Auf dem Weg
„Verdammt." Aylin wich einem hupenden Auto aus als ihr Handy klingelte. Sie steuerte das Ihre geschickt durch den New Yorker Verkehr und war froh, als sie heil in einer Parklücke stand. Mit einem Blick auf ihren Bildschirm seufzte sie leise und fauchte als sie ab nahm: „Ich hoffe es ist wichtig! Ich bin gerade auf dem Weg zu Hannah Stone, um..."
„Das kannst du dir sparen", erwiderte Nex auf der anderen Seite der Leitung. „Miss Stonewatch ist bei mir zusammen mit dem Jungen Jamie."
Aylin runzelte die Stirn."Was? Sag jetzt nicht, du hast Hannah einfach in dein Auto geschliffen und–"
„Nein, wofür hältst du mich denn?"
„Ein Trottel, der gern mal die Dinge nicht zu ernst nimmt und jeden Morgen einen Clown frühstückt?"
„Autsch, das hat gesessen", brummte Nex. „Ich bin auf dem Polizeirevier in Manhatten. Kannst du uns abholen? Im übrigen hat sich deine Aufgabe auch erledigt, wir haben unseren unregistrierten Mystic." Aylin schloss kurz den Augen und dachte an Jamies emotionalen Zustand, welchen sie schon seit Tagen beobachtet hatte. Sie hatte ihn bereits vermutet, doch dar durch das die Spur undeutlich gewesen war, war es schwierig gewesen, ihn einzuschätzen. „Ich–Ich habe gesehen, wie er von der Polizei abgeführt wurde. Ist..." Ihre Stimme wurde heiser. „Ist er es? Ist er wirklich unser Original?" Kurz schien auch Nex zu zögern, dann meinte er jedoch: „Ja, zu hundert Prozent. Seine Fingerabdrücke wurden auf der Tatwaffe gefunden, aber wie ein Mörder sieht er mir definitive nicht aus! Der wusste ja nicht mal was von uns, er dachte er wäre allein mit all dem..."
„Gut. Ich komme euch abholen." Mit diesen Worten legte Aylin auf und fuhr weiter fluchend durch den Verkehr in Richtung Manhatten.
***
Jamie wusste nicht, wie die beiden Polizisten – anscheinend auch verdeckte Ermittler der Mystics – Detective Brown davon zu überzeugen, ihn vorerst gehen zu lassen. Hannah hörte dem Gespräch aufmerksam zu und ließ ihren Bruder nicht los. Er war dankbar für die Wärme die sie ihm spendet, und doch wurde er das Gefühl nicht los, dass sie es gewusst hatte. Das sie gewusst hatte, dass es noch mehr gab. Noch mehr die... besonders waren. "Na gut", knurrte Detective Brown zähneknirschend. "Wenn Sie ihn gleich mitnehmen wollen, bitte, aber denken Sie an die mögliche Fluchtgefahr..." Mister White hob eine Hand. "Natürlich, Detective. Wir müssen jetzt los, einen schönen Feierabend noch." Er verneigte sich leicht, was Brown verwirrt die Stirn runzeln ließ. Jamie senkte den Kopf, unwillig sie anzusehen, als er Hannah nach draußen folgte. Zu seiner Überraschung stand dort ein grauer VAN, welchen er in den letzten Tagen öfters vor der Schule gesehen hatte. 'Haben sie mich etwa beobachtet?' Ein unangenehmes Kribbeln durchströmte ihn plötzlich, welches sich jedoch in Überraschung verwandelte, als die Tür geöffnet wurde. Stocksteif blieb er stehen. "Miss Doll?"
"Hallo, Jamie", erwiderte seine Lehrerin.
Hannah schnappte nach Luft. "Ich wusste es!" Ihre Augen blitzten. "Ich wusste, mit Ihnen stimmt was nicht. Haben Sie meinen Bruder ausspioniert? Wussten Sie etwa, dass das passiert?"
„Wir hatten es gehofft", erwiderte Mr White, fing sich von Miss Doll allerdings einen bösen Blick.
„W–Wie, gehofft?", stotterte Jamie und drückte sich dabei instinktiv enger an Hannah. Diese bedachte Miss Doll mit einem beinahe feindseligen Blick. Mr White antwortete darauf nicht, sondern öffnete die hintere Tür des VANs und winkte sie heran. „Das besprechen wir auf der Fahrt, in Ordnung?"
