13 Vergangenes & Vergessenes
Rehva
„Er wird nicht kommen." Die unerwartete Stimme meines Vaters lässt mich zucken und ich drehe mich ruckartig zu ihm. Sein Blick wird von Traurigkeit ertränkt, die ihn in den letzten Tagen so beherrscht hat, dass er mich nicht mehr ansah. Eine Schlacht zerreißt ihn innerlich. Doch so sehr ich auch flehte und bettelte, er behielt es für sich.
Er bleibt am Ende des Flurs stehen und blickt zu mir. Selbst aus dieser Distanz sehe ich, dass er meine Gegenwart kaum aushält. Seine Hände zittern, seine Atmung wird flacher und seine Schultern sinken. Er weiß es, flüstert eine Stimme tief in mir und mein Herzschlag erhöht sich.
Der Grund, weshalb ich den ersten Brief an James nur seinem Bruder anvertraute, war aus Angst mein Vater würde ihn lesen. In all den folgenden Briefen erwähnte ich meine Flucht nicht mehr. Trotzdem sagt mir etwas, dass es mein Vater weiß. Er weiß, dass ich heute Nacht Merah für immer verlassen werde.
Ein kurzer Blick aus dem Fenster verrät, dass es noch nicht Zeit für mein Treffen ist. Die Sterne funkeln noch nicht durch das dunkle Rot, das den Tag langsam beendet. James würde noch nicht kommen, es ist noch Zeit meinem Vater zu entwischen.
„Du irrst dich, Vater." Meine Hände umklammern den Beutel in meiner Hand fester. Doch des langen Mantels, um meine Schulter, fröstelt es mich. Es ist eine Vorahnung — das Erwarten von etwas Schrecklichem — das meine Seele Stück für Stück packt.
„Nein, meine liebste Rehva, das tue ich nicht." Er klingt so entschlossen und sicher wie seit Monaten nicht mehr. Und das, obwohl Trauer seine Stimme zum Beben bringt. Angst packt mich plötzlich und krallt sich kalt in mein Herz. So hat er geklungen, als er mir von Mutters und Aspens Tod berichtete. Meine Sorge zuckt zu Julius, mein kleiner Bruder, doch ich habe ihn selbst ins Bett gebracht und mich verabschiedet. Er schläft tief und fest, ohne zu wissen, dass am morgigen Tag seine Schwester fort sein wird. Dass ich mit James nach Evrem gehen werde. Plötzlich formt sich eine andere Sorge.
„Was hast du ihm getan?", bricht es entsetzt aus mir. Ich gehe einige Schritte auf meinen Vater zu. Kein Blut an seinen Händen. Ich atme auf und gehe einen weiteren Schritt. Sein Blick liegt schwer auf mir. Voller Trauer und Verlust. Die Emotionen sind nichts Neues, wäre sie nicht so greifbar und frisch. Als habe es Mutter und Aspen gerade erst verloren. „Vater, was hast du König James angetan?"
„Nichts." Mein Herz stockt. Erleichtert presse ich die angehaltene Luft aus und komme zwei Schritte vor ihm zum Stehen. Die Krone sitzt perfekt, wie sein Haar und der Anzug, den er trägt. Alles bis auf seine Augen strahlt den geborenen König aus. Und trotzdem wollte er nicht die Vorteile sehen, die ein Bündnis mit Evrem erschaffen hätte.
„Dann lass mich gehen. Du hast, was du wolltest. Die Verträge sind gezeichnet, dann gib mir, was du versprochen hast. Alles, was ich mir je wünsche. Gib ihm meine Hand. Bitte, mein König." Meine Hände lösen sich zitternd aus der Faust, während ich die einzelnen Tränen beobachte, die an seiner Wange hinunterrollen.
„Er wird nicht kommen", wispert er mit bebender Stimme und ich sehe ihm an, welche Selbstbeherrschung es ihn kostet, nicht vor mir zu zerfallen. Aber wieso quält er sich? Wieso sieht er nicht, dass ich James liebe? Wieso hält er mich in Merah gefangen?
