5 Vergangenes & Verträumtes
Rehva
Es war beinah zu leicht, die Aufmerksamkeit des Königs zu bekommen. Er läuft nie mit Wachen herum. Wieso auch, wer würde den König in seinem Palast angreifen? Zumal immer eine Palastwache, die in den Gängen positioniert sind, in der Nähe ist. Trotzdem bietet es keinen kompletten Schutz.
Dank der vielen Damen, die bei ihm nachts ein- und ausgehen, war es ein Leichtes, seine Schwäche herauszufinden. So aber auch ihn zu beobachten, wenn er allein ist. Ich habe es als Erstes in seinen Augen gesehen, wenn er glaubt, niemand sieht hin. Er ist einsam. Und für den Hauch eines Herzschlages hatte ich Mitleid. Verständnis.
Unsere erste Begegnung war eine flüchtige, trotzdem werde ich ihm in Erinnerung bleiben. Die Eine, die nicht gleich seinem Charme verfallen ist. Ich habe gesehen, wie er sich nach mir umdrehte. Gespürt, wie er sich angezogen fühlt. Es kostete mich alles, ihn nicht meinen Hass sehen zu lassen. Oder den Dolch, der an meinem Oberschenkel angebracht ist, nicht zu zücken.
Der junge König mag nicht der sein, der das Blut meiner Familie an den Händen hat — nicht direkt. Aber ich bin sicher, er hat davon gewusst. Er muss davon gewusst haben. Er war der Kronprinz.
Seinen Vater kann ich nicht mehr bestrafen. Sein Königreich sehr wohl.
Erneut betrachte ich den jungen König aus der Ferne. Er ist nur zwei Jahre älter als ich, hat nur eines Aspen voraus. Wie so viele Male sitzt er einer Gruppe Abgeordneten gegenüber. Jede neue Regentschaft beginnt mit einer Sitzung wie dieser. Die Königreiche riechen das Blut und erhoffen sich neue und bessere Bündnisse, die Verträge zu ihrem Vorteil zu schreiben und auf die gute Seite des neuen Regenten zu kommen. Und manche trachten nach Blut. Schwächen finden, um das Königreich für sich zu bekommen.
Der junge König streicht zum wiederholten Mal das Haar nach hinten. Sein Blick huscht zur Galerie, auf der ich mich verstecke. Hastig huschte ich hinter einer der Säulen und wage es erst Minuten darauf, wieder nach unten zu blicken. Weitere Männer sind eingetreten und Abgeordnete verlassen den Saal. Sie tragen die Uniform Evrems.
Es wird ruhiger im Saal, die Worte sind mehr geflüsterte und getuschelte Geheimnisse. Er berät sich mit seinen Militäroberhäuptern über die Lage seiner Truppen, deren Größe und Waffen. Sein Blick huscht immer wieder aus dem Fenster. Sehnsucht und Trauer funkeln kurz darin auf. Doch nur solange, bis er erneut zu den Männern sieht und eine harte Maske aufsetzt. Hätte Aspen diese Sitzungen ebenso sehr gehasst?
Die Besprechung, deren Worte ich nicht vernehmen kann und deren Karten aus dieser Entfernung zu klein sind, zieht sich ewig. Immer wieder stelle ich mir Aspen vor, der sich mit den Männern unseres Reiches bespricht. Er wäre ein großartiger und gütiger König geworden.
Am Ende der Ratssitzung ist der junge König allein im Saal. Ein junge Mann, der die Krone absetzt, und an einen Jungen erinnert, der noch nicht die Last eines Landes tragen sollte. Er tritt zum Fenster und starrt eine Weile unbeweglich hinaus.
Mit jedem verstrichen Herzschlag wirkt er weniger wie ein König und mehr wie Aspen. Mein Bruder hat sich mir einst anvertraut — seine Bedenken darüber geäußert, ob er bereit dafür ist, das Amt unseres Vaters zu übernehmen. Und diesen Gedanken sehe ich nun auch in den Augen des Königs von Evrem.
