Caprese
Das Lachen war ihnen allen im Halse stecken geblieben. Mama hatte zu weinen angefangen. „Könnt ihr euch nicht wenigstens am heiligen Abend einmal zusammenreißen?", hatte sie geschluchzt.
„Hannah, hör auf zu heulen! Die Leute schauen schon!"
Mehr fiel Hans nicht ein, um seine Frau zu trösten. Die Tränen zeichneten mit Mascara die Form ihrer Wangen in langen, fast senkrechten Linien nach.
Sie weinte bis zu dem Moment, an dem sie sich im Gottesdienst einander zuwandten, um sich frohe Weihnachten zu wünschen. Erst dann beruhigte sie sich. „Du wirst noch Deine Position im Amt verlieren!", hatte sie auf der Fahrt nach Hause geschimpft. „Wir leben doch im 21. Jahrhundert!", wetterte sie, „Von Deiner Karriere ganz zu schweigen! So wird das nie was mit A12! Das wäre mal ganz schön für unsere Haushaltskasse. Aber Dir fällt nix besseres ein, als uns vorm leitenden Direktor bis auf die Knochen zu blamieren!"
„Aber ich finde das unnatürlich! Das ist doch in der Natur nicht vorgesehen! Habt ihr schon mal ein schwules Tier gesehen?"
„Ja."
Papa fuhr herum.
„Sie auf die Straße, Hans!"
„Ich habe mal gesehen, wie's zwei Kühe miteinander getrieben haben – auf einer Weide im Odenwald."
Das war Thomas.
„So ein Unsinn! Das glaube ich nicht!"
„Doch! Ich habe das auch in der Geo gelesen! Warten sie, ich hatte das ge-bookmarked..."
Ab sofort hatte Thomas bei Klaas ein Stein im Brett.
„Das sind bestimmt Fake-News!"
Schlagartig saß Lisa aufrecht im Autositz.
„Ja klar Papa! In der Geo stehen Fake-News! Jetzt wird's ja noch besser!"
„Heute gibt es doch überall Fake-News! Das musst Du Deinem kleinen Freund mal verklickern."
„Papa! Spinnst Du?"
„Aua!"
Mama hatte ihn gegen die Schulter geboxt. Das Auto wackelte kurz.
„Wartet..."
Thomas suchte angestrengt in seinem Smartphone.
„Das ist kein Grund, mich zu misshandeln!"
„Pah!"
„Hier hab' ich's! ‚Homosexualität im Tierreich – Affen tun es, Libellen tun es, ja sogar Elefanten und Giraffen'."
„Libellen? Das ist doch lächerlich!"
„Die haben das wissenschaftlich untersucht!"
Thomas las vor. Immer wieder wurde er von Kommentaren, wie „Das ist doch abstrus!", „Löwenmännchen! Da siehst Du's!", „Das ist ja pervers!", oder „Lesbische Störche? Ich kann nicht mehr!", unterbrochen. Die Diskussion setzte sich bis ins Esszimmer fort. Nachdem Papa sich erst rege beteiligt hatte, schwieg er jetzt vor sich hin. Nach und nach verebbten die Kommentare von Thomas, Lisa und Klaas, je finsterer Papa dreinblickte. Als Mama schnaufend mit einer riesigen Servierplatte Caprese aus der Küche kam und sie mit Klaas' und Thomas' Hilfe auf dem Tisch abstellte, herrschte eisige Stille. Sie nahm Platz und sah fragend in die Runde. Sie setzte zum Sprechen an, wurde aber von Papa unterbrochen:
„Wo ist der Kartoffelsalat?"
Mama öffnete und schloss ihren Mund mehrmals, brachte aber keinen Ton heraus. Klaas sprang ihr bei:
„Sie wollte halt mal was Neues ausprobieren."
„Sie kann das ganze Jahr ihr ‚Nufi Quisini' ausprobieren. An Heiligabend gab's immer Kartoffelsalat mit Wiener. Das ist Tradition!"
„Nouvelle Cuisine...", korrigierte Lisa, „Warum nicht auch an Heiligabend? Man kann auch das ganze Jahr über Kartoffelsalat essen."
„‚Nufi Quisini' oder ‚Nufelli Quisini'! Ist mir doch egal! Sie hat schon seit Wochen nur noch dieses moderne Zeug gekocht! Indisch oder Falschaffe..."
„Falafel!", korrigierte ihn Mama scharf.
„...Falschaffe. Sag ich doch. Wenigstens an Weihnachten kann sie doch mal was normales kochen!"
