Tee...
Jemand rüttelte sanft an seiner Schulter. Er schlug die Augen auf und sah Markus vor sich.
„Na? Rausch ausgeschlafen?"
Der Alkohol hatte seinen Tribut verlangt. Klaas war auf der Liege eingeschlafen. Man hatte ihn in der Notaufnahme etwas abseits auf den Gang geschoben.
„Wo ist Lisa?"
„Sie ist oben auf der Intensivstation – bei deinem Vater."
„Oh Scheiße! Papa!"
Schlagartig war alles wieder da. Er versuchte, sich aufzusetzen. Sofort setzten brüllende Kopfschmerzen ein. Das Hämmern gegen seine Schläfen veranlasste ihn dazu, eine Hand über die Augen zu halten.
„Warte..."
Markus kramte in seinem Rucksack und holte eine Thermosflasche hervor.
„Ich habe Tee mitgebracht."
Er schenkte davon in die Verschlusskappe ein und reichte es ihm.
„Hier."
Gierig trank er davon.
Fenchel...
Die warme Flüssigkeit beruhigte seinen Magen.
„Wie geht es ihm?"
„Ach! Er hat riesiges Glück gehabt! Aus meiner Sicht ist er gar nicht intensivpflichtig und könnte auf Normalstation. Er ist längst wieder bei Bewusstsein und schikaniert das Pflegepersonal. Aber sie behalten ihn noch bis morgen zur Beobachtung da. Er ist noch intubiert."
„Intubiert? Was bedeutet das?"
„Er hat einen Beatmungsschlauch."
„Wie schrecklich!"
„Ach Klaas! Das ist halb so schlimm. Eigentlich kann der schon raus."
Markus grinste und zwinkerte ihn an. Er stutzte.
„Ich verstehe nicht..."
„Mit dem Tubus in der Luftröhre kann er im Moment nicht reden."
Wieder zwinkerte Markus. Klaas verstand gar nichts.
„Hä?"
„Er kann gerade nicht reden. Verstehst du? Aber er kann zu-hö-ren. Ich habe dem Chefarzt ein wenig von eurer Familie erzählt und davon überzeugt, dass Zuhören sehr wichtig für seine vollständige Genesung ist. Macht's jetzt langsam mal klick bei dir? Hier: Ich hab dir auch Kopfschmerztabletten mitgebracht."
Klaas sah seinen Exfreund mit großen Augen an. Der senkte daraufhin den Blick. Eine Welle der Zuneigung zu seinem Ex-Freund überflutete seine Brust.
„Danke."
„Ist schon gut. Red' mit ihm! Sie werden den Tubus maximal ein bis zwei weitere Stunden drin lassen. Er liegt bei dem Vater von diesem Model im Zimmer, mit dem ihr gekommen seit."
„Beim Schubert?"
„Genau."
„Wie geht's dem denn?"
„Darüber darf ich nicht reden, Klaas..."
„Ach komm schon!"
„Nein."
„Und Franka?"
„Das Model? Sie ist bei ihm."
Er sah in Markus' Augen. Er hatte vergessen, wie schön sie waren. Von fern wirkten sie braun und fügten sich harmonisch in sein nicht zu kantiges und von kastanienbraunen, kurzen Haaren umrahmtes Gesicht. Von Nahem erkannte man kleine gelbgrün eingesprenkelte Flecken in der Iris, die sich zur Mitte hin verdichteten und zu einem bernsteinfarbenen Ring um die Pupille herum verschmolzen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals – und von den Schläfen hin in sein Gesichtsfeld. Markus sah verlegen weg und offenbarte Klaas das Profil seines schlanken Halses.
Dann fixierte er ihn wieder.
„Rede mit ihm."
Er nahm seinen Rucksack und hängte ihn sich über die Schulter.
„Ich muss jetzt wieder hoch. Ich habe noch bis Mittag Schicht."
„Bis Mittag? Wie spät ist es?"
„Neun Uhr Morgens."
Klaas schluckte.
„Welcher Tag?"
„Zweiter Weihnachtsfeiertag. Hast dir schön deinen Rausch ausgeschlafen."
Markus grinste ihn über die Schulter an und schritt davon. Klaas versuchte aufzustehen und seinen Kram zusammen zu raffen. Vom Schlafen war seine Kleidung zerknittert und klebte an ihm. Umständlich rannte er hinterher.
Im Aufzug standen Markus und er nebeneinander. Klaas Gedanken rasten. Wie sollte er anfangen? Was würde er besser vermeiden? Bilder, Situationen mit seinem Vater blitzten in ihm auf: hässliche – und schöne. Was war, wenn Papa ihn verstieß, er ihn zu sehr aufregte? Seine Kopfhaut kribbelte. Er schwitzte. Er schluckte. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Die Kopfschmerzen hämmerten gegen seine Schläfen. Ihm wurde leicht schwindelig. Er stützte sich an der Aufzugwand ab.
„Ich ... ich kann das nicht!"
Markus sah in an. Die Aufzugtür öffnete sich. Und sie schloss sich wieder. Sein Exfreund machte einen Schritt auf ihn zu. Klaas Knie drohten erneut nachzugeben. Markus fing ihn halb auf, nahm ihn in die Arme. Das Gefühl von Geborgenheit, das ihm dabei entgegenschlug, löste etwas in Klaas. Tränen strömten über seine Wangen. Markus zog ihn hoch, so dass er Halt bekam. Der Aufzug fuhr wieder herunter.
„Ich hab' Angst..."
Markus legte die Hand auf seinen Kopf und drückte ihn an sich.
„Das ist okay."
Im Erdgeschoss stieg jemand ein und betätigte eine Taste. Klaas schaute nicht hin. Es war ihm egal. Er weinte. Er weinte, weil er Angst hatte, weil er wütend war, weil er schwul war, weil er anders war, weil er sich schämte, weil er sich nicht schämen sollte, weil er nicht mehr schweigen, nicht mehr lügen wollte, weil er seinen Papa manchmal hasste, weil er seinen Vater vermisste, weil Markus ihn hielt, weil er ihn immer noch liebte, weil er Hoffnung hatte, obwohl es Holger gab, weil er einsam war, weil er nicht hoffen sollte, weil alles zu viel war, weil er frei sein wollte, weil er endlich das sein wollte, was er war: Ein Mensch.
Klaas hielt inne, hob seinen Kopf aus Markus Schulterbeuge. Er hatte keine Ahnung, wie oft die Aufzugtüre wieder auf und zu gegangen war und in welchem Stockwerk sie sich befanden. Aber seine Tränen waren versiegt. Er stutzte über die Klarheit, die er auf einmal empfand. Er war ein Mensch. Es war genau das. Er sah Markus in die Augen:
„Lass uns hoch fahren!"
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