Amygdala
Vor der Krankenhaustreppe tigerte er auf und ab. Wind fegte unaufhörlich durch die Häuserschlucht. Doch die eisige Winterluft vermochte seine Wut nicht zu beruhigen. Seine Fingernägel bohrten sich in seine Handflächen. Er machte auf dem Absatz kehrt für die nächste Runde.
„Fuck!"
Vermasselt hab' ich's, ich Idiot!
„Fuck! Fuck! Fuck!"
„Wenn du kämpfen willst, wirst du einen Kampf erhalten."
Abrupt blieb er stehen. Franka stand oben auf dem Treppenabsatz. Ihr Feuerzeug klickte mehrmals, bis der eisige Wind kleine Wölkchen zerstieb. Sie hielt ihm die Packung entgegen.
„Nein, danke. Ich rauche nicht."
Sie zuckte mit den Schultern, steckte die Schachtel ein und kam die wenigen Stufen herunter.
„Komm. Wir gehen ein Stück."
Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich.
„Sonst erfriere ich hier und du hinterlässt einen hässlichen, roten Fleck, wenn du gleich platzt."
Eine Rauchschwade waberte ihm ins Gesicht. Er öffnete den Mund, um zu protestieren. Franka kam ihm zuvor:
„Weißt du, was sie in den Trümmern von der Decke gefunden haben?"
„Nein?"
„Eine Kiste."
Wenn Franka vorgehabt hatte, ihn abzulenken, dann gelang ihr das.
„Echt jetzt? Krass! Was war drin?"
„Sie war so gut wie leer. Es lag nur so 'ne Kupfermünze und ein vergilbter Zettel drin. Sah ziemlich alt aus. Deine Mama will sie zu 'nem Spezialisten bringen, um zu schauen, ob sie was wert ist. Aber ich glaube, das ist vergebene Liebesmüh."
„Hm, Schade. Was stand denn auf dem Zettel?"
„Der war so verrottet und ausgeblichen, dass man nichts mehr erkennen konnte."
„So ein Mist!"
„Ja, stimmt. Allerdings erklärt das Versteck zumindest, wie das Blut den Weg durch die Decke gefunden hat. Unter dem Putz war sie hohl, um Platz für diese Schachtel zu schaffen! Da hatte es freie Bahn."
„Und ist dann am Kabel herunter gelaufen."
„Genau!"
„Trotzdem krass! Dein Vater muss echt viel Blut verloren haben!"
„Hat er auch. Der Handwerker meinte, dass es das Blut war, was dem Putz den Rest gegeben hat, so dass ein, zwei Klopfer mit dem Besenstil gereicht haben, dass die Decke runter gekommen ist. Ich habe die Ärztin gefragt, was sie schätzt, wie viel Blut er verloren hat. Sie glaubt, dass es bis zu zwei Liter gewesen sein könnten."
Klaas lief es kalt den Rücken hinunter.
„Ist echt ein Wunder, dass er noch lebt!"
„Ja! Ist es! Er hatte riesiges Glück, dass ihr so schnell reagiert habt."
Für einen Moment liefen sie schweigend nebeneinander her.
„Was glaubst du macht ein Mensch, wenn du ihn angreifst?"
Klaas hatte keine Lust, zu antworten. Denn er verstand genau, worauf sie hinaus wollte.
„Hast du eigentlich eine Vorstellung, was im Gehirn geschieht, wenn jemand wütend wird?"
Widerwillig ließ er sich von ihr weiter ziehen – und schwieg.
„Eine rhetorische Frage! Wenn du die Antwort vorher gekannt hättest, wäre dein Auftritt eben anders verlaufen."
Die Ironie in ihrer Stimme reizte ihn.
„Willst du mir jetzt etwa erzählen, dass das alles meine Schuld ist?"
Sie lachte auf.
„Was ist den ‚das alles'? Dass du schwul bist? Dass dein Ex-Freund einen anderen hat, ihr euch aber anschmachtet, als wärt ihr schwer verdauliche Schokotorten? Dass Weihnachten bei uns allen ausgefallen ist? Oder dass du wie ein Hornochse in ein Krankenhauszimmer der Intensivstation gestürmt bist und dich zum Narren gemacht hast?"
Franka machte eine viel zu kurze Pause für eine Antwort seinerseits.
