09 || Ash - Wiedersehen ||
- Ash -
09 || Wiedersehen ||
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Ich hatte damit gerechnet. Irgendwie schon und irgendwie auch wieder nicht. Es wäre logisch gewesen und letztendlich war es das ja auch.
Dennoch hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, einfach weil gewisse Dinge im Leben nicht passierten. Zufälle gab es in Filmen, in Büchern wahrscheinlich auch. Aber nicht im Leben, zumindest nicht in meinem.
Fleur war aufgewacht, das hatte George mir zumindest erzählt. Und ja, ich hatte ihm auch geglaubt. Denn wie dumm er auch war, er war in diesen Dingen kein Lügner. Ich hatte – natürlich – überlegt, was jetzt geschehen würde. Hatte die Möglichkeiten betrachtet und war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass sie psychische Hilfe benötigte. Aber dass sie hier landen würde, hier bei mir, das hatte ich nicht mit einberechnet. Einfach weil es ein zu großer und auch ein zu schrecklicher, böser, teuflischer Zufall gewesen wäre.
Dieser Zufall, man könnte ihn auch Schicksal nennen, war irre. Wirklich wahnsinnig. Unvorstellbar. Aber nun gut, es passierte. Und es traf mich, trotz aller vorherigen Vermutungen, voller Wucht.
Ich entdeckte sie in dem Moment, in dem sie den Speisesaal betrat. Anfangs glaubte ich meinen Augen nicht, glaubte, dass sie mir der Teufel einen Streich spielte und mich vorführen wollte. Aber ihre Bewegungen, die Art ihrer Gestik und Mimik, ihre Blicke, die über Tische und Stühle schweiften, waren so die ihren, dass sie keine meiner Halluzinationen sein konnte.
Sie war real. Und sie war wunderschön.
Natürlich war sie wunderschön. Jedes Detail an ihr, die Art, wie sie sich bewegte, wie sie für den Bruchteil einer Sekunde im Türrahmen innehielt und ihre Umgebung in sich aufsaugte. Natürlich war sie wunderschön. Was hatte man von Fleur Chevalier auch anderes erwarten können. Ihre roten Haare zu einem Zopf geflochten, der über ihre Schulter fiel. Eine schwarze Jeans und darüber ein schwarzer Pullover, der ihren Körper versteckte.
Ich dachte an ihren Körper, in diesem Moment. Natürlich wusste ich, dass solche Gedanken, noch dazu in diesem Moment fehl am Platz waren. Dass solche Dinge einem nicht im Kopf herumschwirren durften, noch dazu in einer solch schwierigen Situation.
Dennoch, und dagegen konnte ich tatsächlich nichts tun, sehnte mein Körper sich nach dem ihren.
Ich erfuhr nie, wie sie sich in diesem Moment fühlte, was sie dachte und was sie dazu bewog, mich anzugreifen. Natürlich erkannte ich den Zeitpunkt, als sie mich erkannte. Zuerst verwundert, dann sauer und schließlich völlig panisch. So interpretierte zumindest ich ihre Mimik und Gestik.
Anfangs hatte ich damit gerechnet, dass sie mich ignorieren, dass sie wegsehen und so tun würde, als wäre ich nicht da. Als wäre ich nur irgendeine Person, zu der sie keinerlei Beziehung hatte.
Und doch kam sie auf mich zu und so sehr ich in diesen Sekunden auch darüber grübelte, warum sie das tat, wurde es mir erst bewusst, als es schon zu spät war.
Ich erhob mich, keine Ahnung warum. Eher ein Reflex, den ich in diesem und auch in den darauffolgenden Momenten nicht ganz nachvollziehen konnte. Aber ich tat es und das war wohl eher das Zeichen meiner eigenen Unsicherheit. Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte.
Fleur wusste es allerdings und ihr Blick war so voller Hass und Missmut, Trauer und auch Angst, dass ich nicht wusste, welches ihrer Gefühle dominierte.
Es war der Hass, natürlich.
Sie kam auf mich zu, ich überragte sie um einen halben Kopf und dennoch fühlte ich mich so viel kleiner als sie, in diesem Moment. Ich roch ihren Duft nach Honig und einer anderen Note, die ich nicht wirklich zuordnen konnte. Ich wollte bereits meine Hand nach ihr ausstrecken, wollte ihre Haut berühren, wollte sie in meinen Arm nehmen und sie beschützen.
Doch vor seiner eigenen Vergangenheit konnte man einen Menschen nicht beschützen.
Ich hätte sie nicht einmal in dem Arm nehmen können, hätte ich das, was ich in diesem Moment dachte und auch tun wollte, wirklich getan. Aber stattdessen blieb ich wie versteinert stehen und starrte sie an, voller Ungewissen und Schock.
Und dann kam der Schlag.
