11 Vergangenes & Verbliebenes
Rehva
Das Knarren des Holzes ist inzwischen ein so vertrautes Geräusch, wie die Wellen, die am Rumpf zerschlagen. Und trotzdem wirkt das Tosen heute lauter und spottender. Tränen brennen nicht länger in meinen Augen — nicht, weil ich nicht länger trauere — aber weil jede davon vergossen ist.
Zum dritten Mal setzte ich die Feder auf ein weißes Papier und schreibe einen Brief, der mich jedes Mal aufs Neue bricht. Das Schaukeln des Schiffes bringt mich früher oder später dazu einen Strich quer über das Papier zu machen, weshalb ich ihn darauf verwerfe. Und von neuem beginne.
Dieses Mal kommt keine Welle zwischen mich und das Papier. In meiner schönsten Schrift beende ich einen Brief, der mein eben erst heilendes Herz erneut zerreißt. Aber er birgt auch Hoffnung.
Mein liebster James,
Ich verstehe nicht, was passiert. Mein Vater wirkt mit jedem Tag trauriger, abweisender und distanzierter. Die innige Beziehung, die ich einst zu ihm hatte, scheint zu zerrinnen. Gestern Abend bat ich um eine Audienz mit ihm. Als ich in den Raum trat, sah ich schon die Trauer bei meinem Anblick. Die Liebe, die er einst zu mir hegte, scheint ersetzt von Verlust.
Ich beschrieb meine Beziehung zu dir. Erklärte ihm, dass du, noch immer um meine Hand anhalten willst. Berichtete ihm von unserer Liebe, den Plänen, die wir hegen und die Gefühle, die wir teilten. Er unterbrach mich nicht. Doch mit jedem Wort wurde sein Blick düsterer, seine Augen trauriger und seine Haltung angespannter. Oh, mein Liebster, ich kann dir nicht erklären, wie schrecklich der Anblick war.
Als ich zu Ende sprach, stellte ich ihm eine letzte Frage. Die Frage für den Grund meiner Audienz. Die Erlaubnis, ein Leben mit dem Mann zu führen, dem mein Herz gehört.
Mein Liebster, mein Herz ist schwer, während ich dir diese Worte schreibe. Es scheint zu bluten bei dem Gedanken, dich nicht für immer mein zu nennen. Doch die Antwort meines Vaters war klar, seine Wut spürbar und die Entschlossenheit sichtbar. Es schmerzt, dir diese Worte zu schreiben. Für uns scheint es keine Zukunft zu geben in dem Leben, das wir kennen.
Im Moment noch nicht.
Doch ich bin mir gewiss. Am Abend des jährlichen Balles, nach Vollendung meines achtzehnten Lebensjahrs, wirst du ihn überzeugen können. Und wenn nicht, mein Liebster. So bin ich gewillt, in die weite Welt mit dir zu rennen. Soweit es auch dein Verlangen ist.
Mein Liebster, es schmerzt mich, dir meine Worte nicht selbst sagen zu können, doch ich weiß, nicht mehr lange und wir sind vereint.
In liebe,
Kia
Ich unterzeichne mit dem Namen, den ich ihm bei unserer ersten Begegnung nannte. Ein Name, der — wie er nun weiß — durchaus eine Bedeutung hat. Mehr als ich damals ahnte.
Es ist der Name, bei dem mich mein kleiner Bruder nennt. Julius, den ich ebenfalls zurücklassen muss, sollte mein Vater seine Meinung nicht ändern. Doch eines Tages würde ich zurückkommen, eines Tages, wenn Julius König ist. Kia, ein Name der so viel verändert hat. Den nun auch der junge Mann, dessen Herz nach meinem zehrt, wie meines nach ihm.
Es waren nicht viele Worte gefallen nach dem Kuss. Es musste nicht viel gesagt werden. Die Lüge ist noch immer wie ein Dorn — aber die Liebe ist echt. Und wir haben ein Leben, um zu heilen. So dachten wir. James will noch immer meine Hand in der Ehe und ich will nichts lieber. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mein Vater widersprechen würde. Aber er kennt den jungen König nicht so wie ich es tue. James wird ihn überzeugen können und wenn nicht, werde ich ohne seinen Segen nach Evrem gehen. Darüber bin ich mir gewiss.
Behutsam falte ich den Brief zusammen, setze mein Siegel darauf und schiebe es unter mein Kleid. Ich werde James jeden Tag schreiben. Das habe ich versprochen. Dies ist der Erste von etlichen, die folgen, bis wir uns wiedersehen.
„Land in Sicht!", höre ich die Rufe übers Deck rollen und springe auf. Eilig und mit wackeligen Schritten springe ich nach oben. Die Sonne blendet mich und der salzige Duft brennt in meiner Nase. Mit zusammengekniffenen Augen trete ich an die Reling und sehe auf das Land, dem wir uns nähern. Mein Königreich, zu dem ich das letzte Mal nach Hause komme. Merah.
Die Seemänner huschen gekonnt über das Deck, Befehle rollen über das Tosen der Wellen und bald legen wir an. Während die Männer die letzten Taue verknoten, die Brücke befestigen und die Palastwachen empfangen, die am Dock auf uns warten, geht mein Blick über die anderen Schiffe und bleibt an einem ganz Bestimmten hängen. Kleiner und daher schneller als unseres.
Ich springe an den Palastwachmännern vorbei, die sich um meinen Vater sammeln und über die Brücke, noch bevor sie ganz das Dock erreicht. Gekonnt springe ich auf das Pflasterstein. Eilig bahne ich mir den Weg durch die Masse und ignoriere die Rufe hinter mir. Im Zickzack hänge ich die Palastwache ab und husche in eine kleine Gasse. Aus dem Schatten betrachte ich, wie sie an mir vorbeirennen, bevor ich in die entgegengesetzte Richtung schlendere.
Mein Herz schlägt nicht nur aufgrund des Sprints in doppelter Geschwindigkeit. Mit feuchten Händen und Schweiß auf der Stirn steuere ich auf mein Ziel.
Vor dem Schiff aus Evrem bleibe ich stehen. Es ist nicht das der Königlichen Garde, die in wenigen Wochen James bringen wird. Aber sie hat trotzdem königliche Fracht. Ich erhasche den jungen Mann nach dem ich Ausschau halte und springe auf ihn zu. Erneut überrascht, wie alt er wirkt, starre ich auf die Falten, die von den unzähligen Stunden in der Sonne auf seinem Gesicht liegen. Und trotzdem bringt die Ähnlichkeit zu James mein nervöses Herz noch stärker zum Stolpern.
Kurz bevor ich ihn erreiche, werde ich am Arm gepackt und davon abgehalten vor den jungen Mann zu treten.
„Was tust du auf einem Schiff aus Evrem, Mädchen?" Der Griff wird enger. Mit einem raschen Blick mustere ich den stämmigen Mann, der mich um einen Kopf überragt und die Arme eines Bären hat. Erst vor wenigen Wochen habe ich drei Männer unsere Palastwache in die Knie gezwungen und ich muss mich lediglich aus dem Griff befreien. Ein Kinderspiel.
Ich will ihn gerade überlisten, als der junge Mann mit der sonnen geküssten Haut zu mir aufsieht. Sein Blick wird weicher und ein Lächeln huscht auf seine Lippen. Ich bin ihm noch nie begegnet und trotzdem glaube ich zu sehen, dass er mich erkennt.
„Ich kenne dich", sagt er und lässt von dem Fass ab, das er eben anheben wollte. „Morris, lass die Kleine los." Der Mann zögert, doch löst seinen Griff. Mit einer Kopfbewegung schickt er den Mann weg und kommt näher. „Mein Bruder hat mir von dir erzählt." Ich halte den Atem, weil ich nicht weiß, wie viel James ihm erzählt hat. „Entweder hat er nicht gefragt oder du hast abgelehnt. Nach dem Ball habe ich kein Wort mehr aus ihm bekommen und musste gehen, bevor ich es aus ihm pressen konnte." Er weiß also nicht von der Lüge. Aber er weiß vom Antrag. Erleichterung macht sich in mir breit und ich ziehe den Brief aus meinem Kleid.
„Alistair, könntest du den deinem Bruder geben. Es ist wichtig." Ich halte ihm den Brief entgegen und sehe ihn mit einem Flehen an, das verdeutlicht, wie dringend es ist. Er nimmt ihn zögernd an und sieht auf das Siegel des Königshauses von Merah.
„Wer bist du, Kia?", fragt er und sieht zurück zu mir.
„Eine Prinzessin aus Merah, die ihr Herz an den König von Evrem verlorenhat", antworte ich mit einem Lächeln, das meinem Herzen neue Hoffnung schenkt. Ich werde eine Zukunft mit James haben und einLeben lang, um meine Fehler wiedergutzumachen. Ein Leben lang, wird reichen.
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