„Doch Vater, das wird er. James liebt mich." Mein Vater schüttelt den Kopf, öffnet den Mund, doch schließt ihn, während seine Atemzüge zittriger werden. „Und ich liebe ihn." Sein Blick verliert sich einige Herzschläge hinter mich, während er um Fassung ringt.
„Es tut mir leid. Aber dein Königreich braucht dich und ich habe dir versprochen, dass du Merah nie wieder verlassen musst." Er geht einen Schritt auf mich zu und streichelt fürsorglich über meine feuchte Wange.
Ich will protestieren, als seine Hand plötzlich an meinen Hinterkopf zuckt und er ein feuchtes Tuch über meinen Mund und Nase legt.
„Schtscht meine kleine Prinzessin", wispert er, während er den Druck erhöht und mich fester an sich zieht. „Nur etwas zur Beruhigung." Meine Glieder werden schwer und meine Umgebung wird schwammig. Aber ich verliere lediglich die Kraft, nicht das Bewusstsein. Mit einem geübten Griff hebt er mich in seinen Arm.
„Was tut Ihr?", frage ich mit schwerer Zunge und versuche mich erfolglos zu wehren.
„Es liegt nicht in meiner Kraft. Es muss sein. Es liegt ein Fluch über Merah und nur einen Weg ihn zu bezahlen." Obwohl ich spüre, wie stark sein Körper bebt, ist seine Stimme entschlossen. Eine dunkle Vorahnung raubt meinem Herzen zwei Schläge, bevor ich meine Stimme wieder finde.
„James wird mich finden. Er wird kommen und mich mit sich nehmen." Ich sehe den Gang entlang, in dem ich eben noch gewartet habe. Doch er bleibt leer.
„Er wird nicht kommen. Niemals. Er wird vergessen. Er wird nicht einmal deinen Namen mehr kennen." Mein Vater trägt mich weiter durch die leeren Gänge. Die Musik, die aus dem Ballsaal tritt, wird mit jedem Schritt lauter und der Duft von Rosmarin und Hähnchen wird stärker.
Obwohl ich meine Arme und Beine bewegen kann, ist es unglaublich langsam, mühselig und kraftlos. Eine Flucht, selbst mit meinem können, unmöglich. Und meine Stimme ist zu schwach, um nach Hilfe zu schreien.
„Das würde er nie." Wir halten vor der Flügeltür, die zurück in Saal führt, in dem dutzende Menschen unseres Königreiches und der anderen Merhas Gründung feiern. Darunter auch James.
„Er hat keine Wahl, Rehva. Sie werden alle vergessen. Du wirst aus der Erinnerung ein jedem radiert werden." Ich schüttele den Kopf, verneine und streite es ab, bis mir erneut die Entschlossenheit in seinen Augen bewusst wird.
„Es ist ein Fluch, der seit dem ersten Gründungsfest besteht, meine kleine Prinzessin. Ein Fluch, der jährlich ein Opfer verlangt, um unser Königreich zu schützen. Und nun verlangt es nach deinem Opfer ... und nach der Erinnerung an dich." Eine weitere Träne rollt seine Wange entlang, während sein Blick tief in mich geht. So sehr ich es abstreiten will, flüstert etwas tief in mir, dass er recht hat. Ein Wissen, das schon immer in mir war, aber ich nie verstehen konnte.
„Aber er liebt mich", wimmere ich, als das Chaos in mir etwas abflacht.
„Er wird vergessen." Eine Endgültigkeit liegt in seinen Worten, die auch mich überzeugt und in Panik versetzten.
„Das wird ihn zerreißen", kommt es schluchzend aus mir. „Er wird trauern und ein Loch in seiner Seele haben und nicht wissen, weshalb. Es wird ihn zerreißen, Vater." Die Panik verleiht mir Kraft und es gelingt mir, mich aus den Armen meines Vaters zu schieben. Aber sie reicht nicht, um sicher auf den Beinen zu stehen und er hält mich an beiden Armen. „Du konntest um Mutter und Aspen trauern, aber du hattest die Erinnerung, die es ermöglicht, nicht zu ertrinken. Was wird er habe, außer ein unerklärliches Loch, das ihn täglich verschlingt ohne einen Anker? Da wird nur Dunkelheit sein! Sie wird ihn verschlingen! Vater tue das nicht. Ich flehe dich an, tu das James nicht an."
Ich würde auf die Knie fallen, wenn sein Griff nicht wäre. Panik, wie das Licht des Mannes erlischt, den ich liebe, kriecht wie ein erstickender Nebel über mir. Es wird ein Monster erschaffen, davon bin ich überzeugt. Er wird vergessen, was ihn zerrissen hat.
„Es gibt nichts, was ihm die Erinnerung nicht nehmen wird." Der Blick meines Vaters ruht auf der Murmel, die noch immer um meinen Hals hängt, und ich erkenne die Lüge in seinem Gesicht.
„Bitte Vater." Meine Stimme bricht. Nicht aufgrund der Schwere seines Giftes, sondern weil meine Welt einstürzt und mich erdrückt.
Er schüttelt den Kopf und öffnet die Tür. Musik und Stimmen und Gelächter und Fröhlichkeit schwirren uns laut entgegen.
Panisch suche ich nach einem jungen Mann, den ich auf ewig verlieren werde. Ich suche halt an der Murmel und suche nach den blauen Augen. Doch ich sehe sie nicht. Stattdessen bleibt mein Blick an einem goldenen Tisch hängen, zu dem mich mein Vater führt. Die Menschen machen uns Platz und mustern uns interessiert, während mein Vater zielstrebig weiter geht. Sein Griff wird mit jedem Schritt enger und der Kampf in seinen Augen nimmt zu. Niemand scheint meine flehenden Blickt und Worte zu sehen, zu hören, zu verstehen.
„Es tut mir leid, Rehva", flüstert er und hebt mich erneut an. Er bettet mich auf das kalte Metall und wiederholt seine Worte ein Dutzend Mal.
Mein Blick gilt der Menge, die uns beobachtet, bis alle Luft schnappen und Entsetzen durch die Reihen geht. Ich wende die Aufmerksamkeit zu meinem Vater, der einen Dolch über meiner Brust hält. Er wispert Worte, die ich nicht verstehe, und starrt an den Punkt, den er durchbohren will. Er wird mich töten.
„Er liebt mich", wispere ich verzweifelt und schicke meinen Blick erneut auf die Suche nach dem Mann, der vergessen wird. Und dann entdecke ich endlich die wunderschönsten Augen der Welt, die meine Sorgen verschlucken. „James", wispere ich, weil meine Kraft nicht mehr erlaubt.
Erstarrt rührt er sich einen Moment nicht und dann kämpft er sich einen Weg durch die Menge. Von Angst beherrscht, kommt er immer näher. Hoffnung schwirrt in mir auf. Mit meiner letzten Kraft reiße ich die Kette von mir, um sie ihm zu reichen. Damit er nicht vergisst. Damit er trauern kann.
Doch es ist zu spät.
James kommt mit einem Ruck zum Stehen. In einem Moment sind seine Augen weit aufgerissen, im nächsten werden sie ruhig ... und finster. Ein unendlicher Schmerz explodiert in meiner Brust. Nicht von dem Dolch, den mein Vater in mich stößt, aber von meinem Herz, das bricht.
Die Kette fällt aus meiner Hand, schellt zu Boden und die Murmel rollt lose über den Marmor. Sie stößt an die Fußspitze des jungen Mann, der mich eben noch retten wollte und nun erstarrt auf mich sieht.
Zu spät.
Ich kann in seinen Augen sehen, wie er bereits vergisst. Ein blaues Licht erfüllt den Saal, schmückt die Haut der Menschen und sie alle vergessen bereits. Vergessen mich.
„Ebevie consiquegt allea nym dinich", flüstert mein Vater und die Weltentgleitet mir.
Mein letzter Gedanke gilt dem Böse, das mein Vater in James schuf.
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