Schleppnetze
Eine unbändige Wut erfüllte Modi, machte ihn rastlos, seit dem Tag des Unglücks. Trübes Licht von einem wolkenlosen Nachthimmel fiel in die Höhle, die an der steilen Felswand unter Wasser gelegen war. Wie lange starrte er jetzt schon ins Wasser hinaus und sann vor sich in? Eine Stunde? Zwei? Er vermochte es nicht zu sagen. Es spielte auch keine Rolle. Mit zusammengebissenen Zähnen, um seine Trauer und seinen Zorn zu zügeln, warf er einen Blick über die Schulter zu seinen beiden Söhnen, die eng verschlungen in der geflochtenen Seegrashängematte schliefen. Die beiden litten am Verlust ihrer Mutter ebenso wie Modi an dem seiner Frau. Keana. Er hatte ihre verzweifelten Schreie immer noch im Ohr, doch er hatte sie nicht retten können. Langsam schloss er seine Augen, senkte den Kopf und ließ sich wieder einmal von der Erinnerung überrollen.
Keanas silbernes Haar wirbelte im Wasser umher, während sie dem kleinen Tjabo nachjagte, der vor Vergnügen quietschte. Der Kleine hatte die gleiche silberne Flosse, die gleiche blasshelle Haut, das gleiche Silberhaar und die gleichen im hellen Grau funkelnden Augen wie seine Mutter. Quany, der Erstgeborene der zwei Jungs, kam mehr nach Modi, mit seinem tiefblauen Haar und den braunen Augen. Doch während Modis Flosse blaugrün war, war Quanys lilablau. Gerade half der ältere Sohn seinem Vater dabei ein paar schmackhafte Fische für's Abendessen zu fangen. Der Umgang mit dem Speer ar etwas, was er von kleinauf lernte und es gefiel ihm. Noch lieber schwamm er aber um die Wette und er war wirklich gut, weshalb sein Vater seine Wettkampftauglichkeit nur zu gern förderte. Nun aber verhinderte ihm sein kleiner Bruder mal wieder einen Fang, indem er lachend vorbeischwamm und den Fisch aufscheuchte. "Man, Tjabo! Lass das und guck, wo du hinschwimmst!" Der Jüngere flüchtete kichernd zu seiner Mutter, schaute scheu zu seinem Bruder zurück und murmelte eine Entschuldigung. Keana lächelte bloß, schloss ihren Sohn in die Arme. "Da hat dein Bruder schon recht, Tja. Du musst aufpassen. So ein Speer ist nicht ungefährlich, verstehst du?" Der Kleine nickte beschämt und beobachtete seinen Bruder neugierig, der schon längst wieder konzentriert auf sein nächstes Ziel lauerte. "Komm, Tjabo, schwimm zu deinem Bruder, sei still und schau ihm zu, ja? Du kannst noch was von ihm lernen. Ich muss noch was aus den tieferen Gewässern holen." Der silberhaarige Junge nickte, flüsterte seiner Mutter noch ein schnelles "Hab dich lieb, Mama" ins Ohr, ehe er sich zu Quany bewegte und dort ruhig im Wasser verharrte. Modi sah von seiner Tätigkeit auf und winkte seiner Frau mit liebevollem Lächeln nach, ehe sie in der düsteren Tiefe verschwand.