Und auch wenn ich mit vielem gerechnet hatte, war es doch nicht das gewesen. Sie schlug mich. Ihre Faust traf voller Wucht in mein Gesicht. Ich torkelte zur Seite, eher vor Verwirrung, als dass mir der Schlag wirklich etwas angetan hätte.
Ein Schrei hallte durch den Raum. Ihr Schrei. Und dann ihre Worte, die mich tatsächlich noch fester trafen als ihre Faust zuvor.
„Ich hoffe du verreckst!" Sie sprach ganz leise, fast ruhig. Ihr Gesicht war vor Wut rot angelaufen und ich konnte es mir nur für den Bruchteil einer Sekunde einprägen, bevor sie sich von mir wegdrehte und mit zu Fäusten geballten Händen den Raum verließ.
*****
Ich weiß nicht, wer von den anderen Jugendlichen Doktor Domun holte. Und eigentlich wäre es mir auch egal gewesen, hätte es nicht solche Konsequenzen herbeigezogen.
Ich hatte ihn von Anfang an nicht wirklich gemocht, den Doktor. Es lag nicht an ihm, gewiss nicht. Ich hasste nun einmal Menschen, die zu detaillierte Fragen stellten. Fragen hatte ich viele beantworten müssen, in den letzten Monaten. Ob mir irgendetwas aufgefallen sei, ob ich mich an den Täter erinnern könne. In welchem Raum ich mich zur Tat befunden hatte.
Mit der Zeit wurde man es leid, solche Antworten zu geben. Lügen, weil man gewisse Dinge verstecken musste. Lügen, weil man andere Leute schützen wollte.
Aber man konnte niemanden schützen. Nicht andere und auch nicht sich selbst.
„Was ist passiert, Ash?"
Er saß vor mir, die Hände ruhig auf die Tischplatte vor sich gelegt. Mit seinem stetigen Blick betrachtete er mich. Ich wollte wegsehen, konnte aber nicht.
„Gar nichts ist passiert, habe ich Ihnen doch schon gesagt."
Ich versuchte das alles zu ignorieren, mein pochendes Herz und die Hand, die sich um meine Kehle geschlossen hatte. Ruhig bleiben war das oberste Gebot. Noch dazu, wenn man vor Doktor Domun saß, der unbedingt die Antworten wissen wollte. Wissen musste, weil es sein Job war.
„Sie kennen Fleur Chevalier?"
Ihr Name brannte sich tief in meinen Kopf, hallte wieder und wieder durch meine Gedanken. Wie oft ich ihren Namen in den letzten Monaten vor mich hingemurmelt hatte.
„Ja, habe ich doch schon gesagt."
„Ihr seid auf eine Schule gegangen?"
„Ja, in dieselbe Stufe."
„Wie genau hast du sie gekannt?"
„Gar nicht." Ich log bei dieser Antwort nicht. Niemand hatte sie wirklich gekannt, nicht einmal ihre beste Freundin. Wahrscheinlich nicht einmal ihre Familie.
„Ihr ward befreundet?"
Warum wollte er das alles wissen? Genervt und auch, natürlich, an die Zeit zurückerinnert, vergrub ich meinen Kopf für einen kurzen Moment in meinen Händen, bevor ich dann wieder aufblickte.
„Meine Güte. Wir waren kurzzeitig in einem Freundeskreis. Mehr nicht. Ich habe sie nicht wirklich gekannt, sie hat mich nicht wirklich gekannt."
„Und warum hat sie dich dann heute angegriffen?"
„Keine Ahnung. Das sollten Sie vielleicht Fleur fragen und nicht mich." Ich verschränkte meine Hände ineinander und hoffte inständig, dass dieses Frage-Antwort-Spiel endlich ein Ende fand.
„Wer war alles in dieser Clique?" Ich stöhnte auf.
„Warum ist das wichtig, Doktor Domun?"
„Weil ich wissen muss, warum Fleur versucht hat sich das Leben zu nehmen."
Ich sah ihn stillschweigend an. Mein Herz musste so laut pochen, dass er es hören konnte.
„Dabei kann ich Ihnen wohl nicht helfen." Meine Worte klangen wie von einer entfernten Welt. Sie klangen stumpf in meinen Ohren und dennoch erstaunlich ruhig.
„Schade, Ash."
„Ja, schade." Ironie. Das ich dazu überhaupt noch fähig war.
„Gut, Ash. Dann war's das wohl für heute."
Er erhob sich. Ich erhob mich. Er lächelte. Ich lächelte.
„Du kannst jetzt gehen, Ash."
Ja. Dabei wollte ich etwas sagen. Irgendetwas. Ich wollte ihm helfen, irgendwie. Ich wollte ihm helfen, Fleur zu helfen. Aber ich hatte keinerlei Ahnung, wie ich das tun konnte.
Also drehte ich mich um und verließ den Raum.
Verdammte Scheiße.
Ich verließ den Raum und sagte nichts.
Schon wieder hielt ich meinen Mund.
So wie immer.
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