„Ich weiß, dass du hier bist." Mein Herz stockt und meine Hände werden feucht. Wie habe ich mich verraten? „Willst du nur starren oder zu mir kommen?" Unbewegt halte ich den Atem und versuche zu verstehen, wie er mich bemerkt hat. „Ich kann das Meer an dir riechen. Das ist es und die Kunde, dass du den Hafen erreicht hast." Verwirrt hebe ich die Augenbraue und will mich erklären, als eine andere Stimme ertönt.
„Du hast viel gelernt, wie ich sehe. Du bist aufmerksamer geworden. Erwachsener. Macht das die Krone aus einem?" Jemand tritt aus dem Schatten. Dunkles Haar und die Tracht eines Seemannes. Dreckige, aber feine Kleidung. Seine Haut ist von der Sonne gezeichnet und dunkel. Kleine Falten lassen ihn älter wirken, als er vermutlich ist, und er hinkt leicht mit dem rechten Bein. Eine leichte Ähnlichkeit mit dem jungen König ist in den Augen zu erkennen. Jedoch wirkt er um die zehn Jahre älter. Ein Onkel vermutlich.
Der Neuankömmling bleibt wenige Schritte hinter dem König stehen und wartet, bis er sich umdreht, bevor er sich verneigt. So nah nebeneinander ist die Ähnlichkeit noch stärker.
„Ich dachte, dieses Mal kommst du nicht zurück. Ich dachte, dieses Mal bleibst du bei deiner Liebsten." Es ist kein Ärger, Spott oder Wut in seiner Stimme zu hören. Stattdessen Aufrichtigkeit, Zärtlichkeit und ein Hauch von Erleichterung.
„Ich habe von Vaters Tod gehört. Welche Wahl bleibt mir?" Meine Augen werden groß und ich mustere den Seefahrer. Der jüngere Bruder. Dabei wirkt er um Jahre älter. Die See und die Sonne, machen einen Mann alt, hatte Aspen einst zu mir gesagt, als ich fragte, weshalb keine jungen kräftigen Burschen angeheuert wurden.
Die Brüder betrachten sich einen Moment, bevor sie einander in eine herzliche Umarmung ziehen. Ich glaube eine Träne in den Augen des jungen Königs zu sehen und wie die Einsamkeit verfliegt. Sehnsucht nach Aspen breitet sich in meiner Brust aus.
Ich wende mich von dem Bild ab. Auf leisen Sohlen schleiche ich aus dem Saal und suche mir einen Platz, der von Blicken geschützt im Schatten des Gartens liegt.
In einer Nische rolle ich mich zusammen und lasse den Tränen ihren Lauf, während der Wind mich streichelt und die Vögel versuchen meine Trauer zu besänftigen. „Du hast immer mich, Schwesterchen. Verkriech dich nicht, okay?", hat mein Bruder einst zu mir gesagt. Ich hatte eine Vase versehentlich zerstört und mich geschämt und eine Strafe befürchtet. Am Ende hat er die Schuld auf sich genommen und eine Woche keine Nachspeise bekommen. „Das machen Brüder ebenso", hat er erklärt und mir einen Kuss auf die Stirn gehaucht.
„Eine Frau, so schön wie Ihr es seid, sollt nicht weinen", ertönt plötzlich eine Stimme und mein Herz stockt.
Mein Blick zuckt nach oben und in den besorgten Blick des jungen Königs. Mitleid und Bedauern funkeln in seinen Augen und eine Wärme geht von ihnen aus. Eine Wärme, die ich nicht von ihm sehen will. Ich lasse die Kälte meinen Körper durchfließen und sehe ihn streng an.
„Sind nicht jedem Tränen gegönnt? Muss sich eine Frau vor ihren Emotionen verstecken?", entgegne ich gereizt. Meine Hand fühlt nach dem Dolch untere meinem Kleid und meine Fingerspitzen stoßen auf das kalte Metall. Es wäre so leicht, ihn in sein Herz zu rammen. So leicht Aspen und Mutter zu rächen.
„Nein, das ist nicht, was ich sagen wollte." Er sieht verlegen auf seine Hände und dann erneut zu mir. „Ein Mann, der Euch zu Tränen bringt, hat Euch nicht verdient. Ihr solltet auf Händen getragen und zum Lachen gebracht werden. Und wenn Euch doch die Träne kommen, sollte er seine Arme um euch schließen." Ein verlegenes Lächeln mischt sich zu dem Ausdruck seiner Augen. Er hält mir ein Stofftaschentuch entgegen, das ich zögerlich annehme, weil seine Worte mich verwirren. So viel Einfühlungsvermögen und Romantik habe ich von dem jungen König nicht erwartet.
„Und Ihr glaubt, nur ein Mann kann Schuld an den Tränen einer Frau haben?" Ich wische die Tränen von meiner Wange und betrachte die feine Spitze und Stickerei auf dem Taschentuch. Die Initialen seiner Vornamen und dem Familienname. Ich fahre über das verschnörkelte J, bestaune die Handfertigkeit und bin dankbar, dass mein Vater mich nie gezwungen hat, solche eine zu lernen. Mir stand immer frei zu wählen, was ich tue und was ich lerne. Bis zu dieser Aufgabe.
„Es tut mir leid, meine Dame, wenn ich mich geirrt habe. Was ist es, das Euer Herz bekümmert? Was kann ich tun, dass sich ein Lächeln auf Eure Lippen legt?" Warum ist er so höflich? Warum kümmert er sich so um das Gemüt einer Zofe? Mehr kann ich in seinen Augen nicht sein.
„Ihr habt Euch nicht geirrt, Hoheit", gebe ich kleinlaut wieder. Ein Mann ist schuld an meinen Tränen. Nur nicht die Art, wie er vermutlich glaubt. Und dass Aspen mich im Arm halten würde, wenn er könnte. „Aber der Mann, dem meine Tränen gelten, wartet bereits bei den Sternen auf mich." Seine Züge werden schwer und Bedauern breitet sich aus.
Für einen weiteren Herzschlag vergesse ich, wer dieser junge Mann wirklich ist und sehe einen mitfühlenden jungen Mann mit dem ich gerne Zeit verbringe.
„Das tut mir leid." Er kniet sich vor mich und wischt eine Träne, die ich übersehen habe, mit dem Daumen beiseite.
Seine zarte Berührung prickelt auf meiner Haut. Augenblicklich stoße ich das Gefühl ab. Aber das Mitgefühl in seinen Augen bringt meine Mauern zum Wanken und löst den Griff, um das Bild des Monsters, mit dem ich ihn mir vorgestellt habe.
„Die Liebe ist ein gefährliches Spiel. Solange wir sie halten, glauben wir zu fliegen. Wir vergessen, wie schnell sie genommen werden und uns in den Untergrund zerren kann. Liebe ist eine Machen, die den Stärksten zu Fall bringt und die Schwächsten erhebt. Die Liebe besiegt den klügsten Verstand. Beraubt sie ihres Wissens und der Vorsicht. Sie macht die Schwachen stark, die geängstigten mutig und die traurigen fröhlich. Doch genauso schnell kann sie all das nehmen und uns allem berauben."
„In Euren Worten hört sich die Liebe an, wie etwas, das es zu vermeiden gilt." Seine Mundwinkel zucken und er schüttelt den Kopf.
„Im Gegenteil, die Liebe ist etwas, das wir begehren und suchen sollten, aber mit Vorsicht." Das Blau seiner Augen funkelt. Für einige Wimpernschläge hält er den intensiven Blickkontakt, bevor er sich aufstemmt und mir die Hand reicht.
„Versteckt Eure Tränen nicht und schämt euch nicht der geliebten Liebe. Wir wünschen uns alle, was Ihr einst hattet. Und verzagt nicht, man liebt nicht nur einmal im Leben. Manchen ist eine zweite Chance gewährt." Er küsst meine Handrücken, neigt den Kopf und lässt mich mit einem Gefühl im Inneren zurück, das all den Hass bedeckt. Versteckt Eure Tränen nicht.
„Du hast immer mich, Schwesterchen. Verkriech dich nicht, okay?", rauscht es durch den Wind. Ich glaube Aspens Berührung an der Stelle meiner Wange zu spüren, an der eben noch die Finger des Königs meine Haut berührten.
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