08 || Fleur - Wiedersehen ||
- Fleur -
08 || Wiedersehen ||
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Ich wachte auf, weil meine Gliedmaßen brannten. Sie brannten lichterloh. Doch das Feuer war nicht real, es loderte nur in meinem Inneren und verzerrte meine Wahrnehmung auf die Wahrheit.
Anfangs, als ich meine Augen öffnete, wusste ich nicht, wo ich war.
Da war Licht. Viel Licht, das durch ein Fenster in den Raum schien. Da waren ein Bett, unangerührt, und ein Schreibtisch. Und neben mir war die Tür. Die Tür, die ins Badezimmer führte.
Ich stöhnte, erhob mich, stolperte zum Waschbecken und riss den Wasserhahn auf. Das kalte Wasser prasselte auf meine trockenen Hände. Ich drückte sie gegen mein Gesicht, genoss die Kälte und schloss meine Augen.
Ich war eingeliefert worden.
Mit der Kälte kehrte auch die Erinnerung zurück, doch so schlimm war es nicht. Ich betrachtete die Wahrheit aus sichere Entfernung, sorgte gekonnt dafür, dass sie mir nicht zu nah kam.
Vielleicht stand ich eine Stunde am Waschbecken, das Wasser immer und immer wieder ins Gesicht drückend. Vielleicht auch nur zehn Sekunden, bis ich mich löste.
Grüne Augen starrten zurück, als ich mich aufrichtete. Rote Haare, die in einem Zopf zurückgebunden waren und aus dem sich bereits wenige Strähnen gelöst hatten.
Mein Spiegelbild wirkte erbärmlich, wenn man es mit dem vor wenigen Tagen verglich. Kein Lächeln, kein Funkeln. Kein Make-Up, das das Schlimmste be- und verdeckte.
Meine Mutter und ich hatten dafür gesorgt, dass man mir den Schmerz nicht ansah, dass alles wieder so werden könnte wie früher. Vor einer Woche hatte ich meine Haare wieder rot färben lassen.
Vor drei Tagen war ich zur Maniküre gegangen. Meine Nägel waren nun nicht mehr abgekaut, stattdessen wirkten sie verlängert und schwarz geradezu elegant.
Äußerlich brauchte es nicht viel um wieder die zu werden, die ich einst war. Tagsüber da schminkte ich mich, weil ich es nicht ertragen konnte, so zu sein wie meine ehemaligen Klassenkameradinnen.
Ich hatte diese Mädchen verabscheut, die, sobald ihr Freund sich von ihnen getrennt hatte, ungeschminkt in die Schule gekommen waren. Nur um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Fragen beantworten zu können, warum sie denn so verheult aussähen.
Und auch wenn es bei mir eine andere Situation war, nun gut, ich hatte versucht mir das Leben zu nehmen, wollte ich doch noch immer nicht so enden wie sie. Ich wollte mir mein Äußeres bewahren. Wollte nicht auffallen, zumindest nicht auf diese erbärmliche Art und Weise.
Vielleicht wollte ich mir auch nur einfach die Lüge aufrechterhalten, dass ich doch irgendwie stark war. Dass es in mir einen Teil gab, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte. Dass es noch ein Zurück gab und auch einen Ausweg aus meiner Situation.
Ich benutzte die Schminke, meine Haare, meine Nägel und auch meine Klamotten nicht als Maske. Sie waren kein Teil meines falschen Lächelns und meiner falschen Antworten. Sie waren die einzige Möglichkeit die Stärke in meinem Inneren zu erhalten und sie ließen gleichzeitig nicht zu, dass ich mich erneut aufgab. Dass ich alles von mir stieß, das mir einst was bedeutet hatte.
Normalerweise hätte ich mich geschminkt und auch umgezogen. Doch die Tatsache, dass meine Eltern mich in einer Nacht und Nebelaktion ohne Habseligkeiten verschleppt und hierhergebracht hatten, zerstörte mir diese Möglichkeit. Und so musste ich die schwarze Jeans, den schwarzen Pullover und auch meine schwarzen Boots anlassen. Mein blasses Gesicht blieb blass und ich machte mir auch nicht die Mühe meine Haare erneut und diesmal ordentlicher zu flechten.
Wenn ich schon in einer Klapse war, dann musste ich doch auch mindestens den ersten Tag verrückt aussehen. Schließlich wollte ich meinem neuen Zuhause gerecht werden.
Wieder in meinem Schlafzimmer versuchte ich die Tür zu öffnen. Ich hatte wirklich geglaubt, sie sei verschlossen. Sie war es nicht und das belustigte mich.
Keine Ahnung, warum.
Der Gang wirkte bei Tageslicht noch breiter und noch heller. Mehrere Fenster zeigten nach draußen und ließen die Sonnenstrahlen herein, die diese Stimmung auf positive Weise verzerrten. Die Sonnenstrahlen wirkten falsch, unecht, nicht passend.
Ich wollte mich abwenden, von den Fenstern. Wollte mich wirklich wegdrehen und die Vorstellungen ignorieren, die langsam in meinem Gehirn aufkeimten.
Eigentlich hätte ich die Treppe nach unten nehmen sollen. Und während ich diesen Gedanken beendete, lag meine Hand bereits auf dem Fenstergriff.
Er ließ sich tatsächlich in eine andere Richtung drehen. Und das Fenster öffnete sich.
Diesmal lachte ich laut. Und herzhaft. Wie einfach es wäre, mich aus dem zweiten Stockwerk zu werfen. Aus dieser Höhe könnte man tatsächlich sterben.
Ich schloss das Fenster wieder.
Atmete durch. Versuchte das Grinsen aus meinem Gesicht zu verbannen.
Ich war mir sicher, dass es nicht funktionierte.
Das Lächeln war der einzige Schutz, den ich mir über die letzten Wochen hatte aufbauen können. Das Lächeln machte Angst und das Lächeln ließ andere erstarren.
Wenn ich lächelte, wenn ich so lächelte, dann konnte ich mir gewiss sein, dass niemand mehr mit mir reden wollte, dass sie sich von mir abwendeten und mich in Ruhe ließen.
Aus diesem Grund lächelte ich oft.
Ich wandte mich von dem Fenster ab, versuchte den Sog zu ignorieren, der von der Tiefe und dem möglichen Tod ausging. Ich wollte nicht sterben.
Nicht wirklich. Nicht mehr.
Ich wollte, dass es wieder so wurde wie früher. Auch wenn das unmöglich war. Nur ein unerfüllbarer Wunsch neben all den tausend anderen.
Früher war vorbei und würde nie wieder zurückkehren.
Die Vergangenheit war vergangen.
Und die Zukunft würde zur Hölle werden, wenn ich es nicht auf die Reihe bekam.
Und ich musste es auf die Reihe bekommen.
Mein Weg führte den Gang entlang und mit jedem weiteren Schritt wurden die Gedanken in meinem Kopf leiser. Mein Kopf schwieg und dafür war ich unendlich dankbar.
Ich wusste und verstand auch nicht, warum Doktor Domun mir dieses Vertrauen entgegenbrachte, allein den Weg zu finden, der unweigerlich zu den Essensräumen führen musste. Ich verstand nicht, warum er mich nicht begleiten wollte, warum er niemanden geschickt hatte, der mich vor den offenen Fenstern schützen konnte.
Vielleicht sah Doktor Domun etwas, was ich nicht sehen konnte.
Oder aber er verstand mich nicht und nicht die verfaulten Gedanken, die sich in meinem Kopf tummelten und die Schrecken verbreiteten.
Wie erwartet fand ich mein Ziel. Die Treppe war die einzige und auch plausible Möglichkeit, da die anderen Türen verschlossen waren und genauso aussahen wie meine. Dieses Mal versuchte ich sie nicht zu öffnen.
Ich ging nach unten, Stufe für Stufe und war mir durchaus bewusst, dass ich anderen Verrückten begegnen konnte.
Verrückte gab es in dieser Stadt viele.
Und mindestens einen, nun gut vielleicht zwei, hatte ich gekannt.
Sehr gut gekannt. Zu gut gekannt.
Und all die Verrückten befanden sich an diesem Ort. Und ich hatte keine Ahnung wie sie auf mich reagieren würden.
Ich war zu einer Attraktion geworden, in gewisser Weise. Ein Mädchen, das sich in dem Pool eines Freundes versucht hatte das Leben zu nehmen erregte Aufmerksamkeit. Die Leute zerrissen sich das Maul über mich und sie taten alles dafür immer auf dem neusten Stand zu bleiben.
Spätestens heute, vielleicht sieben oder acht Stunden nach meiner Einweisung, würden die ersten aasfressenden Geier bereits wissen, was mit mir geschehen war.
Es war mir insofern egal, weil ich es nicht ändern konnte.
Und weil ich es nicht ändern wollte.
Die Leute hatten mich schon vorher gekannt und gehasst. Sie hatten hinter meinem Rücken über mich geredet und hatten Spaß daran gefunden, mich nieder zu machen.
Damals schon hatte ich sie ignoriert. Und ich war so gut darin geworden, dass mir auch jetzt, Monate später, die Meinung anderer noch immer nicht wichtig war.
Sie hassten mich, egal was ich machte. Und dieser Hass beruhte auf Gegenseitigkeit.
Ich hatte Glück, dass ich niemandem von den Verrückten auf meinem Weg nach unten begegnete. Das lichtdurchflutete Treppenhaus war leer und ruhig und ließ nicht ahnen, was sich in der unteren Etage befinden würde.
Oder wohin ich überhaupt unterwegs war.
Ich irrte gewissermaßen durch die Irrenanstalt ohne zu wissen, was ich suchte. Vielleicht andere Menschen, vielleicht Doktor Domun. Oder eine Krankenschwester.
Wenn es hier denn Krankenschwestern gab.
Oder aber man nannte sie hier anders.
Ich fand niemanden auf den leeren Gängen und auch die meisten der Türen ließen sich nicht öffnen. Insgeheim fragte ich mich, ob die anderen Insassen, die Irren, eingeschlossen waren. Ob sich hinter jenen Türen die verrückten Mörder und Vergewaltiger aufhielten.
Auch wenn das Unsinn war, wirklich schrecklicher Unsinn, weil ich schließlich in einer Anstalt für Jugendliche war, musste ich lachen. So wie ich immer lachen musste, wenn mein Gehirn verrückt spielte und sich Dinge dachte, vor denen ich doch eigentlich Angst haben müsste.
Und vor denen ich eigentlich auch Angst hatte.
Ganz ganz schreckliche Angst.
Ich fand den Weg ohne es wahrscheinlich wirklich zu wollen. Ich fand den verdammten Speisesaal und ich fand die verdammten Verrückten.
Ich fand sie und sie fanden mich.
Und sie machten mir Angst. Und ich machte ihnen Angst.
Der Raum war groß und er war wirklich schön und als ich ihn hinter einer der offenen Türen fand, konzentrierte ich mich nicht auf die vielen Personen, die mich anstarrten und angafften, sondern nur auf die Details, die sich in ihm versteckten.
Die grauen Tischen und die rosa Blumen auf ihnen. Die weiten, weißen Fenster und der Garten, der sich hinter ihnen befand. Das große Buffet an der rechten Wand der Seite mit dem Obst, mit den Brötchen und mit der großen Auswahl an verschiedensten Müslisorten.
Ich achtete nicht auf die Personen, weil ich ihren Anblick nicht ertragen konnte. Und weil ich nicht zu ihnen gehören wollte. Weil ich diesen Teil meines Lebens so schnell wie möglich hinter mich bringen musste, ohne andere Mädchen und Jungen kennenzulernen, die das alles verkomplizierten.
Aus diesem Grund sah ich ihn nicht. Den Teufel.
Aus diesem Grund konnte ich in dieser Zelle bleiben ohne zu wissen, dass ich mit ihm eingesperrt war. Dass er mir so nah war. Dass er mich sehen konnte.
Oh, er konnte mich sehen und im Nachhinein bereitete mir dieser Sekundenbruchteil Alpträume. Noch grausamere Träume als die bisherigen.
Und das musste man erst einmal toppen.
Anfangs war ich überfordert. Wirklich überfordert. Mit all dem hier. Mit den leisen Stimmen und den lauten Blicken. Mit dem Lachen, das an diesem Ort so abstrakt klang.
Ich war überfordert, verdammte scheiße und hatte ihn zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht gesehen.
Meine Augen wanderten durch den Raum, sie verharrten nicht an ein und derselben Stelle, schwirrten schnell, fast panisch umher. Ich suchte nach etwas, an das ich mich halten konnte. Ich suchte nach dem Doktor, suchte nach ihm und hoffte, dass ich ihn fand.
Doch nicht er war es, der mir bekannt vorkam. Nicht er war es, an den ich mich haltesuchend klammern konnte in diesem Meer aus Jugendlichen.
Er, der andere, nicht Doktor Domun, saß an einem der Tische. Mir zugewandt. Niemanden neben sich. Er hielt inne, blickte mich an, suchte mit seinen Augen geradezu nach mir.
Seine Augen waren noch immer grau. Seine Haare noch immer blond. Die kleinen Kreolen an beiden seiner Ohren glitzerten in diesem hellen Licht noch immer silbern. Er war noch immer schön, noch immer attraktiv, strahlte noch immer diese Sicherheit aus, nach der ich mich so sehr gesehnt hatte. Er wirkte selbstsicher, selbstbewusst, wirkte eisern, stark und unnahbar.
Er wirkte an diesem Ort so unvorstellbar fehl am Platz.
Und aus diesem Grund und keinem andeten war ich mir sicher, dass er es nicht sein konnte. Es war unlogisch, machte keinerlei Sinn, passte nicht.
Dennoch lief ich auf ihn zu, dennoch ballte ich meine Hände zu Fäusten und näherte mich ihm.
Ich weiß bis heute nicht, warum ich das tat.
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