„Sie sitzt mit am Tisch! Hier neben Dir! Ist dir das bewusst?", entgegnete Mama mit Eiseskälte in ihrer Stimme.
„Wirklich? Mit dem ‚Nufi Quisini', ist das meine Frau?"
Mamas Faust knallte auf den Tisch und ließ das Besteck auf den Tellern scheppern. Lisa, Thomas und Klaas hatten die Köpfe gesenkt. Papa sah stur geradeaus. Dann gab es einen dumpfen Schlag und etwas, dass sich wie das ferne Klirren von Glas anhörte. Alle sahen nach oben.
„Was macht denn der Schuster an Heiligabend? Da wohnt doch immer noch der Herr Schuster, oder?", fragte Klaas.
„Ach der", sagte Papa, „der wird immer merkwürdiger. Der feiert schon seit ein paar Jahren kein Weihnachten mehr. Ich glaube, er hatte sich mit seinem Sohn zerstritten."
„Das ist aber traurig", sagte Lisa, „wollen wir bei ihm klingeln und ihn zu uns einladen?"
„Siehst Du! Die Kinder wären offen für sowas!"
„Nee, nee, auf keinen Fall! Das wär' ja noch schöner, den Typen hier an Heiligabend zu ertragen. Mir reicht schon der Pizzasalat!"
„Caprese!"
„Ha! Kap Esel! Morgen gibt's Kap Hoorn oder was?"
„Es heißt Caprese!"
„Schwules Zeug!"
„Hans!!!"
„Papa!!!"
„Ist doch so!"
Klaas stand auf.
„Das Kap der guten Hoffnung ist jedenfalls Lichtjahre entfernt."
„Wo willst Du denn hin?", fragte Mama.
„Nirgendwohin. Ich will den Caprese verteilen."
Nacheinander reichte man ihm die Teller. Besteck klapperte und klickte auf der Vorlegeplatte und auf dem Porzellan in die Stille hinein.
„Wenigstens haben wir hier eine schwulenfreie Zone an Heiligabend."
Mama lies ihr Besteck auf den Teller fallen.
„Hans! Du bist so was von unerträglich blöd!"
Mama schaute Klaas für einen Sekundenbruchteil an und sah sofort wieder weg. Er war wie vom Donner gerührt. Seine Augen hefteten sich an Lisas. Sie wich seinem Blick aus. Hatte sie es Mama verraten? Seine Magengrube gefror zu Eis. Sie hatte ihn verraten. Er schluckte. Vater hielt ihm den Teller hin. Wortlos gab er ihm auf. Dann ließ er sich auf seinen Stuhl sinken. Er folgte dem Gesprochenen der anderen nicht mehr. Die Geräusche, das Licht, seine Gefühle kamen wie durch Watte in seiner Seele an. Mechanisch, ohne es zu schmecken, aß er den Caprese. Lisa berührte ihn am Arm. Er erwiderte die Geste, in dem er sie ansah. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und sah wieder auf ihren Teller.
„Möchte noch jemand?", fragte Thomas in die Runde. Keiner antwortete. „Dann würde ich mir noch nehmen..."
Mutter nickte ihm zu. Er griff nach dem Vorlegebesteck – und stutzte:
„Die Soße war eben aber noch nicht rot..."
Lisa fing an zu schreien. Der Mozzarella war mit roten Flecken gesprenkelt. Sie sprang auf und rannte aus dem Esszimmer; Thomas würgte und folgte ihr. Klaas sah hoch. Ein rotes Rinnsal lief von der Decke her langsam über die Lampe und tropfte alle paar Sekunden ins Essen. Am kugelförmigen Körper des weißen Lampenschirms sah es aus wie Geschenkband, das jemand sorgfältig drum herum gebunden hatte.
„Das ist Blut!"
Nun schrie auch Mama auf, rutschte panisch mit ihrem Stuhl nach hinten und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Erzähl keinen Scheiß! Warum soll Blut aus der Decke laufen?"
Papa und Klaas sahen sich an. Dann sprangen sie gleichzeitig auf.
„Der Schuster!"
Gemeinsam stürmten sie aus dem Esszimmer zur Wohnungstür. Thomas stand an der offenen Toilette übers Klo gebeugt und übergab sich aus Leibeskräften. Lisa war nirgends zu sehen.
„Lisa! Komm schnell! Das ist der bestimmt der Schuster von oben! Der blutet!", schrie Klaas durch den Flur.
Papa und Klaas rannten die Treppe rauf und hämmerten gegen Schusters Tür.
„He! Schuster! Sind sie verletzt?", rief Papa.
Klaas fummelte an seiner Hosentasche, um sein Handy daraus hervor zu befördern. Die Tür von Krauses, den Nachbarn auf demselben Stockwerk, wurde geöffnet. Eine ältere Frau schaute heraus. Klaas kannte sie nicht.
„Was ist denn das für ein Lärm am heiligen Abend?"
„Der Schuster hat sich vielleicht verletzt! Das Blut tropft bei uns unten von der Decke!"
„Was?"
Erschrocken riss sie die Augen auf. Dann schloss sie knallend die Tür.
„Na die ist ja eine Hilfe!"
Klaas tippte die Nummer des Notrufs in sein Mobiltelefon. Von unten kam jetzt Lisa dazu. Sie war kreidebleich und hielt sich am Geländer fest. Wieder hämmerte Papa gegen die Tür.
„Schuster! Geht es Ihnen gut?"
„Der wird dich nicht rein lassen, Papa, wenn er am Verbluten ist", stellte Klaas fest.
Die Nachbarstür öffnete sich wieder. Herr Krause kam heraus.
„Was genau ist hier los?"
Er sah in die Runde.
„Meine Schwiegermutter sagte da eben so etwas merkwürdiges, das Blut von der Decke tropft?"
„Wir glauben, dass der Schuster sich verletzt hat!"
Von unten rief Mama: „Es tropft immer weiter!"
„Ja? Ist da der Notruf? Ja. Hallo. Wir glauben, hier verblutet jemand ... ja?"
In kurzen Sätzen erläuterte Klaas die Situation dem Mann von der Feuerwehrleitstelle. Er nannte seinen Namen und die Adresse. Wegen der Türöffnung würde auch Polizei kommen. Krause lief zu Mama und Thomas hinunter, um sich die Sache von dort zu betrachten. Sekunden später kam er deutlich schneller herauf gerannt.
„Bis die da sind, verblutet der da drinne!"
„Geht mal zur Seite!"
Krause und Klaas taten, wie ihnen geheißen. Papa positionierte sich auf etwa einen Meter Abstand. Dann trat er kräftig gegen die Altbautür. Sofort sprang sie auf. Krause, Klaas und Papa stürzten hinein.
„Lisa! Hol den Notfallkasten aus dem Auto!"
Doch in diesem Moment kam Thomas die Treppe rauf und folgte ihnen in Herrn Schusters Wohnung. Er war noch immer weiß wie Papier, schien sich aber wieder unter Kontrolle zu haben. Und er hatte Mullbinden und Kompressen dabei.
„Ich habe eure Mutter nach Verbandsmaterial gefragt. Sie hat mir das hier gegeben."
Schuster lag im Wohnzimmer bewusstlos neben seiner Leiter in einer Blutlache. Klaas Blick fiel auf einen Schraubenzieher und eine Schachtel, auf der eine Glühbirne abgebildet war.
„Das Blut nicht anfassen!", schrie Klaas, „Das ist gut Thomas! Holt trotzdem schnell den Verbandskasten aus dem Auto. Da sind auch Handschuhe. Schnell!"
Er rannte los. Klaas stürmte in Schusters Bad, um Handtücher zu holen. Zurückgekommen stellte er fest, dass Papa seinen Rat ignoriert hatte und neben dem Verletzten im Blut kniete. Sie hörten ein Martinshorn. Er hatte ihn auf den Rücken gedreht. Eine lange Glasscherbe, die scheinbar zuvor Teil der Deckenlampe war, steckte in Schusters Hals. Das Blut quoll langsam pulsierend aus der Wunde hervor.
„Lass um Gottes willen die Scherbe da drin stecken! Wenn du die raus ziehst, verschlimmerst du's womöglich noch!"
„Aber was machen wir jetzt?", fragte Krause verzweifelt.
Sie hörten, wie es im Stockwerk tiefer schellte.
„Das ist der Rettungsdienst!"
Klaas stürzte zur Wohnungstür, fand die Gegensprechanlage, nahm den Hörer und schrie: „Im zweiten Stock! Schnell!" Dann betätigte er den Türsummer, rannte zurück. Papa hatte die Glasscherbe heraus gezogen und hielt seine Hand auf die Wunde gepresst.
„Sonst verblutet er!"
„Aber Papa! Was ist, wenn Du die Halsschlagader jetzt zerfetzt hast?"
„Ich habe sie ganz gerade heraus gezogen!"
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Der Artikel aus der Geo: Homosexualität im Tierreich
https://www.geo.de/natur/tierwelt/13372-rtkl-homosexualitaet-im-tierreich
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