Ein tiefes, lautes Brummen schreckte Modi schließlich aus seiner Konzentration auf und auch die beiden Jungen schauten sich verwirrt um, beobachteten, wie die Fische völlig durcheinander davonstoben. Quany sprach als Erstes, wurde allerdings Modi unterbrochen. "Vater? Ist das-" "Ja, Quany. Fischer." Mit sorgenvoller und zugleich grimmiger Miene versuchte der ausgewachsene Wassermann die Richtung, aus der der laute, alles übertönende Lärm des Schiffsmotors herrührte, festzustellen. Die Menschen waren eine große Gefahr mit ihren immer größer werdenden Schiffen und den immer tiefer reichenderen Netzen. Schließlich entdeckte er es. Es war nah, viel zu nah, hielt auf die Abgründe zu, ein Schleppnetz, das schon gut gefüllt war, hinter sich herziehend. Keana war dort unten. "Quany, bring sofort Tjabo nach Hause und bleib bei ihm", befahl er seinem älteren Sohn in einer Tonlage, die keinen Widerspruch duldete. Der Ältere nickte mechanisch, fasste den Jüngeren, der mit großen, verängstigten Augen von seinem Bruder zu seinem Vater schaute, am Arm und zog ihn mit. Einen Augenblick sah Modi ihnen nach, tauchte dann zielstrebig und so schnell wie möglich in die Tiefe, auf der Suche nach seiner Frau. Es war möglich, dass sie so tief war, dass sie das Donnern des Motors nicht wahrnahm. Wenn sie im Fangbereich des Netzes war... nicht vorzustellen. "Keana! Wo bist du?!"
Summend sammelte die silberhaarige, sanftmütige Wasserfrau einige schmackhafte Korallen, darauf bedacht, bloß nicht zu viel zu pflücken, als sie irritiert den Kopf hob. Hatte sie sich vertan oder hatte sie gerade wirklich gehört, wie jemand ihren Namen rief? Lauschend legte sie den Kopf schief, als ein paar Fische in Eile an ihr vorbeijagten. Langsam drehte sie sich ein wenig, um über die Schulter sehen zu können. Ein weitläufiges Netz raste mit leisem Rauschen und großer Geschwindigkeit auf sie zu. Mit einem erstickten Schrei setzte sie sich in Bewegung, versuchte Abstand zu gewinnen. Wie hatte sie das nicht kommen hören? Wie!? Mit rasenden Gedanken gab sie alles, obwohl sie spürte, wie das Netz unaufhaltsam näher rückte. Wieder dieses Rufen, doch dieses Mal erkannte sie die Stimme ihres Mannes. "Modi! Ich bin hier! Hilf mir!"
"Keana?" Er könnte schwören, sie gehört zu haben. Kurz hielt Modi an, spitzte angestrengt die Ohren, in der Hoffnung nochmal den Klang ihrer Stimme zu vernehmen. Da! Sie... schrie um Hilfe. Panik erfüllte den Wassermann und er setzte sich wieder in Bewegung, beschleunigte so schnell er konnte. Wo war sie? Er jagte ihren Rufen nach, immer weiter, doch schaffte es nicht, sie einzuholen. Sie war ungewöhnlich schnell. Das hieß... nein, bitte nicht. Mit einer dunklen Vorahnung sah Mido nach oben, wo sich zweifelsohne das Fischerboot befand, auch wenn er es nicht sehen konnte. "Moooodi! Hilfe!" Keana! Er kam ihr näher! Schließlich tauchte das Netz wie aus dem Nichts vor ihm auf. Unbeweglich hing es im Wasser, während die vielen unzähligen Fische dicht zusammengedrängt darin zappelten. Nervös suchte Modi zwischen den zappelnden Leibern nach dem vertrauten Silber seiner Frau, seine Hand umklammerte den Speer. Ein erleichtertes Schluchzen. "Modi! Ich bin hier... bitte, hol mich hier raus, bitte..." Endlich erspähte er sie, schoss augenblicklich zu ihr und legte eine Hand an ihre Wange. "Bleib ruhig. Alles wird gut, ich verspreche es." Ihre Augen angsterfüllt, der Körper eingeschnitten von den vielen Seilen. So gut es ging, bemühte er sich die lästigen Maschen zu kappen, ohne seine geliebte Keana zu verletzen. "Mach schnell", flüsterte sie. "Es tut weh. Es tut so weh..." Plötzlich und ohne Vorwarnung begann das Netz nach oben zu schießen. Hilflos sah Modi seiner schnell verschwindenden Frau nach, hörte, wie sie gellend seinen Namen schrie. Es war nicht so, dass er nicht versuchte, ihr zu folgen - das Netz wurde einfach zu schnell eingezogen.