„Ich sag's dir! Für's Schwulsein kannst du nichts. Dass die Pfleger-Schnitte einen anderen hat? ... Kann ich nicht beurteilen. Weihnachten? Bei bestem Willen nicht! Sich wie ein Hornochse aufführen? Aber sicher doch! Das hast ganz alleine du verbockt!"
„Aber..."
„Nix aber!"
Sie knuffte ihn in die Rippen.
„Und das, nachdem du dich besoffen in die Notaufnahme gelegt hast!"
Es verschlug ihm die Sprache. Er fühlte sich schuldig.
„Du bist schon ‚ne Nummer..."
Am unteren Ende des Gebäudekomplexes, der den Innenhof des Krankenhauses umschloss angekommen, bogen sie nach links ab. Der Weg öffnete sich zu einem kleinen Park hin.
„Also nochmal: Wenn du kämpfen willst, wirst du Kampf erhalten. Wenn du anstatt dessen verstanden werden möchtest, brauchst du Verständnis für dein Gegenüber."
„Aber er hört nie zu!"
„So war er schon immer, der Hans!"
Bäume säumten den Weg, der sich den Berg hinab schlängelte. Weiter hinten sahen sie Parkbänke, die einen atemberaubenden Blick über die Stadt gestatteten.
„Hast du dir einmal überlegt, dass manche Menschen andere nicht ausreden lassen, weil sie Angst vor dem haben, was sie zu hören bekommen? Ich glaube zum Beispiel, Menschen, die gerne die Kontrolle über alles haben, machen das. Das sind in gewissem Sinne besonders unsichere Menschen. Wenn sie etwas nicht vorhersehen können, treibt sie das in den Wahnsinn."
„So wie Hans..."
„Genau!"
Sie setzten sich. Franka steckte sich eine weitere Zigarette an und zog intensiv daran. Ihr Lippenstift hinterließ erdrote Abdrücke auf dem Filter.
„Frau sein steht Dir."
„Danke!"
„Wie geht es dir damit?"
„Fantastisch! Sieht man das nicht?"
„Doch. Jetzt, wo du es sagst: Eigentlich schon. Wie hast du es deinem Vater erzählt? ... Und wie hat er es aufgenommen?"
„Ach im Grunde hat er es gewusst."
„Echt?"
„Ja. Ich hab mich schon als Mädchen verkleidet, seit ich im Kindergarten war. Ich kann mich zwar erinnern, wie er zu Mama Sätze gesagt hat, wie ‚Der Franz ist ein Junge! Jetzt soll er sich verdammt noch mal auch wie einer verhalten!'. Aber Mama hatte selbst mit Spaß daran, wenn ich mich verkleidet hab. Sie fand das gar nicht schlimm. Wir waren spitze darin, uns gemeinsam die Fingernägel zu lackieren. Wir sind sogar regelmäßig in einen Laden für Kostüme und haben Sachen gekauft. Und so hab' ich mich zu Hause so gut wie immer verkleidet. Es wurde mehr oder weniger ‚normal' für uns zu Hause. Im Kindergarten und in der Schule war das anders. Das war schlimm. Einmal hat eine Mutter in meiner Anwesenheit ihre Tochter von mir weggezogen und gesagt: ‚Mit dem spielst du nicht. Der ist nicht ganz richtig'. Andere Eltern wollten ihre Kinder nicht in meiner Gruppe haben. Besonders schlimm wurde es, als ich in die Schule gekommen bin. Mama und Papa meinten, dass es von da an besser wäre, wenn ich mich nicht als Mädchen zeige. Sie haben das nicht böse gemeint. Da bin ich mir sicher. Sie wollten mich nur schützen, glaube ich. Aber ich habe es gehasst. Ich habe die Mädchen gehasst, die mich wie einen Jungen behandelt haben. Ich habe die Jungen gehasst, die mich gehänselt haben, weil ich anders war. Und ich habe den Sportunterricht gehasst, weil ich mich in der Jungenumkleide umziehen musste – genauso wie die Jungentoiletten. Mit zehn war ich drauf und dran, allem ein Ende zu setzen."
„Ähm ... wie meinst Du das?"
„Ich hatte mir aus der Werkstatt meines Vaters einen Draht genommen und mir eine Schlinge gemacht. Die hatte ich im Treppenhaus aufgehängt."
Klaas schluckte. Diese Geschichte wurde ihm jetzt eindeutig zu konkret. Franka schien dies nicht zu bemerken.
„Aber mir hat der Mut gefehlt – zum Glück."
Sie hielt inne und zog an der herunter gerauchten Zigarettenkippe, warf sie auf den Boden und trat sie mit dem Absatz ihres Stiefels aus.