„Auf keinen Fall!" Jamie war selbst überrascht von der Lautstärke seiner Stimme. Er wagte nicht sich von seiner Stiefschwester zu lösen, trat jedoch einen Schritt zurück. Die Angst und die Ungewissheit schnürten ihm die Kehle zu. „Was ist hier eigentlich los? Wer sind Sie? Wer sind Sie wirklich? Und für wen arbeiten Sie denn, das ich in ihr Fachgebiet falle?" Die Fragen sprudelten aus ihm heraus. Mr White war plötzlich still, blickte ihn beinahe mitleidig an. Aus dem Augenwinkel sah Jamie, wie Hannah betreten den Kopf zu Boden senkte und schluckte. Jamie wollte rennen, davon laufen – sogar zurück auf die Polizeistation. ‚Die sind wenigstens ehrlich und man weiß, was geschieht!', dachte er. Miss Doll seufzte leise, als wüsste sie nicht was sie sagen sollte. „Bitte steig ein, Jamie. Wir haben nicht viel Zeit..."
„Zeit genug um mir wenigstens eine Frage zu beantworten!"
„Eben nicht", erwiderte Mr White nun, etwas ruppiger als seine sonstig lustige Art. „Aber wir werden alle deine Fragen beantworten, denn du hast ein Anrecht darauf. Auf alles. Aber dafür musst du uns vertrauen und mitkommen." Jamie starrte ihn an und bemerkte kaum, wie seine Glieder zitterten. Noch immer spukte das Geträumte in seinem Kopf herum, die Erkenntnis das er wieder da war, das er diesen armen Mann... ‚Er hat ihn umgebracht, in meinem Namen.'
„Jamie..." Hannah beugte sich hinunter, auch wenn sie nur einen Kopf größer war als er. „Bitte steig ein. Es ist das beste für dich."
„Das wolltest du eben aber noch gar nicht", erwidere Jamie. Seine Stimme sollte zornig klingen, vorwurfsvoll, doch sie brach. „Ja, aber sie beide haben Recht. Deine Sicherheit geht vor..." Die Blicke, die sie Doll und White zuwarf, sprachen von Misstrauen und Zorn – aber auch von Erkenntnis. Jamie schluckte, denn dieses Gefühlschaos hatte er bei ihr noch nie gesehen. ‚Soll ich einsteigen? Was wird passieren, wenn ich es nicht tue?' White blickte während diesen Gedanken auf eine altmodisch wirkende Taschenuhr und runzelte die Stirn. „Wir sollten los. Jamie, bitte jetzt, oder wir nehmen dich so mit!"
„Nex!", fauchte Miss Doll entsetzt und funkelte ihn an. Jamie hatte mit einem Mal ein ungutes Gefühl, als würden sich Blicke in seinen Rücken brennen. Augenblicklich wirbelte er herum, doch hinter ihm war nichts anderes als die Polizeistation und einige einzelne Bürger, die davor herum liefen. Und doch wollte das grauenvolle Gefühl nicht weggehen, welches sein Inneres zum brodeln brachte und sein Herz heftig gegen seine Rippen schlagen ließ. Mit Grauen erinnerte er sich an die gigantische Schlange, die er aus Versehen heraufbeschworen hatte und holte tief Luft. „Das ist nicht real", flüsterte er, allerdings leise genug das nur er es hörte. Das Gefühl bescherte ihm eine Gänsehaut. Mr White hatte noch irgendwas gesagt, etwas worauf Miss Doll etwas wütendes erwidert hatte. Die plötzliche Panik die Jamie durchfuhr, ließ ihn automatisch vorspringen und nach der Hintertür des VANs greifen. „Jamie, warte", erwiderte nun Hannah und griff nach seiner Schulter. Dieser spürte seine Hände Zittern und schloss die Augen. ‚Erst willst du das eine, dann das andere und jetzt? Irgendwas ist hier, wir müssen hier weg!' Am liebsten hätte er es laut ausgesprochen, doch seine Kehle war zugeschnürt. White flüsterte etwas Miss Doll zu, während Hannah in das Innere des Wagen sah, als erwartete sie dort ein Entführungsteam oder etwas der gleichen. Schließlich trat sie wieder einen Schritt zurück. Jamie stieg augenblicklich in den VAN und spürte die angenehme Wärme des Wagens. Das Gefühl Beobachtet zu werden hielt weiter an, worauf er tief durchatmete und immer wieder leise murmelte. Von draußen hörte er seine Stiefschwester sagen: „Ich hoffe, es ist klar, das ich mitkomme." Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch und den gab es glücklicherweise auch nicht. Jamie atmete erleichtert aus, denn ohne sie wollte er nirgendwo hin. Auch wenn er sich dadurch etwas kindisch fühlte. „Meinetwegen können Sie mit, Miss Stonewatch. Ich habe nichts dagegen", grinste Mr White, wobei Miss Doll leise hinzufügte: „Wir können Ihnen nur nicht versprechen, bleiben zu dürfen." Darauf folgte Stille. Schließlich stieg Hannah neben Jamie auf den Hintersitz und schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. „Es wird alles gut, mein Kleiner. Versprochen." Jamie schluckte leicht. Eigentlich hasste er es, wenn sie ihn so nannte, doch nun wollte er einfach nur weg. Er wollte weg von diesem Ort, wo er ganz klar wachsame Augen auf sich spürte, weg von jenen die ihn an diesen furchtbaren Traum erinnerten der keiner war und einfach aus diesem Albtraum erwachen. ‚Ich bin immer aufgewacht, aber jetzt... Was jetzt? Das hier ist real, kein Albtraum. Wie soll ich hier wieder raus kommen und wo fährt mich das alle noch hin?'
