Steine
Merrit protestierte schon beim fünften Bier. Auf seinen Lippen und seiner Zunge stellte sich dieses taube Gefühl von der Wirkung des Alkohols ein. Doch leider war der Effekt nur körperlicher Natur. Die Gedanken waren alle noch da und lasteten auf ihm wie riesige Felsbrocken.
Findlinge.
Von eiskalten Gletschern in sein Leben gespülte Urzeitsteine mit hässlichen, grinsenden Fratzen, die da saßen und niemals verschwanden. Sie waren zu schwer. Schon oft hatte er überlegt, Deutschland und seine Familie hinter sich zu lassen und in New York oder San Francisco sein Glück als Zauberer zu versuchen und den Kontakt für immer abzubrechen. Er hatte es nie geschafft.
Er kehrte von der Krankenhaustoilette zurück, als das Mobiltelefon in seinem Jackett summte.
„Ja?"
„Oh Gott, Klaas! Etwas Schreckliches ist passiert! Hans ist schwer verletzt! Sie bringen ihn ins Krankenhaus!"
„Was?"
Mama war völlig aufgelöst am anderen Ende der Leitung.
„Ja! Die Decke! Oh Gott, die Decke! Es war so furchtbar!"
„Was für eine Decke, Mama?", lallte er.
„Die Wohnzimmerdecke! Sie ist herabgestürzt!"
„Ach du scheiße!"
„Hans hat mit einem Besenstil dagegen geklopft. Da ist es passiert."
Klaas versuchte sich mit aller Macht, gegen den immer stärker werdenden Biernebel in seinem Kopf zu konzentrieren.
„Warum hat er das gemacht?"
Es kam nur Schluchzen vom anderen Ende.
„Mama! Warum hat Papa das gemacht?"
„Ich hatte Angst, dass mit der Decke etwas passieren könnte. Nachdem du das so gesagt hattest."
Klaas legte seine Stirn auf den Bistrotisch. Er klopfte sie mehrmals dagegen.
„Und dann stellt man sich ... unter die Decke und testet, ob ... sie einstürzt? Seid ihr bescheuert?"
Mama heulte laut auf.
„Wir haben doch nicht gedacht, das etwas passiert!"
Fassungslos hielt er sich am Tisch fest.
„Mensch Mama..."
Sie heulte hemmungslos. Er versuchte zu denken.
„Wo kommt er hin?"
„Wie bitte?"
„In welches Krankenhaus? ... In welches wird Papa gebracht?"
„Sie fahren ihn auch in die Uni-Klinik."
„Okay!"
„Ich hab solche Angst, Klaas!"
Er setzte an, ihr etwas Ermutigendes zu entgegnen, schaffte es aber nicht. Die Furcht hatte ihn selbst gepackt.
„Ist ... Thomas bei dir?"
Er hatte zu schnell getrunken.
„Ja."
„Kann er dich fahren?"
Er hörte, wie auf der anderen Seite gesprochen wurde.
„Ja. Er hat einen Führerschein."
„Gut. ... Er soll dich fahren."
„Ist gut. Klaas?"
„Ja?"
„Bist du betrunken?"
Für einen Moment schwiegen sie beide. Wenn Klaas die Augen schloss, drehte sich alles.
„Sprichst du mit Lisa?"
Flackerndes Blaulicht erhellte die Ecke der Cafeteria, in der er stand, und verschwand wieder.
„Ja. Ich glaube ... da sind sie ... der Krankenwagen."
Nachdem er einige Minuten umhergeirrt war, fand Klaas die Notaufnahme im Untergeschoss der Uni-Klinik. Durch die Bewegung und die Aufgabe, seinen Vater zu finden, war er wieder etwas klarer im Kopf. Der Anfahrtsbereich, im Grunde ein Kreisel, war durch eine Glaswand abgetrennt und lag direkt neben der Anmeldung. Ein Sanitäter stand vor einem offen stehenden Rettungswagen und rauchte. Die Schiebetür öffnete sich automatisch.
„Hallo. Haben sie meinen Vater eingeliefert?"
Klaas bemühte sich, nicht zu schwanken.
„Weiß ich nicht. Wer ist denn ihr Vater?"
Er nannte seinen Namen und versuchte zu schildern, was geschehen war. Der Mann sah ihn abschätzig an und nickte.
„Lassen sie mich das hier nur schnell einräumen und zumachen."
An der Anmeldung sprach der Sanitäter mit einer der Schwestern. Dann verabschiedete er sich.
„Bitte nehmen sie im Wartebereich Platz. Ihr Vater wird gerade von den Ärzten im Schockraum versorgt. Im Moment können sie nicht zu ihm."
„Wie schlimm ... ist es denn?"
„Das können wir derzeit noch nicht sagen. Er hat eine Kopfverletzung und ist bewusstlos. Gegebenenfalls muss er operiert werden. Sie schieben ihn gleich ins CT."
Eine OP? Mein Papa?
Klaas Knie gaben nach. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Kurz darauf öffnete er sie wieder und sah ein sich drehendes Karussell aus drei Gesichtern in blauer Krankenhauskleidung über sich.
„Hallo! Können Sie mich hören?"
„Ich muss kotzen."
Panisch versuchte er zu schlucken und es zurückzuhalten. Eines der Gesichter packte unter seinen Rücken und zog ihn hoch. Dann gab es kein Halten mehr. Irgendjemand hatte von irgendwoher eine Pappschale herbei gezaubert und hielt sie unter seinen Mund. Ein Großteil der Sauerei landete darin.
„Der hat ja gesoffen! Boah!"
Eine Schwester drehte sich angewidert um. Die volle Schale wurde durch eine zweite ersetzt und er übergab sich weiter. Eine dritte benötigte er zum Glück nicht. Ein Pfleger reichte ihm eine Hand voll Papiertücher. Langsam wurde sein Kopf wieder klarer. Klaas wurde überwältigt von Scham. Diese Menschen könnten in diesem Augenblick seinem Vater helfen. Anstatt dessen kübelte er ihnen die Kittel voll.
„Tut mir leid..."
„Ist schon gut", sagte der Pfleger, der ihn stützte, „Wir haben alle mal einen schlechten Tag."
„Aber die ganze Arbeit ... die ich ihnen mache."
„Ja, ja. Sie haben ja gut gezielt. Ist kaum was daneben gegangen."
„Können sie meine Schwester rufen? Sie ist auch hier."
„Natalie, kannst Du mal im Wartebereich schauen?"
Die junge Krankenschwester lief los.
„Nein ... auf der Intensiv."
Sie hielten inne und schauten ihn verständnislos an. Er brauchte einen Moment, bis er verstand.
„Als Besucherin."
„Ach so. Wie heißt sie denn?", fragte die Schwester.
„Lisa Reimann."
„Und auf welcher Intensiv ist sie?"
„Chirurgische."
Klaas musste alle Kraft aufbringen, sich zu konzentrieren.
„Fragen sie Markus, Markus Winter. Er ist Pfleger dort. Er kennt unsere Familie."
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