„Dann kam alles anders..."
Sie schlug die Beine übereinander, zog ihren Mantel eng um sich zusammen und sah in die Ferne. Die Leichtigkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden. Klaas wurde nervös. Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, dessen Inhalt und Tiefe ihm zu persönlich erschien.
„Dann wurde meine Mutter krank."
Sie sah ihn an.
„Es war Brustkrebs. Alles andere daneben wurde unwichtig. Zuerst kam die OP, dann die Chemo. Aber der Krebs hatte schon gestreut und man hat Metastasen in der Lunge, in der Gebärmutter und im Knie gefunden. Es gab unzählige Operationen. Mama und Papa sind von Klinik zu Klinik gepilgert. Sie haben auch den einen oder anderen Quacksalber Hand auflegen lassen. Sie haben viel Geld ausgegeben. Alles haben sie versucht."
Sie sah hinab.
„Damals bin ich quasi vom Radar meines Vaters verschwunden. Mama war oft nicht da. In dieser Zeit habe ich aufgehört, mich zu verkleiden. Es war ja niemand da, der mich sehen konnte. Erst viel später begriff ich, dass ich mich selbst hätte sehen können."
Frankas Augen suchten wieder die Ferne. Sie glänzten.
„Im Grunde habe ich mich verschwinden lassen."
Klaas versuchte, etwas zu sagen. Aber sie wehrte ab.
„Ist schon gut. Hör einfach zu."
Sie brauchte einen Augenblick, bevor sie weiter sprach:
„Ich war dreizehn, als Mama starb. Am Tag nach der Beerdigung stand ich morgens auf und lief in Mamas und Papas Schlafzimmer. Papa war schon aufgestanden und war unten in der Küche. Ich weiß noch, wie sich die Dupionseide von Mamas schwarzem Abendkleid angefühlt hat. Sie hatte dazu eine weiße Federboa mit ganz langen, filigranen Federn und einen samtenen, schwarzen Cloche mit einer weißen Schleife. Im Schminktisch fand ich ihre Wimpern-Extensions. Ich machte mich fein, so wie Mama sich zu besonderen Anlässen fein gemacht hatte. Zuletzt versuchte ich mir, ihre Stöckelschuhe anzuziehen. Aber meine Füße waren schon zu groß. Mit aller Gewalt habe ich versucht, meine Füße da rein zu quetschen. Vor Wut habe ich zu Heulen angefangen. Mascara hat sich quer über das Make-up verteilt. Die Schuhe habe ich gegen den Spielgel des Schminktisches geworfen. Das Glas ist zerbrochen. Dann kam Papa. In diesem Moment hatte ich schreckliche Angst vor ihm. Ich hatte mich hergemacht wie seine Frau, die er gerade beerdigt hatte. Ich stand da und heulte. Ich war bereit zu sterben oder zu kämpfen und habe erwartet, dass er auf mich los geht. Aber er hat mich einfach nur angesehen und in den Arm genommen."
Die Tränen, die über Frankas Wangen rollten, glitzerten in der Wintersonne. Klaas hatte aus der LGBTQIA+-Community schon von einigen solcher Biografien gehört oder gelesen. Aber nie hatte sich eine Trans-Frau ihm gegenüber auf diese Weise geöffnet. In seiner eigenen Brust lag ein dicker Knoten; er zwinkerte das in ihm aufsteigende Wasser weg und schluckte. Franka kramte in ihrer Handtasche, zog eine Packung Taschentücher daraus hervor.
„Irgendwie hatte ich versucht, in die Haut meiner Mutter zu schlüpfen, einfach damit sie wieder da ist, und dass wir uns wieder wie zwei Freundinnen zusammen die Nägel lackieren, und dass alles wieder ist wie zuvor, verstehst Du?"
Wie immer, wenn er aufgewühlt war, brachte Klaas kein Wort hervor. Er nickte.
„Es war genau dann, als wir uns beide in den Armen lagen und diesen schrecklichen Verlust beweinten, dass Papa mich auf einmal gefragt hat: ‚Franz, Kind, du kannst nicht Mama sein. du kannst nur du selbst sein. Wir müssen sie gehen lassen – wir beide. Möchtest du nicht du selbst sein?' Ich weiß nicht, ob du dir das vostellen kannst, Klaas, aber damit hat er mir die schwerste Frage gestellt, die er mir zu stellen vermochte – und irgendwie auch die einfachste. Ich habe ihm geantwortet, dass ich das doch noch nie war, weil ich etwas war, was ich nicht sein wollte: ein Junge. Wir haben noch lange so da gesessen damals. Und irgendwann hat Papa gesagt: ‚Vielleicht kannst du das doch...'."
Franka atmete tief ein. Ihr Oberkörper zitterte leicht. Der Atem kondensierte in einer großen Wolke.
„Von diesem Tag an hat Papa alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mir zu helfen. Er hat Berge an Literatur über Transidentität angeschleppt. Wir sind zu Ärzten und Spezialisten gerannt. Unseren alten Hausarzt mussten wir aus unserem Leben kicken. Er verhielt sich wie ein reaktionäres Arschloch und hat meinem Vater empfohlen, mich auf ein strenges Jungeninternat zu schicken. ‚Da wird das dann schon wieder Herr Schuster', hatte er gesagt und mich böse angeguckt und dem ganzen dann noch ein ‚Wir wollen doch nicht, dass du etwas für's Kuriositätenkabinett wirst', drauf gesetzt."
„So ein Arsch!"
„Oh ja! Das kannst du laut sagen! Aber über meine Selbsthilfegruppe haben wir einen besseren gefunden. Bei dem habe ich dann erst mal Medikamente bekommen, die die Pubertät abblocken. Gleichzeitig habe ich mit einer Psychotherapie angefangen. Mit der Hormontherapie ging es dann mit knapp siebzehn richtig los."
Klaas staunte. Er hatte nicht erwartet, dass ihr Nachbar Schuster bereit war, so einen Weg gemeinsam mit seinem Kind zu beschreiten.
„Da habt ihr aber schon bei uns im Haus gewohnt, oder?"
„Ja."
„Irgendwie ist das weitgehend an uns vorbei gegangen."
„Außer an Lisa."
„Stimmt! Wieso eigentlich?"
„Naja. Sie hat auch geraucht. Wir haben uns immer zusammen raus geschlichen."
„Und da hast du ihr es erzählt..."
„Irgendwann schon. Sie hat mal eine Bemerkung gemacht, dass mein Bartwuchs echt auf sich warten lässt. Da wurde ich sauer und habe ihr alles mögliche Zeug an den Kopf geworfen, dass ich das auch gar nicht will und dass sie keine Ahnung hat, was ich durch mache."
„Du hast dich verplappert?"
„Verdammt! Ja!"
Franka lachte laut auf.
„Sie hat es erraten, deine scheiß schlaue Schwester!"
„Schlau ist sie. Das stimmt wohl."
Sie zog ihre Zigarettenschachtel aus der Manteltasche. Ihr Feuerzeug steckte bei den Zigaretten.
„Dein Vater und du: Warum habt ihr euch gestritten?"
„Das ist eine sehr persönliche Frage."
Klaas senkte den Kopf. Das verwirrte ihn. Eben legte Franka ihre Seele vor ihm auf dem Fußboden aus. Und jetzt stieß sie ihn zurück.
„Ist schon gut. Deswegen habe ich dich ja hierher geschleppt. Ich wollte, dass du es hörst."
Er sah Franka schief an. Klug wurde er aus ihr nicht.
„Mein Vater bekam Angst. Während all dieser Jahre hat er mich begleitet und all dieses Zeug gelesen – über die Risiken und so. An meinem achtzehnten Geburtstag habe ich morgens beim Frühstück voller Begeisterung davon erzählt, dass ich schon den Brief für die Krankenkasse vorbereitet hatte, um die Übernahme der Kosten zu den bevorstehenden OPs zu übernehmen. Da sagte er auf einmal, er wolle nicht, dass ich mich umoperieren lasse."
„Oh scheiße!"
„Exakt. Er fing an, dass ich doch so schon super wie eine Frau aussehe und dass ich das doch gar nicht nötig habe. Er zählte mir alle OP-Risiken und Komplikationen auf, von denen er gelesen hatte – nicht, dass sie mir nicht selbst bekannt gewesen wären – im Gegenteil! Ein Part der ganzen Prozedur ist es ja, alle Eventualitäten mit einem Psycharter immer wieder durchzukauen. Aber er hat mich immer weiter bekniet, ich soll es lassen, bis ich irgendwann ausgeflippt bin."
„Kann ich verstehen."
„Nein. Kannst du nicht."
Klaas öffnete den Mund, um seine Position zu verteidigen, doch Franka kam ihm zuvor:
„Nichts verstehst du. Genauso wenig wie mein Vater es damals verstanden hat. Ihr seid beide nicht trans. Wie sollt ihr die Gefühle verstehen, die in mir drin sind, wenn Cis-Menschen sowas mit mir machen?"
Franka hatte leicht die Stimme erhoben. Der Stimmungswandel war für Klaas wie eine kalte Dusche. Mit weit aufgerissenen Augen sah er sie an.
„Aber genauso wenig konnte ich verstehen, was in meinem Vater vorging. Er hatte Angst! Er hatte eine Scheißangst, mich zu verlieren; genau so wie er schon Mama verloren hatte. Er hatte Angst, sein einziges Kind zu verlieren. Verstehst du? Ich habe kein Kind. Woher soll ich wissen, wie es sich anfühlt, ein Vater zu sein, dessen Kind eine Ga-OP durchziehen will?"
Klaas dämmerte, was Franka ihm zu vermitteln suchte. Er stützte seinen Kopf in seine Hände und raufte sich die Haare.
„Als mein Vater heute aufgewacht ist und ich neben seinem Bett saß, hat er nach meiner Hand gegriffen und geweint vor Freude. Ich habe versucht, von dem Streit anzufangen. Aber er hat nur den Kopf geschüttelt und meine Hand gedrückt. Unser Streit war schlimm damals – keine Frage. Aber heute weiß ich, dass ich Dinge gesagt habe, die ich hinterher bereut habe. Eine ganze Zeit lang habe ich versucht, diese Erkenntnis hinter einer Mauer aus Verbitterung zu verschanzen. Später habe ich es aus Scham über meine eigene Dummheit nicht über mich gebracht, ihn einfach anzurufen."
Franka schaute in die Ferne. Ihre Stirn lag in Falten; und sie schien in der Vergangenheit versunken zu sein. Dann wandte sie sich wieder Klaas zu:
„Er war doch mein Verbündeter! Sicher: Mein Dad ist nicht ohne Fehler. Aber er hat mich durch die Jahre der Hormontherapie begleitet und hat immer zu mir gestanden, auch wenn sich Verwandte bei Familienfeiern von unserem Tisch weggesetzt haben. Im Gegenteil: Er hat mich verteidigt wie ein Löwe. Wie ein Vater sein Kind verteidigt halt. Wahrscheinlich war es für ihn genauso: Als der Beatmungsschlauch draußen war, waren seine ersten Worte: ‚Es tut mir leid!'."
Franka zog an Klaas Arm und nahm seine Hand. Er sah sie an.
„Verstehst du? Unsere Wut hat nur zerstört! Ich bin zum Studium weg und wir haben uns vier Jahre lang nicht gesprochen. Für nichts und wieder nichts! Selbst wegen formalem Scheiß haben wir nur schriftlich kommuniziert – also wegen BaföG und Kindergeld und so, weißte?"
„Willst du damit sagen, dass ich ihm für seine Schwulenhasserei ein weiches Bett machen und ihn hätscheln soll?"
„Quatsch!"
„Was dann?"
Klaas Wut nährte ein neues Feuer.
„Ich will dir sagen, dass die Chancen viel geringer stehen, dass er dich annimmt, so wie du bist, wenn ihr wütend seid!"
„Aber wie soll ich bei dem reaktionären Müll, der aus seinem Schandmaul quillt, ruhig bleiben?"
„Glaubst du denn, dass er mit irgendeinem seiner Standpunkte recht hat?"
„Nein! Natürlich nicht!"
„Bist du dir sicher?"
Das Feuer loderte auf.
„Klar! Was soll der Scheiß?"
„Da ist sie."
Klaas runzelte die Stirn und sah um sich.
„Wer?"
„Die Wut."
Ertappt sah er zu Boden.
„Wut hat etwas mit der Liebe gemein: Sie macht blind."
Er entzog ihr seine Hand und formte eine Faust. Dann schlug er damit auf sein Knie.
„Der Unterschied besteht darin, dass Liebe verbindet; Wut spaltet."
Klaas Kiefermuskeln mahlten. Sein Bauch war hart wie Stein. Die Gedanken rasten.
„Aber ... Markus ... er hat mich verlassen. Er ... er hat es nicht mehr ertragen, dass ich ihn vor meinen Eltern verheimliche."
Sekundenlang sprachen sie beide nichts. Franka legte vorsichtig ihre Hand auf Klaas Schulter. Er schluckte. In kurzen Stößen blies er seinen Atem aus der Lunge.
„Das verstehe ich. Trotzdem kann er das nicht verlangen."
Es brauchte einen Moment, bis dieser Gedanke in seine Seele einsank.
„Wie meinst du das?"
„Nehmen wir mal den größten anzunehmenden Unfall an und dein Vater verstößt dich, erzählt aller Welt davon, isoliert dich sozial und enterbt dich, verbietet Lisa und deiner Mum den Kontakt zu dir. Wird Markus mit diesen Konsequenzen leben oder du?"
Ungläubig starrte er Franka an.
„Versteh mich nicht falsch: Ich finde es richtig, sich zu outen. Aber es hat Konsequenzen. Es gibt nette Menschen im Leben und es gibt Arschlöcher, die es einem zur Hölle machen. Ob dein Vater sich in die zweite Gruppe einreiht, ist, nach allem was wir wissen, nicht klar. Und ob du mit den möglichen Konsequenzen leben kannst, musst du entscheiden. Er ist dein Vater, nicht Markus'."
Klaas richtete sich auf, faltete die Hände über dem Kopf und schloss die Augen. Der Schmerz in seiner Brust ließ ihn die Luft anhalten. Er vermisste ihn. Er kämpfte gegen dieses Gefühl an, aber sein Körper sprach zu ihm mit der Macht des Verlustes.
„Er hat sogar die Ärzte überredet, den Tubus, diesen Beatmungsschlauch länger drin zu lassen, damit ich mit ihm rede. Aber ich lehne das ab. Deshalb habe ich darum gebeten, dass der Tubus raus kommt, bevor ich mit ihm rede."
„Pah!"
Klaas sah Frankas Augen blitzen.
„Was für ein Übergriff! Dafür könnte ich ihn ohrfeigen! Wer oder was gibt ihm das Recht, in die körperliche Selbstbestimmung deines Vaters einzugreifen!"
Wutentbrannt stand Franka auf und lief an das Geländer der Aussichtsplattform vor ihnen und stützte sich ab. Klaas erhob sich, klemmte seine ausgefrorenen Hände unter die Achseln und trat neben sie.
„Er hat ja recht. Es ist überfällig, mit meinem Vater zu reden."
„Trotzdem! Er ist zu weit gegangen! Ich werde dafür sorgen, dass er sich meinem Vater nicht mehr als zehn Meter nähert!"
„Aber Franka..."
„Nein! Auf keinen Fall!"
„Meintest du nicht gerade eben, dass Wut spaltet und nur Liebe verbindet?"
Franka versuchte, ihre grimmige Mine beizubehalten. Aber es schlich sich der Hauch eines Lächelns auf ihr Gesicht.
„Touchée! Aber ich werde ihm dennoch gehörig meine Meinung pfeifen!"
Sie lachten beide. Dann wandte sich Franka ihm wieder zu:
„Auch wenn es bei deinem Outing eigentlich um dich geht, versuch', dich in deinen Vater hinein zu versetzen, um zu verstehen, wie er reagieren wird – und warum. Wenn du wütend wirst, zähl im Kopf erst bis zehn, bevor du antwortest. Dann gibst du dem Neokortex Zeit, die Amygdala einzufangen."
„Äh, was?"
„Du gibst dem kognitiven Teil deines Gehirns die Chance, die Emotionen in dir zu bewerten und zu reflektieren."
„Also bis zehn zählen habe ich verstanden. Den Rest ... wenn ich ehrlich bin ..."
„Mensch Klaas! Bevor du etwas Unüberlegtes sagst, sollst du nachdenken! Und damit das klappt, zählst du erst mal im Kopf bis zehn!"
„Ok..."
„Und wenn dein Vater irgendwelchen verletzenden Bockmist raus blökt, hinterfrage es! Denn wenn er das macht, stehst du über ihm, wenn du reflektiert und emphatisch bleibst. Sobald du anfängst, zurück zu schießen, begibst du dich auf sein Level hinunter. Mach das nicht! Hol ihn anstatt dessen auf deine Augenhöhe zurück und fordere ihn auf, mit dir zu fühlen und deine Situation zu verstehen."
Klaas hob seine Hände.
„Ok, ok, ok! Ich glaube, jetzt hab ich genug Information! Sonst bekomme ich das gleich nicht hin."
„Gut! Dann los!"
Wieder hakte Franka sich bei ihm unter und zog ihn vorwärts.
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