Ihr eigener endloser, halb erstickter Schrei hallte in ihren Ohren. Überall waren Luftblasen, die Seile schnitten ihr ins Fleisch, die Unmenge an zappelndem Fisch drückte mit solcher Stärke gegen sie, dass sie das Gefühl hatte, ihre Knochen würden bersten und der Sauerstoff in ihrem Blut würde abnehmen. Und die Oberfläche kam viel zu schnell Nahe, der Druck nahm viel zu schnell ab. Schmerzen jagten durch ihren ganzen Körper, ein leises Knacken durchfuhr ihn. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen und die Ohnmacht griff nach ihr. Minuten später gaben nervöse Rufe ihr die Sinne zurück. Mühsam blinzelnd öffnete Keana ihre Augen, realisierte ganz langsam, dass sie auf einem Schiffsdeck lag, mehrere junge Männer, deren Haut bereits vom Wetter gegerbt war, wetterfeste Kleidung tragend, starrten sie völlig ungeniert an. "Käptn, du wirst es nicht glauben! Hier... äh... ist ein... Fischweib?" Die Worte drangen wie durch eine Nebelwand an ihre Ohren, viel realer war der Schmerz. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als wäre sie zwischen zwei Felsen geraten. "Aber sowas gibt's doch gar nicht, das sind doch nur Märchen", warf eine dümmliche Stimme ein. Tränen füllten Keanas Augen, rannen ihre Wangen hinunter. Sie taten nichts. Sie sahen ihr beim Sterben zu. Und immer mehr Fisch platschte aus dem Netz auf's Deck, wurde mit Wasser in den Schiffsbauch gespült, was verhinderte, dass sie selbst ihre menschliche Gestalt annahm. Ein metallischer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Erst jetzt realisierte sie, dass sie Nasenbluten hatte. Wo war Modi? Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn und die Jungs liebte. Ihr Verstand driftete langsam ab, wurde jedoch rabiat zurück in die Realität gerissen, als ein alter Mann sie unsanft an den Haaren fasste und ihren Kopf hochriss. Er schrie irgendwas und die fragende Neugier der jungen Männer wandelte sich in finstere Freude. Was sagte er? "...kein Märchen! Diese Kreaturen sind nicht menschlich! Das sind missratene, mutierte Fische! Der überwiegende Großteil ist darauf ausgelegt, Menschen zu töten. Und wisst ihr was?!" Die Rufe der jungen Männer zeugten von Entrüstung, die Blicke, die sie Keana zuwarfen, zeigten Ekel und Abscheu. Sie vertrauten ihrem alten Kapitän blind. "Es gibt Leute, die zahlen für solch Fischwesen absolute Spitzenpreise!" Angst flutete das letzte Bewusstsein der silberhaarigen Wasserfrau und sie begann in Panik markerschütternd zu schreien. Sie wusste ganz genau, wovon dieser Mann sprach, doch hatte sie es bisher nur für ein Gerücht gehalten, dass magische Wasserwesen, ganz gleich ob Wassermann, Sirene, Nixe, Selkie, Kelpie oder Ichthyozentaur, als Delikatesse gehandelt wurden. Ein scharfer, stechender Schmerz in ihrer Brust. Merkwürdig, dass die Schmerzen überhaupt noch zunehmen konnten. Sie hatte das widerliche Grinsen des alten Mannes vor Augen. Er hatte irgendetwas in ihr Herz gerammt, so musste es sein. Schmerz. Ihr Schrei. Dieses Grinsen. "Legt es kalt. Es soll ja frisch bleiben." Und dann? Nichts mehr. Allumfassende Schwärze.