Die Fahrt zog sich ewig in die Länge, zumindest fühlte es sich so an. Die Häuser zogen vorbei, so wie die Menschen, die keine Ahnung hatten, was für ein Wagen an ihnen vorbei fuhr. Jamie hatte die Augen geschlossen doch trotz der schweren Müdigkeit in seinen Gliedern wollte er nicht die Ruhe des Schlafes finden. Zugegeben, er hatte Angst vor dem Schlafen, Angst einen neuen Traum zu haben, wieder dieses ekelhafte Triumphgefühl zu spüren, vereint mit dem warmen Blut, welches sich über seine Hände ergoss. Allein bei dem Gedanken hob er ruckartig den Kopf als habe er sich erschrocken. „Alles Gut, du bist nur eingeschlafen", sprach Hannah neben ihm. Ausnahmsweise hatte sie kein Buch in der Hand oder lernte für ihr Studium – sie hatte die ganze Zeit nur auf eine Stelle gestarrt. Jamie schüttelte sich etwas. „Ich habe nicht geschlafen", murmelte er, wobei Mr White den Kopf nach hinten drehte. Er saß auf dem Beifahrersitz, während Miss Doll den VAN durch den Verkehr steuerte. „Das kann ich verstehen. Könnte ich glaube ich, auch nicht."
„Wie schön, das Sie dieser Meinung sind, Mr White", erwiderte Hannah nur kühl.
„Ja, Empathie ist wichtig, Frau Anwältin. Genau wie die Wahrheit, oder?" Er drehte mit einem Mal seinen Stuhl, wie einen Bürostuhl, und saß den beiden gegenüber. Jamie fühlte sich etwas unwohl unter seinem neugierigen Blick, während Miss Doll in den Rückspiegel sah und meinte: „Nex, warte damit bis wir da sind. Das wäre zu viel."
„Was du heute kannst besorgen, das Verschiebe nicht auf morgen", erwiderte Mr White – oder anscheinend Nex, die Jamie hörte – und verschränkte die Arme vor der Brust. Miss Doll seufzte leise, blieb jedoch still. Hannah schien ebenfalls zögerlich zu sein, doch Jamie war es egal. Ihm war alles egal, Hauptsache er musste nicht schlafen. Er DURFTE nicht schlafen!
„Also, welche Frage willst du als erstes beantwortet haben? Wer die Mystics sind? Oder wo wir hinfahren?" Jamie spürte seinen trockenen Hals und räusperte sich zu erst etwas. Er war sich mit einem Mal gar nicht so sicher, ob er einiges überhaupt wissen wollte, doch was blieb ihm für eine Wahl? „Also", begann er zögerlich, „gibt es noch andere wie mich?"
„Nicht direkt wie du, aber es gibt durchaus mehr Mystic. Also, Begabte."
„Wieso nicht direkt wie ich?", erwiderte er leise, denn der leichte Schatten über Whites Augen ließen bei ihm die Alarmglocken schrillen. „Nun, Jamie... Das ist etwas kompliziert und damit sollten wir wirklich warten, bis wir da sind. Aber sagen wir einfach, auch unter den Begabten bist du was Besonderes." Jamie zog den Kopf ein, denn Whites dunklen Augen zu folge, was dieses Besondere keine positive Sache. Doch bevor er weiter in seinen Gedanken und Ängsten versinken konnte, fragte er weiter. „Wo fahren wir hin?"
