufigen Handbewegung zu sich winkte.
Ich schloss zu ihm auf, und dem Schnaufen der Pferde sowie dem Schnalzen der Männer hinter uns nach zu urteilen, setzte sich der restliche Tross ebenfalls in Bewegung. Wie erwartet hielten die Edlen Abstand zu Yarran und mir.
Nach einer Weile, in der wir schweigend nebeneinander hertrabten, lenkte der Dakahn sein Pferd näher an meines und raunte: »Warum, glaubst du, tun die Herunen es? Sie wissen, dass die Siedlungen südlich des Walls unter meinem Schutz stehen. Und doch greifen sie sie an. Was versprechen sie sich davon?«
Flüchtig spähte ich an ihm vorbei zum Nordwall, der sich rechts von uns durch die Steppe zog. »Es ist Euch bestimmt nicht entgangen, dass es Gerüchte gibt, in denen die Rede von einem anderen Blutkönig ist«, sagte ich bedächtig. »Ein weiterer Dakahn, der sich unter den Herunen erhoben hat.«
Yarran verzog keine Miene. Er sah mich nicht an, sondern hielt seinen Blick starr nach vorn gerichtet Aber seine Hände krampften sich um die Zügel.
»Ich bin mir sicher, dieser Emporkömmling kennt Euren Namen«, fuhr ich fort. »Er weiß, dass Ihr dasselbe Ziel verfolgt wie er, und dass nur einer von euch es erreichen kann.«
Langsam drehte der Dakahn seinen Kopf zu mir. »Ach ja? Und was für ein Ziel soll das sein?«
»Jenes, an dem so viele Dakahne vor Euch gescheitert sind: Die Vereinigung der Clans, Stämme und aller Nomaden, die seit dem Jahrhundertkrieg zersplittert sind. Die unangefochtene Herrschaft über die Steppe.«
Yarran warf einen raschen Blick hinter sich, wo die Edlen und der Rest seiner Männer in einigem Abstand hinter uns her trabten. Dann gruben sich seine Augen wieder in meine. »Du meinst also, er will mich herausfordern.«
»Oder er will Euch genau das glauben machen, um Euch zu einer unüberlegten Reaktion zu verleiten. Seid Ihr es nämlich, der zuerst zuschlägt, könnte er den anderen Clans dadurch vor Augen führen, dass es Euch nicht um Frieden, sondern um Eroberung geht. Bedenkt, dass die Bosek sehr genau verfolgen werden, wie Ihr Euch hier verhaltet. Wenn sie zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl haben, dass Ihr eine Bedrohung für sie darstellt, könnten sie sich gezwungen sehen, sich mit den Herunen zusammenzutun, um Euch die Stirn zu bieten. Das Resultat wäre eine endgültige Spaltung der Steppe.«
»Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Etwa stillhalten und zusehen, wie er sich über mich lustig macht, indem er meine Siedlungen angreift?«
»Es gibt andere Möglichkeiten, Eure Überlegenheit zu demonstrieren. Zum Beispiel könntet Ihr veranlassen, dass der Nordwall verstärkt oder patrouilliert wird. So oder so, es gilt, einen klaren Kopf zu bewahren. Ihr solltet nichts überstürzen, denn es könnte mehr dahinter stecken, als es den Anschein hat.«
Yarran beugte sich zu mir. »Weißt du wie sich all diese Vorschläge deines Meisters und dir in meinen Ohren oftmals anhören?«, knurrte er. »Wie die Pläne von Männern, die zu viel Zeit mit Grübeln und Zaudern verbringen. Die nach Schildern greifen, anstatt nach Pfeil und Bogen. Die sich wie Distriktler benehmen, nicht wie Steppenbewohner. Meine Edlen haben kein Verständnis dafür und mit jedem verstreichenden Tag schwindet auch meines.« Er trieb sein Pferd zum Galopp an, ohne meine Erwiderung abzuwarten.
~
Wir erreichten die überfallene Siedlung gegen Mittag. Fenris hatte nichts Auffälliges ausgemacht, weder zwischen den wenigen Häusern noch jenseits des Walls. Ein Hinterhalt war demnach unwahrscheinlich, doch die Stille, die uns von dort entgegenschlug, ließ mich wachsam bleiben.
»Sie haben kein Feuer verwendet«, murmelte der Dakahn. Kurz zuvor war er in einen Trab zurückgefallen und hatte es mir so ermöglicht, aufzuholen.
Die Siedlung wirkte in der Tat unversehrt. Die Häuser standen, abgesehen von eingetretenen Türen und wenigen eingeschlagenen Fenstern, unbeschadet. Wären da nicht die Toten zwischen den Gebäuden gewesen, hätte man meinen können, die Bewohner hätten sich von einem auf den anderen Tag einfach dazu entschlossen, sie zu verlassen.
***
Oh mann, eigentlich wollte ich schon viel weiter sein, aber es passiert gerade so viel in meinem Leben, ich habe leider kaum Zeit zum Schreiben 🫠 Ich dachte, anstatt euch noch eine Woche warten zu lassen, veröffentliche ich einfach mal, was ich bis jetzt geschrieben habe, bevor es ans Eingemachte geht 🙈
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