"Neeeeein! Keana! Keana... bitte, bitte nicht..." Pure Verzweiflung lag in Modis Stimme. Und obwohl er wusste, wie sinnlos seine leise Hoffnung doch war, so hoffte er trotzdem. Sie konnte nicht... sie durfte einfach nicht... tot sein. Noch nie hatte er so etwas Grauenvolles wie ihren letzten Schrei gehört, der dann so plötzlich verstummt war. Und doch wusste er es - sie war tot. Keana war tot. Seine über alles geliebte Frau, Mutter ihrer beiden Söhne. Fort. Für immer. Er trieb mit dem Oberkörper über dem Wasser, schaukelte mit den Wellen mit. Es interessierte ihn nicht, dass das salzige Wasser immer wieder tropfenweise in seinen Mund gelangte. Seine Sicht war verschwommen und heiße Tränen benetzten seine Wangen. Jubelten diese Menschen da gerade etwa wirklich?! Wie konnten sie es wagen?! Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er schrie absolut unkontrolliert all seine Wut und Trauer, die sich in ihm angesammelt hatten, hinaus. Da. Ein alter Mann schaute über die Reling. Ihre Blicke kreuzten sich. Hass loderte in Modi auf, als er sichtliches Vergnügen in den Augen des Mannes las, der ihm zu allem Überfluss auch noch die Hand zum Winken hob, ein blutiges Messer umklammernd. Schnaubend tauchte der Wassermann ab, dessen bisheriges Leben gerade zerfallen war. Rache. Auf nichts anderes sann er mehr. Und wenn es das letzte war, was er täte. Diese... Menschen verdienten etwas Schlimmeres als nur den Tod. Der Anblick des Schiffes und ebenso der alte Mann hatten sich gemeinsam mit dem Todesschrei seiner Frau in seine Erinnerungen gebrannt.
Als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte, zuckte Modi erschrocken zusammen, starrte einen Moment orientierungslos umher, bis er schließlich die Erinnerung hinter sich lassen und das vertraute Gesicht seines älteren Sohnes fixieren konnte. "Vater", flüsterte Quany leise, um den kleinen Tjabo nicht aufzuwecken. "Du hast wieder geweint." Der Vierzehnjährige war in den letzten Tagen erwachsener geworden als in den letzten Jahren. Sein Vater hüllte sich in eine Wolke aus Trauer, Hass und Schuld, war beinahe ununterbrochen unterwegs, suchte Informationen über jenes Schiff, das den Tod Keanas mit sich gebracht hatte. Sich um Tjabo zu kümmern, der die ganze Situation nicht verstand, fiel Quany zu. Beinahe trotzig wischte der ausgewachsene Wassermann sich über die Augen, damit sein Sohn die Tränen nicht sah. "Vater, bitte. Ich... bitte dich. Was soll ich Tjabo sagen? Er fragt immer wieder, wo Mama ist. Er versteht nicht, was tot bedeutet. Er will sie noch einmal sehen. Bitte hilf mir, geh nicht wieder weg, wir brauchen dich jetzt." Unbewusst hatte Quany seine Hand beim Reden stärker in die Schulter seines Vaters gebohrt, der diese nun wie ein lästiges Anhängsel abschüttelte und seinen Sohn, der nur raten konnte, was im Kopf seines Vaters vor sich ging, mit einem undurchdringlichem Blick ansah, um sich schließlich zu einer brüchigen Antwort durchzuringen. "Mach dir keine Sorgen, Quany. Du machst das gut. Ich werde für euch da sein." Sobald er dafür gesorgt hatte, dass jedes einzelne Crewmitglied dieser verfluchten Fischfahrt seinen Weg ins tiefe, dunkle, nasse Grab der See gefunden hatte, aber das konnte er seinem Erstgeborenen jetzt nicht sagen. "Geh wieder schlafen." Der Ausdruck von Zweifel in Quanys Augen sprach Bände und doch ließ er sich mit wenigen Flossenschlägen wieder neben seinem kleinen Bruder mit seinem verwuscheltem, silbernen Haar nieder, der im Schlaf wieder zu schluchzen begonnen hatte. Modi lauschte mit den Jungen zugedrehtem Rücken, wie Quany ein Lied zu singen begann, bis das Schluchzen Tjabos verstummte. Erst als er sicher war, dass die beiden Jungen schliefen, verließ Modi die Höhle, ließ hinter sich, was ihm jetzt noch blieb. Seine Schätze, seine gefangenen Seelen und ganz besonders seine Jungen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro