
Kapitel 60
Zunae wusste gar nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte, als sie die kleine Stadt erreichten. Die Mauern, die diese schützten, ähnelten Dravar, doch die Größe, die sie einschlossen, war viel gewaltiger. Die Anzahl der Häuser war mindestens doppelt, wenn nicht sogar dreifach so viel wie in Dravar und überbot Kavalare damit weit.
Das war eine Ansammlung von Häusern, die Zunae als Stadt bezeichnen würde.
Es gab sogar Straßen, welche geräumt waren, auch wenn sie löchrig waren. Gut benutzt waren sie dennoch.
Zwischen den vorrangig zweistöckigen Häusern fuhren Kutschen umher, die alle möglichen Waren gelagert hatten. Sie alle steuerten auf das Herz der Stadt, einen riesigen Marktplatz zu.
Zunae konnte die Baukunst bewundern, die diese Häuser hervorgebracht hatte. Unten gab es ein kleines Ladengeschäft und darüber eine Wohnung. Perfekt für Händler oder Handwerker.
»Ladvaran ist die einzige Stadt in den Nordlanden, welche nicht vom Krieger oder Banditen überfallen wurde«, erklärte Aaron zuvorkommen, womit er Zunaes stumme Frage beantwortet hatte.
Wenn die anderen Dörfer und Städte regelmäßig Angriffen ausgesetzt waren, erklärte das den desolaten Zustand. Auch, wenn sie das nicht ganz verstand. Von der Lage her wirkte Ladvaran viel zu zentral und nah am Gebirge.
»Liegt das an den Schutz der Mauern?«, fragte sie, denn an den Steinen, welche den Schutzwall bildeten, hatte sie ein wenig Magie wahrgenommen. Jedoch nicht genug, um wirklich der Grund zu sein.
»Fürst Ladvarian gibt sehr viel Geld aus, um ein stehendes Heer zu finanzieren, das die Stadt von außerhalb und innerhalb verteidigt. Er ist, was Krieger betrifft, neben den König der zweitgrößte Arbeitgeber«, antwortete Aaron, der bewusst weit ausholten. Für Zunae war es wichtig auf ihrer Reise zu lernen.
Sie wollte alles wissen, was es ihr ermöglichte, auch den anderen Dörfern und Städten zu helfen. Sie sollten genauso aufblühen, wie diese Stadt hier. Allerdings fand sie es auch sehr seltsam, dass diese Stadt so ganz anders wirkte. Viel reicher. Hatten sie nur einen besseren Fürsten erwischt, oder waren sie wirklich bisher verschont geblieben?
Zunae konnte sich jedoch nicht mehr so viele Gedanken darum machen, denn sie kamen bereits auf dem Marktplatz an. »Das sieht mir nach einem guten Ort aus«, bemerkte Aaron, der zwischen den anderen Schlitten und Kutschen einen freien Platz ausgemacht hatte.
Allerdings waren ihre Waren anders als die anderen Dinge, die hier angeboten wurden. Die meisten Dinge waren nicht so schwer transportierbar, wie ihre. Kein weiterer Händler hatte Obst oder Gemüse dabei.
Das einzige, was Aaron ausmachen konnte, waren Reis und Weizen. Dinge, die lange haltbar waren.
Ansonsten bestanden die Handelswaren aus Fellen, Leinen, Kristallen und anderen, nicht weit verarbeiteten Rohstoffen.
»Die Gerüchte scheinen wahr«, bemerkte Magnus, der sich ebenfalls umsah, während er ihr Gespann positionierte.
Nach dem Eingangstor hatten sie die Kufen wieder durch Räder ersetzen müssen, sonst wären sie überhaupt nicht an ihr Ziel gelangt. Das würde Zunae im Hinterkopf behalten.
»Welche Gerüchte?«, fragte sie und half dabei, alles für den Verkauf vorzubereiten.
»Es heißt in Ladvaran haben sich alle Handwerker der Nordlande angesiedelt«, erklärte Aaron, der einige der Säcke herunterhob, damit sie diese besser präsentieren konnten. »Es ergibt also Sinn, dass so viele Rohmaterialien angeboten werden. Die Handwerker werden sie brauchen.«
Zunae nickte, wundert sich aber, was mit den fertigen Produkten passierte. Sollten sie nicht auch an einem Markttag an die Bevölkerung gebracht werden?
Etwas an diesem Ort hier kam ihr seltsam vor, auch wenn die belebte Stadt sie an zu Hause erinnerte.
Vielleicht war es auch genau das. Dass sie an ihre Heimat denken musste.
In ihrer Brust machte sich ein Schmerz bemerkbar, der sie nicht loslassen wollte.
Was ihre Schwestern wohl gerade taten?
Wie kamen sie mit dem Prinzen der Raenacs zurecht?
Ging es dem Land gut?
Sie spürte Heimweh in sich aufsteigen, schluckte es aber runter. Im Moment musste sie sich auf das Wesentlichste konzentrieren. Sie war nicht hier, um sich in der Stadt umzusehen, sondern um Waren zu verkaufen.
Hoffentlich fanden sie Abnehmer.
Nachdem alles fertig eingerichtet war, warteten sie.
Sie waren am Morgen angekommen und weit nach Mittag hatten sie noch immer nichts verkauft. Stattdessen betrachteten die Leute sie nachdenklich, vielleicht auch neugierig, kamen aber nicht näher.
Aaron fand das seltsam. Er wusste, dass es viele Händler von außerhalb gab und man eigentlich keine spezielle Genehmigung brauchte. Irgendwann würde jemand herumgehen, der die Standgebühren einzog, doch das war auch schon alles.
Warum also fanden sie niemanden, der an ihren Waren interessiert war?
»Was für ein überraschendes Angebot zu dieser Jahreszeit«, erklang eine überraschend hohe Männerstimme und als Aaron den Blick wandte, entdeckte er einen blonden Mann in feinen Kleidern. Sein roter Mantel war von edler Qualität und die Stickereien auf diesem zeugten von hoher Handwerkskunst. Es hätte den vielen Goldschmuck nicht gebraucht, um ihn als Fürst Ladvarian zu erkennen.
»Fürst Ladvarian«, grüße Aaron, der sich fragte, ob er die Jahre über nicht gealtert war, während er sich verneigte. Es war lange, dass er den Fürst gesehen hatte. Damals war er noch ein Kind gewesen und hatte seinen Vater begleitet. Auch damals schon hatte der blonde Mann mit den intensiven, grünen Augen so ausgesehen wie jetzt. Vielleicht nicht ganz so muskulös.
War es vielleicht sein Sohn, der in die Fußstapfen seines Vaters getreten war?
Die anderen verneigten sich ebenfalls, auch wenn es Zunae schwerfiel, sich angemessen zu verhalten. Der musternde Blick des Mannes, der skeptisch, aber auch irgendwie neugierig über ihre Waren glitt, gefiel ihr nicht.
»Woher kommt ihr Händler?«, fragte er neugierig. »Waren wie eure sind hier so selten. In dieser Jahreszeit überhaupt nicht erwartbar«, sagte er mit einer Spur von Skepsis.
Zunae wurde klar, dass er vermutlich dachte, dass die Waren nicht echt waren.
Vielleicht glaubte er, sie wollten die Bewohner der Stadt mit diesen täuschen und ihnen das Geld aus der Tasche ziehen. Aber reichte das, um dafür persönlich herzukommen und nachzusehen?
Sie dachte an sich. Wäre sie in der Stadt zugegen und jemand hätte ihr erzählt, dass ein Händler unmögliche Waren verkaufte, hätte sie definitiv nachgesehen. Nur nicht so öffentlich. Sie hätte es geschickter und verborgener gemacht, aber vielleicht war das einfach seine Art.
»Aus Kavalare«, erwiderte Aaron, der als ehemaliges Oberhaupt das Sprechen übernommen hatte.
Fürst Ladvarian blickte ihn überrascht an. »Bist du etwa Aaron Kaerel? Der Sohn des ehemaligen Oberhauptes Astaron?«, fragte er sofort, als könne er sich an ihn erinnern.
Aaron neigte in einer bestätigtenden Geste den Kopf. »Das bin ich«, erwiderte er. »Mittlerweile steht das Dorf unter der Herrschaft der zukünftigen Königin«, erklärte er, was Fürst Ladvarian die Lippen verziehen ließ.
»Davon habe ich gehört. Mein Beileid. Einer Frau zu dienen muss sicher schwer sein«, sagte er mit vollem Ernst, was Aaron innerlich zucken ließ. Er schielte zu Zunae herüber, die sich nicht rührte und auch nicht getroffen wirkte. Stattdessen blickte sie ihn lauernd an, aber so, dass man es nicht bemerkte. Sie hielt noch immer ihre leichte Verneigung bei, wie es auch Magnus und Leroy taten. Einem Söldner einem Fürst gegenüber angemessen, doch sie war die zukünftige Königin! Es machte Aaron wütend, dass sie sich verneigen musste und wie er über sie sprach, doch er konnte nicht viel tun.
»Ich war ehrlich gesagt überrascht darüber, wie großzügig sie ist«, erwiderte Aaron stattdessen. »Dank ihr konnten wir unsere alte Landwirtschaft wieder ausbauen«, erklärte er und deutete auf die Waren.
Sofort wanderten die Augen des Fürsten wieder nachdenklich über das Angebot. »Das erklärt einiges«, sagte er, wobei seine Augen funkelten. »Ich habe allerdings auch von vermehrten Banditenangriffen gehört. Einmal soll die Königin anwesend gewesen sein. Stimmt das?«, fragte er, wobei ehrliche Neugier in seinen Worten mitschwang.
Aaron zögerte einen Moment, aber ihm blieb nichts weiter, als die Wahrheit zu sagen. Eine Lüge könnte nur dafür sorgen, dass es Probleme gab. Besonders, wenn die Gerüchte schon bis hierher vorgedrungen waren.
»Das ist wahr. Kavalare hat viele Bewohner verloren und auch viele Krieger. Wäre die Königin nicht anwesend gewesen, wäre es das für uns gewesen«, erklärte er ohne eine Spur von Ärger darüber. Er wusste sehr genau, wo seine Heimat stand. Junge oder Alte und Schwache. Mehr war ihnen nicht geblieben. Die Krieger waren gegangen und die geschickten Handwerker hatten sich in Ladvaran angesiedelt.
»Das heißt, das Dorf ist wieder sicher?«, fragte Fürst Ladvarian überrascht und musterte Aaron. »So sicher, dass ihr handeln könnt?«
Die Antwort auf diese Frage war offensichtlich, wenn sie ihre Waren hierher gebracht hatten, doch Aaron nickte stattdessen. Es beunruhigte ihn, mit welchen Funkeln der Fürst ihre Waren in Augenschein nahm.
»Das ist gut zu hören. Ihr dürft dieses Mal eure Waren hier anbieten. Beim nächsten Mal erwarte ich ein Schreiben über eure Waren und ein Vorkaufsreicht, damit ich euch passieren lasse«, sagte er selbstgefällig.
Aaron hörte von dieser Praxis das erste Mal, nickte jedoch zustimmend. Im Moment war Ladvaran der einzige Ort, an dem sie ihre Waren an den Mann bringen konnten. »Sollte es der Königin zusagen«, erwiderte er, wobei er sich Mühe gab, nicht zu dieser zu schielen.
Zunae hörte zu, mischte sich jedoch nicht ein. Dieser Mann hatte ein Gespür für den Handel, das wollte sie gar nicht abstreiten, doch sein Vorkaufsrecht machte ihr Sorgen. Allerdings war es auch sein gutes Recht, Bedingungen aufzustellen, wenn sie in der Stadt verkaufen wollten. Wie fair sie am Ende waren, würde sich zeigen müssen.
»Stell sie mir bei Gelegenheit vor«, wies Fürst Ladvarian Aaron an. In einem Ton der Selbstverständlichkeit.
»Es wird sie sicher freuen, wenn Ihr uns in Kavalare besuchen kommt, sobald sie bei uns residiert«, erwiderte Aaron, was Fürst Ladvarian nur lachen ließ.
»Ihr werde doch nicht euer kleines, schäbiges Dorf aufsuchen. Sieh zu, dass du sie hierherbringst«, sagte er abwinkend und wandte sich bereits ab. Allerdings ging er nicht, sondern wies seinen Soldaten, die in der ganzen Zeit in seiner Nähe gestanden hatten, die Hälfte der Waren an sich zu nehmen.
Während er ging, packten sich die Männer die Körbe voll, ohne auch nur einen Talber dafür zu zahlen.
Zunae sah zu und hielt Aaron, der wütend die Fäuste ballte, zurück. Sie merkte sich jedes einzelne Stück und war sich nicht zu fein, die Dinge in Rechnung zu stellen.
Fürst Ladvarian mochte von ihr nicht viel halten, doch wenn er glaubte, dass er ihr überlegen war, weil er Geld und Einfluss besaß, hatte er sich getäuscht. Sie würde auch nicht zurückweichen, weil sie eine Frau war. Wenn er Krieg wollte, dann würde sie ihm diesen geben. Niemand sagte, dass sie Ladvaran für immer als ihren Handelsplatz nutzten mussten.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro