07 || Fleur - Keine andere Wahl ||
- Fleur -
07 || Keine andere Wahl ||
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Ich war bereits zweimal hier gewesen. An diesem Ort, der doch ganz anders war, als man ihn sich vorstellte. Die Zimmer waren hell und beleuchtet, die Aussicht aus den Fenstern grün und einladend. Die Patienten, zumindest die meisten von ihnen, durften den gesamten Tag nach draußen, durften sich auf dem Gelände frei bewegen. Keine bösen Psychologen. Keine Ärzte, die sich in dunklen Zimmern versteckten und an den Gehirnen der Jugendlichen experimentierten.
Zweimal war ich bereits hier gewesen. Und beide Male hatte ich mich gegen eine Einweisung entschieden. Gegen die Worte meiner Eltern und des Doktors, der mich betreut hatte. Gegen meine Vernunft und gegen meinen Verstand.
Beide Male war ich mit meinen Eltern zurückgekehrt, mit dem Versprechen, sollte es beim nächsten Mal schlimmer werden, das Angebot anzunehmen, wenige Wochen an diesem Ort zu verbringen. In der Psychiatrie. Klapsmühle. Irrenanstalt.
Bis es mir wieder besser ging. Dabei ging es mir nicht sonderlich schlecht, zumindest nicht am Tage, wenn die Dunkelheit und mit ihr die Panik und die Träume verschwanden.
Jetzt saß ich hier. In der Nacht. Verweint, verheult. Ängstlich. In einem dunkel wirkenden, grausamen Raum, der die Panik in mir entfachte.
„Fleur. Ich hatte gehofft, dich nicht so schnell wieder zu sehen."
Doktor Domun saß an seinem gewaltigen Schreibtisch. Das unbeschriebene Blatt auf der gläsernen Tischplatte vor ihm, den Kugelschreiber in der Hand. Er wirkte nicht müde, auch wenn es noch so früh war. Es dämmerte bereits.
Mit jedem weiteren Sonnenstrahl, der durch das Zwielicht kroch, verschwand die Panik in meinem Herzen, machte der Maske Platz, die all meine Ängste und Zweifel verdecken konnte.
„Ich auch nicht." Das Lachen glitt von meinen Lippen, das die Angst übertönte und die Unsicherheit zurück in ihre Schranken zwang.
„Wie geht es dir?"
„Was?" Ich zuckte bei seiner Frage zusammen, sah ihn an. Er lächelte, lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten und schob seine Brille nach oben.
„Ich habe gefragt, wie es dir geht."
Wieder dieses Lachen von meinen Lippen. Wieder dieser Sarkasmus, den ich so sehr hasste. Ich war zu einem Menschen geworden, den ich nicht mehr leiden konnte.
„Mir geht es beschissen. Ich sitze in einer beschissenen Irrenanstalt. Wie sollte es mir da schon gehen?" Ich biss mir auf die Lippe, weil ich wusste, dass ich zu weit gegangen war. Ich mochte Doktor Domun, ich mochte ihn wirklich. Und er wollte mir helfen. Und mit meinen dummen und noch dazu unhöflichen Aussagen brachte ich ihn dazu, mich zu hassen.
„Als du das letzte Mal bei mir warst, ging es dir deutlich besser."
Er ignorierte meine Dummheit und ich war ihm dankbar dafür. Zweimal atmete ich tief ein, versuchte den Hass und die Wut auf mich selbst zu ignorieren und lächelte.
Es war nur ein Versuch, aber vielleicht wirkte das Grinsen auf meinen Lippen nicht wie eine schreckliche Grimasse.
„Da war es aber nicht Nacht."
Er wusste von meinen Alpträumen. Beide Male hatte er bereits mit mir darüber gesprochen und auch wenn ich es mir so sehr gewünscht hatte, hatte sich nichts verändert. Die Träume waren nicht verschwunden, sie waren sogar noch grausamer geworden.
Wenn das denn überhaupt ging.
„Es geht dir nur in der Nacht schlecht?"
Ich nickte. In der Nacht konnte ich mich nicht belügen. In der Nacht konnte ich nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Als wäre es wichtiger, meine Haare zu färben, meine Nägel machen zu lassen und mich weiterhin so zu schminken wie früher.
Aber nichts, rein gar nichts war so wie früher. Die Narben an meinen Handgelenken erinnerten mich schmerzlich daran, auch wenn ich sie versuchte, mit meinen langen Pullovern zu verdecken. Sie verschwanden nicht, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Ich spürte das Prickeln der verheilten Haut, ich spürte den Sog, der mich wieder zu diesem Grauen hinreißen wollte.