„Zu einem kleinen Punkt in der Stadt, wo Leute wie wir leben. Besser gesagt, es ist eine Art Kontrollzentrum, wo wir unsereins Flüchtlinge aufnehmen und alles überprüfen, was in der Stadt so los ist. Im übrigen..." Er grinste Jamie zu, „der kleine Vorfall mit der Schlange hat uns einen gehörigen Schrecken eingejagt! Wie dachten schon, hier wäre ein Unbekannter Skinwalker aufgetauchte!" Er lachte leise, wobei Jamie die Augen schloss. Hannah sah ihren Stiefbruder entsetzt an. „Schlange? Jamie, hast du mir was verschwiegen?" Jamie biss sich auf die Unterlippe, denn das hatte er wirklich. Er wollte nicht, das sie sich Sorgen machte, doch nun war es auch gleich. „Tut mir leid", murmelte er mit eingezogenem Kopf. Hannah seufzte nur tief und fuhr sich über die Stirn. Mr White schmunzelte leicht als würde ihn das amüsieren. „Wie lange brauchen wir noch? Und wo soll dieses Kontrollzentrum überhaupt sein?", fragte Hannah geradeheraus.
„Nicht lange. Und wo ist schwer zu sagen, aber wir verlassen die Stadt nicht, keine Sorge." Jamie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, denn eigentlich wollte er genau das. Er wollte weg, fliehen, aus dieser Stadt heraus und weit weit weg von dem Übel, das sich wie ein Schatten in seinem Inneren ausbreitete. ‚Ich darf nicht einschlafen, ich darf nicht einschlafen.' Er senkte den Kopf und öffnete seine Hände, die er unterbewusst zu Fäusten geballt hatte. Seine Finger zitterten als er sie öffnete und den Ansatz des Symbols an seinen Pulsadern erblickte. Nie hatte er darüber nachgedacht, hatte versucht es einfach zu verdrängen – ohne Erfolg.
„Das beantwortet meine Frage nur halbwegs", erwiderte Hannah gerade. Sie fuhren nun unter einer Brücke unter durch und erst jetzt bemerkte Jamie, dass das Licht im VAN angeschaltet war. Es waren nicht viele Autos unterwegs – für New Yorks Verhältnisse – und es wurden immer weniger. Jamie schloss die Augen, spürte das Rütteln des Wagens. Erst als seine Stiefschwester skeptisch fragte: „Wo wollen Sie hin?"
„Ins Kontrollzentrum", erwiderte Miss Doll. Plötzlich steuerte sie den VAN stark nach rechts, wobei Jamie nach Luft schnappte. Nur das Licht im Inneren erhellte die Umgebung, doch außerhalb konnte er nur schemenhaft die Betonwand des Tunnels erkennen. Er klammerte sich automatisch an seinen Anschnallgurt, während Hannah neben ihm ebenfalls nicht erfreut wirkte. Mr White lehnte sich leicht zurück. „Beruhigt euch. Das wird gleich vielleicht etwas komisch, aber ganz ruhig."
„Etwas komisch?", erwiderte Hannah leicht panisch. Jamie drückte sich in den Sitz, denn mit einem Mal spürte er die Aura von etwas, was er nicht deuten konnte. Es jagte ihm eine Gänsehaut über den Körper und beschleunigte seinen Herzschlag, bis er glaubte, es würde gleich durch seinen Brustkorb brechen. Als wäre man auf einer Achterbahn und befinde sich gerade im freien Fall. Er hasste sowas mehr als alles andere.
So schnell dieses Gefühl gekommen wäre, so schnell war es auch wieder weg und der Wagen fuhr langsamer. Mr White grinste wieder, bevor er seinen Stuhl in die richtige Richtung zurück drehte. Hannah sah starr aus dem Fenster, konnte anscheinend durch die anhaltende Dunkelheit, nichts erkennen. Jamie lehnte sich zurück und betete, es würde nicht noch mal zu so einem, was auch immer das war, kommen. „Wo sind wir jetzt? Wo in New York? Sie sagten, wie würden die Stadt nicht verlassen."
„Das werdet ihr noch früh genug sehen, keine Sorge." Mr Whites Grinsen war im Rückspiegel zu erkennen durch die Deckenbeleuchtung des Wagens. Jamie schluckte leicht als die Umgebung heller wurde. Ein Tor schien sich zu öffnen und wieder durchfuhr ihn diese kribbelnde Aura, die er in Whites Nähe verspürte, doch bei weitem nicht so stark wie zuvor. Er blinzelte in das neue Licht und hielt die Luft an als der Wagen hielt. Miss Doll drehte den Kopf und lächelte aufmunternd. „Wir sind da."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro