Gender-Krippe
Sein Magen drohte zu rebellieren. Die Treppe vom Parkplatz hinauf zum Kirchplatz der evangelischen Kirche war gesäumt mit Gesichtern, die ihm zunickten. Es gab definitiv Menschen, denen er heute nicht begegnen wollte – nicht in Gegenwart seiner Eltern. Nervös blickte er zur Seite und sah Lisas prüfenden Blick. Er wich ihr aus und lief schneller. Er sehnte sich nach einer Kirchenbank hinter einer der Säulen.
„Klaas! Warum rennst Du so?"
Er antwortete nicht. Er lief weiter.
„Ach Mama. Klaas fühlt sich nicht wohl."
„Warum? Ist ihm schlecht?"
„Nein. Er fühlt sich hier unter den Menschen nicht wohl..."
„Was? Was ist mit denn falsch mit..."
Die weiteren Worte verschwanden hinter den Kirchenmauern. Zielstrebig lief er zu der linken, vorderen Säule und setzte sich auf der dem Altar abgewandten Seite in das Seitenschiff. Dieser Platz war frei. Es wollte ihn auch keiner haben. Klaas lehnte sich nach hinten, schaute um die Säule herum und sah seine Familie. Sie suchten ihn. Er winkte ihnen zu. Sie entdeckten ihn nicht. Anstatt dessen sah er in ein ihm wohlbekanntes Augenpaar. Klaas beugte sich schnell vor.
Mist! Ausgerechnet Markus!
Vorsichtig lehnte er sich wieder zurück und hoffte, dass er ihn nicht bemerkt haben möge. Er hoffte vergebens. Markus winkte energisch und schien über beide Wangen zu strahlen.
Lieber Gott! Hättest Du mich nicht mit Susi oder Alexander strafen können?
Markus zeigte Mama, wo er saß. Endlich sah auch sie ihn. Markus gab Papa die Hand, der sie mit versteinertem Gesicht schüttelte. Sie kamen in seinem Schlepptau zu der Säule herüber, hinter der er sich verschanzt hatte.
Mir bleibt aber auch gar nichts erspart!
„Hallo Klaas! Gut schaust Du aus!"
Klaas Mundwinkel zuckten kurz.
„Bleibst Du bis Silvester?"
„Mensch Klaas! Was sollen wir hinter der Säule?"
Er wusste nicht, ob er zuerst Markus oder seiner Schwester antworten sollte. Ein anderer Mann erschien an Markus' Seite. Ihre Augen trafen sich: Misstrauen. Der Neuankömmling suchte Markus' Hand.
„Ah, ja! Das hier ist Holger! Er macht gerade sein praktisches Jahr in Medizin an der Uni-Klinik. Wir haben uns auf der Intensiv kennen gelernt. Holger das ist Klaas mit seiner Familie. Du weißt schon Klaas..."
Ihm stellten sich die Nackenhaare auf.
„Ich möchte hinter der Säule bleiben. Schließlich ist Weihnachten."
Markus' schaute verlegen. Er hatte ihm das Wort abgeschnitten.
„Was hat das mit Weihnachten zu tun?", schimpfte Lisa.
„Es ist ein Geschenk."
„Warum zur Hölle ist das ein Geschenk."
„Lisa! Wir sind in einer Kirche!"
„Das ist mir Schnurz, Mama! Ich will nicht hinter der Säule sitzen! Was soll das für ein beklopptes Geschenk sein?"
Klaas drehte sich wieder zu Markus und Holger um, stellte aber fest, dass sie verschwunden waren. Ihm war hundeelend.
„Ein Geschenk an diejenigen, die sonst hier gesessen hätten. Die bekommen jetzt bessere Plätze."
„Was redest Du für einen Scheiß?"
„Lisa!!!"
Die angesprochene ließ sich wütend auf die Kirchenbank fallen. Papa versuchte, sich links neben ihr nieder zu lassen. Lisa aber verhinderte das und schob ihn auf die Seite rechts von ihr, zwischen sich und Klaas. Thomas stand ein wenig unbeholfen herum.
„Setz Dich hierhin!", befahl Lisa ihrem Freund.
Er öffnete den Mund.
„Mach schon!"
Er schloss ihn wieder, zuckte mit den Schultern und setzte sich links von ihr hin.
„Rutsch mal Hans!"
Mama quetschte sich zwischen Lisa und Papa. Klaas selbst hatte kaum Platz inmitten von Papa und der Säule. Papa beugte sich zu ihm hinüber.
„Was wollte denn diese Schwuchtel von Dir?"
Der anderen Schwuchtel ihren Exfreund vorstellen?
„Er wollte uns sicher nur frohe Feiertage wünschen."
„Hans! Jetzt auch noch Du! Erst wird Lisa ausfällig! Und jetzt redest Du auch noch abfällig über eine Minderheit! Und das am heiligen Abend! Dass ihr euch nicht schämt!?"
„Ich mag keine Schwuchteln!"
„Hans!!!"
„Papa!!!"
„Wieso? Gott hat bestimmt keine Schwuchteln in seiner Welt gewollt! Zum Kindermachen braucht man Mann und Frau! Schwule? Das finde ich unanständig an Heiligabend in der Kirche!"
„Schhht!"
„Ach was ‚scht'! Nachher haben wir am End' noch eine Schwulenkrippe mit Josef und Marius!"
„Schhhhhht! Hans! Bitte!"
„Ich lass mir doch nicht den Mund verbieten!"
„Papa! Bitte! Red' doch nicht so laut!"
„Nein! Das ist meine Meinung! Die sollen ruhig alle hören! Und jetzt..."
„Hans! Halt den Mund!"
„...haben wir neuerdings auch noch einen schwulen leitenden Direktor!"
Mama hielt sich mit aufgerissenen Augen die Hand vor den Mund.
„Guten Abend Herr Reimann..."
Papa drehte sich um und erblasste.
„Guten Abend, Herr Lüdeck."
Bei Herrn Lüdeck handelte es sich um den zuvor genannten leitenden Direktor, dem Leiter des Ordnungsamtes. Es war das eine, dass dieser bekennend schwul war. Das andere: Er war Papas Chef.
„Darf ich ihnen meinen Ehemann vorstellen?"
Papa starrte mit offenem Mund auf einen Herrn im Anzug neben seinem Chef.
„Helmut, das ist Hans Reimann, ein Kollege vom Amt. Herr Reimann ist für alles rund ums Angeln verantwortlich, korrekt?"
„Ja, Herr Direktor."
„Gut! Dann erinnere ich das richtig. Herr Reimann, das ist Helmut, mein Mann."
Helmut hielt Papa die Hand hin. Papa schwitzte. Abwesend ergriff er Helmuts Hand.
„Möchten sie uns nicht ihre Familie vorstellen?"
Papa schluckte. Mama rüttelte an seinem Arm.
„Ja! Bestimmt willst du dem Herrn Di-rek-tor deine Familie vorstellen! Nicht wahr?"
„Au!"
„Und?"
„Äh. Ja. Das ist meine Frau Hannah, meine Tochter Lisa mit ihrem Freund Thomas. Und das..."
Kumpelhaft packte er um Klaas' Schulter.
„...ist mein Sohn Klaas. Er wird bald studieren."
„Papa!"
„Er weiß nur noch nicht was."
„Papa! Ich bin Zauberer!"
Helmut verkniff sich ganz offensichtlich das Lachen.
„Ein Hobby, ein Hobby..."
„Das ist mein Beruf!"
Lüdeck lächelte warm. Und schüttelte allen nacheinander die Hand. Zuletzt nickte er Klaas zu.
„Zauberkünstler, das ist ein wundervoller Beruf, finde ich."
Klaas Blick schwenkte zu seinem Vater.
„Jaaa. Das finde ich auch!"
Helmut verschluckte ein Schnauben und wandte sich ab. Lüdeck griff seinem Mann an die Schulter.
„Papa hatte eine gute Idee, Herr Lüdeck!"
Die Augen aller lagen auf Lisa.
„Er hat vorgeschlagen, mann könnte an Heilig Abend auch mal eine Gender-Krippe gestalten – mit einem Josef und einem Marius."
Klaas hielt die Luft an. Papa wurde schlagartig rot im Gesicht. Mama sah nur noch zu Boden. Thomas wirkte betreten und trat von einem Bein aufs andere.
„Natürlich müsste es eine zweite Krippe geben mit Josefine und Maria."
„Eine gute Idee!"
„...äh..."
Lüdeck schien das Spiel mitzuspielen und zwinkerte ihr zu. Dann aber sah er hinüber zum Altar.
„Ich glaube, Pfarrer Hagedorn möchte anfangen."
Sie wandten sich wieder nach vorne. Lüdeck beugte sich noch einmal zu Papa vor.
„Aber: Gute Idee Hans! Ich werde Pfarrer Hagedorn darauf ansprechen. Wir verstehen uns ganz gut. Er hat Helmut und mich getraut. Und ich bin ja auch im Kirchenvorstand..."
Papa riss die Augen auf. Klaas biss sich auf die Zunge, um nicht loszulachen.
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