Dabei musste ich stark sein. Dabei war meine Maske die einzige Möglichkeit, nicht wieder das zu tun, woran ich kläglich gescheitert war.
„Du solltest hier bleiben."
Es klang fast so, als hätte ich eine Wahl. Dabei wusste ich, dass meine Eltern mich schon längst hier angemeldet hatten. Ich hatte keine Wahl. Ich musste wieder gesund werden. Und das ging nur, wenn ich für wenige Wochen, oder vielleicht sogar Monate in diesem Gefängnis blieb.
Meine Eltern wollten mir nichts Böses, das wusste ich. Sie wollten mir helfen. Sie wollten, dass es mir wieder gut ging. Dabei wusste ich nicht einmal, ob Doktor Domun das schaffen könnte, auch wenn ich jeden verdammten Tag mit ihm sprechen würde. Auch wenn wir meine Probleme ins kleinste Detail hinterfragen könnten.
Ich glaubte nicht, dass er in der Lage war, mir zu helfen.
Er konnte nun einmal nicht in meinen Kopf sehen. Er konnte nicht spüren, was ich spürte. Er konnte die Angst nicht verstehen, die sich bei der kleinsten Berührung eines anderen Menschen einstellte.
„Ich weiß."
Ich wehrte mich nicht, weil ich meine Eltern nicht verletzen wollte. Weil ich ihnen schon zu viel Grauen angetan hatte. Und weil ich es wieder gut machen musste.
„Wir sollten morgen weiterreden, Fleur. Es ist fünf Uhr, wir beide brauchen den Schlaf." Er lächelte, kleine Falten zogen sich seine Wangen hinauf. Er wartete auf mein vorsichtiges Nicken, bevor er eine der Schubladen öffnete und mir ein kleines Döschen entgegenschob. Die darin enthaltenen, wenigen Tabletten, entfachten ein klackerndes Geräusch.
„Schlaftabletten", erklärte er mir. „Dann kannst du endlich durchschlafen, Fleur."
Ich nickte, dankbar, erhob mich dann vorsichtig. Meine Glieder schmerzten, alles in meinem Inneren schrie. Ich war müde, so verdammt müde. Und ich wollte endlich, dass diese Nacht vorbei war, dass ich morgen früh aufstehen und all den Schrecken vergessen hatte.
„Ich werde dir dein Zimmer zeigen, Fleur."
Er folgte mir hinaus auf den Flur, auf dem meine Eltern saßen. Sie unterbrachen ihr Gespräch, sprangen im selben Moment noch auf und kamen auf uns zugeeilt. Meine Mutter wollte mich umarmen, sie hatte ihre Arme bereits ausgebreitet. Doch wie ein Schlag erinnerte sie sich an meine Angst und ließ sie wieder sinken. Ein unsicheres Lächeln zog sich über ihre Lippen.
„Ich bleib' hier", murmelte ich, auch wenn sie es bereits wussten. Auch wenn sie es eigentlich entschieden hatten. „Doktor Domun zeigt mir noch mein Zimmer. Und dann..."
Ja. Was dann geschah, keine Ahnung.
Vielleicht würde ich es schaffen, vielleicht nicht.
Vielleicht würde ich es irgendwann schaffen, genau das zu erreichen, was ich mir vorgenommen hatte.
Früher, da hatte ich wirklich geglaubt, so ein Mensch zu sein. So jemand, dessen Wünsche er sich selbst erfüllte und der alles für sie tat. Der die Dinge auch schaffte, nur wenn er es wollte.
So jemand war ich nicht. So jemand würde ich nie werden. Ich war ein Versager, in solchen Dingen. Ich hatte keine Ahnung, wie man wirklich das tat, was man sich wünschte.
„Okay." Meine Mutter wirkte erleichtert. Wirklich, echt. Erleichtert. Sie lächelte, traurig, aber sie lächelte dennoch voller Hoffnung. Als gäbe es die noch für mich.
Hoffnung.
Oh, ich hatte sie schon längst aufgegeben.
Hoffnung gab es in meinem Leben nicht. Glück auch nicht. Ich hatte Pech, immer nur Pech und ich war mir durchaus bewusst, dass sich dieses Pech auch durch meine weiteren, zukünftigen Jahre zog, wenn ich es nicht irgendwie wieder auf die Reihe bekam.
Dabei wollte ich es momentan nicht mal auf die Reihe bekommen.
Ich wollte einfach nur, dass dieser Schmerz endete. Der Schmerz und die Erinnerungen.
Doktor Domun führte unsere kleine Gruppe an. Ich mit Sicherheitsabstand dahinter, meine Eltern neben mir. Sie sprachen nicht mit mir, versuchten mich geradezu zu ignorieren. Manchmal, da blickten sie zu mir herüber, suchten nach ihrer alten Tochter.
Suchten nach der Fleur, die sie so geliebt hatten.
Aber diese Fleur war ich nicht mehr. Schon lange nicht.
Die Klinik, oder Klapse, Irrenanstalt, Psychiatrie, wie man es lieber nennen sollte, war ordentlich, wirkte geradezu modern und gemütlich. Türen an den Gängen, die teilweise geöffnet waren und durch die man in Gemeinschaftsräume mit Tischen und Stühlen blicken konnte.
Andere Türen, verschlossen.
Vielleicht befanden sich hinter ihnen die dunklen Labore und der Dreck und das Blut.
Mein Zimmer lag in einem anderen Stockwerk. Eine Etage höher und die dritte Tür rechts. Doktor Domun schloss sie auf und ließ mich als erste hinein.
Der Raum, mein neues Zuhause, war nicht sonderlich groß, aber ordentlicher als mein altes Zimmer und nicht mit all den Bildern und Postern behaftet, die mich an zu schreckliche Dinge erinnerten. Das Bett schien einladend, geradezu gemütlich. Ein Schreibtisch, der durch das Fenster nach draußen zeigte. Ich konnte den Park sehen, die Bäume. Die Wiese.
Das Zwielicht, das sich über die Welt schob und alles in ein erträglicheres Licht schob.
Eine weitere Tür führte in ein Badezimmer. Toilette, Waschbecken, Dusche, Badewanne. Schwarz-weiße Fliesen, die überhaupt nicht in das Ambiente einer Irrenanstalt passten.
Diese Klapse, und es war eine, definitiv, entsprach eher einem Luxushotel als einer Klinik.
„Wie gefällt es dir?"
Schlecht. Aber nicht, weil es nicht schön war. Sondern weil meine Augen, weil meine Seele und mein Geist kaum noch etwas als schön empfinden konnte.
„Schön." Ich versuchte zu lächeln, wandte mich zu Doktor Domun, der die Türschwelle nicht übertreten hatte. Hinter ihm meine Eltern. Noch immer erleichtert.
Sie erkannten meine Lüge nicht und dafür war ich dankbar.
„Deine Eltern werden morgen deine Sachen bringen, Fleur. Und dann wirst du dich hier ganz schnell wohlfühlen, glaub mir." Sein Lächeln war warm, freundlich.
Fast vertrauenswürdig.
Aber ich hatte in den letzten Monaten zu vielen Menschen vertraut.
„Okay. Danke." Ich wusste nicht, was ich machen sollte, lächelte. Mein Kopf dröhnte und meine Beine zitterten. Ich wollte schlafen. Wirklich schlafen.
Nicht träumen, sondern vergessen.
„Wir kommen dich besuchen." Meine Mutter lächelte und nahm mich in den Arm. Ich zuckte nicht zusammen, ich ließ es über mich ergehen und versuchte das Lächeln aufrechtzuerhalten.
Es kostete mich Überwindung, nicht zu schreien, nicht zu weinen.
Auch mein Vater umarmte mich. „Alles wird wieder gut, Fleur."
Natürlich. Es würde gut werden. Wie es auch ausging, meine Geschichte. Sie würde gut enden. Durchaus. Doch ich wusste nicht, wie mein Vater gut definierte.
„Wir sehen uns." Meine Mutter winkte mir zum Abschied, ich lächelte. Lächelte, lächelte.
Das Lächeln tat weh.
Und auch als Doktor Domun, mit Gute Nacht wünschend die Tür schloss, verschwand es nicht von meinen Lippen, das Lächeln. Durch die letzten Monate war es in mein Gesicht eingebrannt worden. Es war Teil meiner Maske und es hatte mich tatsächlich schon so oft gerettet.
Ich wartete, stand einfach verloren in dem Zimmer. Versuchte zu atmen, versuchte all die Eindrücke zu ignorieren. Versuchte an nichts zu denken.
Ich bemerkte erst mein Weinen, als es bereits zu spät. Die Tränen rollten über meine Wange, benetzten meine Haut und wollten nicht verschwinden. Ich schloss meine Augen, schüttelte meinen Kopf und drückte meine Hand gegen meine Schläfen.
Es tat so weh, so schrecklich weh, die Wahrheit.
Ich kauerte mich auf den Boden, die Beine eng an meinen Körper gezogen. Und versuchte zu vergessen. Versuchte die Gedanken und die Bilder aus meinem Geist zu verbannen.
Es gelang nicht wirklich.
Aber irgendwann, und ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, schlief ich ein.
Und dieses Mal träumte ich tatsächlich nicht.
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