Alte Erinnerungen...
Langsam öffnete Jamie die Tür. Der Kloß welcher seit letzter Nacht in seinem Hals saß, wurde größer. An seinem Schreibtisch tippte Mister Haper etwas ein. Als er seinen Partienten erblickte, lächelte er augenblicklich und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. "Ich bin gleich bei dir, Jamie." Dieser nickte und nahm Platz. Unbewusst fuhr er sich wieder über die Arme, die rauen Wände des Zimmers musternd. Er wusste nicht, wie lange er das Büro des Therapeuten schon besuchte. Mitlerweile empfand er es als zweites Zuhause, ein Zuhause in welchem er seine Ängste und Sorgen los wurde. Doch nicht alle von ihnen. Nicht mal dem Therapeuten konnte er es erzählen... Mister Haper kalpte seinen Laptop herunter und schob ihn bei Seite. "Wie war die Schule?" "Wir haben eine neue Lehrerin", murmelte er und war selbst überrascht, dass er damit anfing. Mister Haper runzelte die Stirn. "Ich dachte, Mister Harisson ist euer Klassenlehrer. Warum denn einen neuen?" "Miss Doll ist nur eine Vertretung. Aber sie ist nett..." "Das freut mich sehr, Jamie. Waren die Stunden denn anders, als sonst, mit dieser neuen?" Jamie zuckte mit den Schultern. Er strich sich wieder über den Arm, was Mister Haper mit aufmerksamen Blick verfolgte. "Eigentlich nicht, aber zu Anfang..." Er zögerte. Er wusste selbst nicht, was er empfand. Es war anders gewesen, als wenn... "Mein Tisch wurde schon wieder beschmiert." Mister Haper seufzte leise. "Hast du das gemeldet?" "Ja." Jamie biss sich auf die Unterlippe. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, seinen Therapeuten anzulügen, denn eigentlich hatte es die Vertretung selbst gemerkt. Und doch erschien es ihm richtig so. Haper bedachte ihn prüfend, schrieb sich etwas mit Kugelschreiber auf und fragte weiter: "Hast du gut geschlafen, Jamie?" Sein Partient zuckte kurz zusammen und schloss die Augen. Immer noch spürte er die Hände überall auf seinem Rücken. Sie zerrten an ihm, wollten ihn zum Aufstehen bringen. Und die Stimme, dessen Ton immer noch in seinem Kopf herum spukte. "Also nein", murmelte Mister Haper bestimmend. Er legte den Notizblock wieder bei Seite und sah ihn gerade an. Seine grauen Augen strahlten Wärme und Sicherheit aus. Jamie machte den Mund auf, klappte ihn jedoch wieder zu. "Ich..." Er suchte nach den richtigen Worten. "Warst du wieder im Krankenhaus?", half ihm Haper auf die Sprünge. Mit trockenem Mund nickte Jamie. Ihm wurde heiß und kalt bei den Erinnerungen. "Und was hast du da gesehen, Jamie?" "Ich lief einen langen Korridor entlang. Und da war dieser Raum... Er hatte kein einziges Fenster, nur einen Einwegspiegel, wie auf einer Polizeiwache." "Interessant", murmelte der Therapeut. "Wie auf einer Polizeiwache... Warum nimmst du ausgerechnet diesen Vergleich?" Jamie zuckte mit den Schultern. "Es ist das einzige, was mir dazu einfällt." Er wusste, worauf Haper hinauswollte. Dieser notierte sich dies wieder und fragte vorsichtig: "Kann es sein, dass du Angst hast, wieder rückfällig zu werden?" "Wie meinen Sie das?" "Wie ich es meine. Es ist jetzt drei Jahre her, seit dem zu wegen Diebstahl angezeigt wurdest. Zum Glück warst du da erst dreizehn." "Nein...", erwiderte Jamie und fuhr sich einmal durch das Gesicht. Noch immer erinnerte er sich an das enttäuschte Gesicht seiner Mutter und doch hatte sie Mitleid mit ihm gehabt. Hatte ihn abends in den Arm genommen und war einfach für ihn da gewesen. So wie Hannah und ihr Vater. Und doch wurde ihr Glück zerstört. Zerstört von jenem welchen er verdrängt hatte. Haper blickte ihn erwartungsvoll an. "Nein, ich denke nicht, dass es das ist. Meine Karriere als Taschendieb hab ich an den Nagel gehangen." Er lächelte zögerlich. Haper erwiderte es und meinte: "Das glaube ich dir. Was ist noch passiert?" "Da war jemand", murmelte Jamie und dachte an die Stimme. "Es war wieder dieser... dieser Doktor. Und dann die anderen... Ich-Ich weiß nicht." Haper schrieb sich alles auf und legte den Stift ab. Er blickte seinem Partienten kurz prüfend in die Augen, dann meinte er lächelnd: "Okay, danke das du mir das erzählst, Jamie. Möchtest du einen Kakao? Ich hab ganz vergessen zu fragen..." Erleichtert über diesen kurzen Themawechsel nickte Jamie. "Sehr gern. Aber ohne Sahne." "Oh, ich weiß das du die nicht leiden kannst."
Als Jamie nach der Therapie nach Hause kam, wollte er nur noch ins Bett. Die halbe Nacht nicht geschlafen zu haben war nicht so gut. Seine Beine fühlten sich an wie in Blei gegossen, doch als ihm der betörende Duft von Bratkartoffeln mit Spiegelei entgegen schlug, folgte er seiner Nase in die Küche. Hannah stand dort, die Nase in ein Buch gesteckt, während ein hölzerner Löffel durch die Pfanne kreiste. "Hmm, das riecht gut!" Bei seiner Stimme hob sie den Kopf, sah zu den Kartoffeln und schaltete mit einem kurzen Aufschrei den Herd aus. "Ups", verlautete sie und zuckte mit den Schultern. Jamie grinste breit. "Viel zu tun?" "Studier du mal Jura", erwiderte sie und nahm die Pfanne vom Herd. Jamie nahm sich die andere, wo ihm zwei Spiegeleier entgegen blitzten und folgte seiner Stiefschwester ins Esszimmer, welches auch das Wohnzimmer war. "Wie war es beim Haper?" Jamie setzte sich und schob sich sofort eine Gabel Bratkartoffeln in den Mund. Wie immer schmeckten sie wunderbar, wobei einige etwas angebrannt waren. "Ganz gut. Und bei dir so?" Ein Schnauben war ihre Antwort. "Stressig. Aber besser als gestern. Hatten heute einen Vertretungs-Dozenten." Jamie hob den Kopf und blickte sie erstaunt an. "Was? Hab ich Eigelb im Gesicht?" "Wir hatten heute auch eine Vertretung. Eine 'Miss Doll'." Hannah runzelte die Stirn. "Seltsamer Zufall..." Ihre Augen funkelten misstrauisch. Mit einem schnellen Blick auf ihr Handy, schob sie sich ihr Essen schneller in den Mund. "Ich muss gleich los zur Arbeit. Kannst du-" "Ich räume und spüle ab", unterbrach Jamie. Hannah lächelte ihn dankbar an, schnappte sich ihre Sachen und verschwand aus der Wohnung. Jamie lehnte sich seufzend zurück und nahm sich sein eigenes Handy. Auch wenn ihm der Gedanke nicht wohl war, ging er auf den Klassengruppen-Chat. Er war so unkonzentriert im Unterricht gewesen, dass ihm nun graute, er habe eine Hausaufgabe überhört. Am liebsten wäre er überhaupt nicht in dieser Gruppe, doch es war sehr praktisch, falls man eine Aufgabe mal nicht verstand und jemand anders die Lösungen hatte. Obwohl ihm sowieso niemand helfen würde. 'Niemand würde sich auch nur freiwillig mit dem Freak unterhalten.' Er schob diese düsteren Gedanken bei Seite und scrollte durch den Chat. Natürlich nur dummes Zeug, doch es sah nicht so aus als hätte er irgendwas nicht mitbekommen. Leise murmelnd brachte er das schmutzige Geschirr in die Küche, wusch es ab und setzte sich dann wieder aufs Sofa, nach der Fernbedienung greifend. Eigentlich sah er kein Fernsehen, doch er brauchte dringend eine Ablenkung. 'Wenn ich jetzt einschlafe, wache ich erst wieder spät auf. Zu spät um meine Hausaufgaben noch machen zu können.' Der Bildschrim flimmerte kurz, während Jamie seinen Schulrucksack holte und die Hausis hervor packte. Miss Doll hatte ihnen recht wenig aufgegeben, womit sie sich vermutlich ziemlich beliebt in der Klasse gemacht hatte. Er las sich die wenigen und recht ungewöhnlichen Aufgaben durch, während der Fernseher die Nachrichten sendete. Eigentlich hatte Jamie gar nicht vorgehabt, ihm zuzuhören, doch etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Einer inneren Eingebung nach machte er lauter und erschauderte bei den Bildern. Eigentlich sah man nicht mehr als ein eingestürztes Gebäude. Feuerwehrwagen mit Blaulicht loderten im Hintergrund, während der Sprecher gerade sagte: "...noch vermisst. Wir haben noch keine genauen Angaben, was der Auslöser für die Explosion war, aber es ist zu vermuten, dass einige Patienten entkommen sind. Jedoch ist der Polizeicheff zuversichtlich, dass sie alle bald wieder eingefangen sein werden." Jamie hatte nicht bemerkt, dass ihm der Kiefer herunter geklappt war. Seine Augen flackerten zu der Unterschrift der Sendung. "Exklusive - Explosion in Swan-Hospital." Warum man ein Krankenhaus ausgerechnet "Swan" nannte, hatte er nie verstanden, doch er wusste genau was für eine Art von Klinik es war. Der Kloß in seinem Hals verwandelte sich in einen Eisklumpen, als er sein Handy hob und ein Foto von dem Bild machte, was sich ihm durch den Bildschirm bot. Wie in Zeitlupe sah er die Nachrichten zuende, merkte sich jedes Wort und schaltete den Fernseher wieder aus. Wieder fuhr er sich über die Arme und plötzlich fröstelte es ihm.
***
"Hey Hannah, sieh dir das an!" Genervt drehte sich Hannah um. "Ich hab gerade echt zu tun, Jenny!" An den wartenden Kunden gewandt meinte sie: "Verzeihung. Hier sind Ihre Bücher." Der Mann nahm sich die gemachte Tüte, warf ihr noch einen unfreundlichen Blick zu und verließ ohne Dank den Buchladen. "Jenny, wir haben zu arbeiten!", knurrte sie an ihre Kollegin gewandt. Diese winkte ab und fuchtelte mit ihrem Handy herum. "Ja ja, ich weiß. Sieh dir das aber mal an!" Die Augen verdrehend sah sich Hannah nach weiteren Kunden um, doch der Laden war leer. "Gut, was ist denn so wichtig?" "Hier." Jenny schaltete das Handy wieder an und tippte auf ein Video, welches ihr anscheinend jemand geschickt hatte. Hannah zog eine Augenbraue hoch, als sie die Trümmerhaufen sah. "Ist das das Swan-Hospital?" "Ja, hör zu", erwiderte Jenny aufgeregt. Hannah betrachtete die abgesperrte Ruine der ehemaligen Anstalt, während der Sprecher zusammenfasste was geschehen war. Kurz schloss sie die Augen. Die Erinnerungen, welche in ihr geweckt wurden, wollte sie eigentlich vergessen. Es war ein düsterter Abschnitt ihres Lebens, einer der hinter ihnen lag. Hinter ihr und hinter Jamie. Als das Video endete, schnappte Jenny nach Luft. "Hast du gehört? Es kann sein, dass da Insassen entkommen sind! Kannst du dir das vorstellen?" "Was ist daran so schlimm?", erwiderte Hannah, obwohl sie die Antwort natürlich kannte. Um nicht zu sehr in Gedanken zu versinken fuhr sie damit fort, die Bücher ein zu sortieren. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe. Zu ihrem Bruder nach Hause, einen Film gucken und es einfach vergessen. Vergessen, was vergessen werden musste. Was nun keine Bedeutung mehr hatte und nie mehr haben würde. 'Es DARF keine Bedeutung mehr bekommen!' "Hallo?", erwiderte Jenny laustark. "Weißt du, was da für Psychos rumgelaufen sind? Was wenn die jetzt in den Laden reinkommen würden und aus den Büchern Dolche formen, oder so!" Hannah warf ihr einen belustigten Blick zu. "Mach dich nicht lächerlich, Jen." "Na gut, das wird jetzt nicht direkt passieren, aber es geht ums Prinzip!" "Ich bin mir sicher", unterbrach Hannah ihre Freundin. "das die Polizei sich darum kümmert. Und nicht jeder in der Anstalt ist verrückt. Manche sind einfach nur Opfer..." "Vermutlich hast du Recht", erwiderte Jenny ergeben und half beim Einsortieren. Das Hannahs Augen dabei besorgt funkelten, bekam sie nicht mit.
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