⫷Prolog⫸
Die steinerne Halle des fürstlichen Langhauses war diesen Winterabend erfüllt von dem Geruch bratenden Fleisches. Fürst Perrin, Landherr über die Provinz Aalsung, die hoch im Norden an den Ausläufern des mächtigen Zittergebirges lag, ließ keinen Abend verstreichen, ohne dass seine Tafel unter dem Gewicht sämtlicher Köstlichkeiten knarzte. Doch Ochse und Eber gab es auch unter seiner Machtausübung nicht tagtäglich, was den mageren Dorfältesten, welche sich vor der Fürstentafel, an zwei Langtischen sitzend, mit kargem Eintopf des Vortages begnügen mussten, nur umso hämischer in die Mägen schlug.
Die Diener des Fürsten huschten schweigend zwischen den beiden Tafeln hin und her, schenkten wässrigen Wein nach und taten ihr bestmögliches, nicht unter Perrins Visier zu gelangen. Stieß man aus Versehen gehen einen Schemel, setzte einen Krug zu schwungvoll ab oder hustete im falschen Augenblick, konnte der Fürst aus der Haut fahren und ehe man es sich versah, landete man auf dem Schafott.
Perrin war ein Wahnsinniger in all des Umfangs dieses Begriffs, seine Launen tückisch und wechselhaft, wie die See, als hätte Saibiki selbst Residenz in seinem verdorbenen Geist gefunden. Jedoch besaß die unbarmherzige Ewige des Meeres im Vergleich zu Fürst Perrin ein gnädigeres Gemüt, schleuderte sie nicht zwangsläufig einem Diener das Buttermesser an den Kopf, der zufälligerweise an genau jenem Tag eine rote Mütze trug, an dem Perrin Rot nicht leiden konnte.
Dass die Dorfältesten jedes Jahr, vor der Tag-und-Nachtgleiche, nach Aalsung beordert wurden, war jedem der heute Anwesenden zu wider. Perrin, weil er sich das Geschwätz und Gejammere seiner unfähigen Untergebenen anhören musste und den Dorfältesten, weil sie sich der Übellaunigkeit ihres Fürsten aussetzen mussten.
Zur Sprache zu bringen, woran es der Bevölkerung jenseits Aalsungs mangelte, war keine einfache Aufgabe, doch Befehl war Befehl und obwohl Perrin nichts fremder sein konnte, als seinen Untertanen zuzuhören, brauchte er dennoch deren Rohstoffe, um seinen Tribut an den König zu leisten.
»Mein Fürst«, erhoben sich die zwei Worte, die zu dieser Stunde von allen Anwesenden gefürchtet und hinausgeschoben worden waren, in der hohen Halle aus Stein und Holz. Rendrun, ein Greis, der dem westlichen, in der Nähe der Küste gelegenem Dorf Tallik entstammte, hatte sich schlussendlich durchgerungen und die verhaltenen Gespräche der anderen elf Dorfältesten durchbrochen. »Bitte hört mich an.«
Das leise Gemurmel der Diener und Dienerinnen, der Dorfältesten und des Beraterstabs an Perrins Tafel hoch oben auf dem Podest, erstarb und machte einer ängstlichen, angespannten Stille Platz, als Rendruns Stimme durch die Luft getragen wurde. Nur der eisige Wind fauchte heulend durch das wuchtige Holzgebälk hoch oben in der sich im Dunkeln verlierenden Decke und schenkte den in den Balken und im Stein verewigten Schnitzereien der Geisterwesen eine unheilvolle Stimme. Als würden sich die Kreaturen der Untiefen mit einem klagevollen Ächzen durch die Schatten an den Wänden winden und die tosenden Kiefer der Bestien des Waldes vor Erwartung knirschen.
Rendrun fand sich nun nicht nur unter dem Blick der Geisterwesen wieder, sondern fühlte ein Dutzend weiterer ungläubiger und entsetzter Augenpaare, die sich, aufgrund des Affronts, den er begangen hatte in seinen schmalen Körper bohrten.
Niemand richtete das Wort direkt an Fürst Perrin, niemand erhob auch nur seine Stimme, wenn der Fürst zu Abend speiste und niemand bat Perrin um etwas, wenn er den eigenen Kopf auf den Schultern in den nächsten Morgen tragen wollte.
Das Feuer vor der Tafel des Fürsten, zwischen den Langtischen der Dorfältesten, stieß ein dumpfes Zischen aus, als ein besonders großer Holzscheit barst und Funken in die Luft schleuderte. Das Geräusch wisperte durch die große Halle, wie ein Flüstern der Geister aus den Urwäldern des Nordens.
»Und wer hat dir erlaubt, zu sprechen?«, stieß Perrins Berater Nent aus, seine rechte Hand und derjenige, der unter des Fürsten Befehls die Klingen der Henkersbeile täglich schliff.
Die Stille, die auf seine Worte folgte, war beinahe ohrenbetäubend, selbst die Diener und Dienerinnen hatten in ihren Tätigkeiten innegehalten und starrten Rendrun mit stummer Furcht an, wenngleich sie stille Erleichterung verspürten, als ihnen bewusst wurde, dass es heute keiner von ihnen war, an dem Perrin seinen Irrsinn auslassen würde.
„Mit Verlaub", fuhr Rendrun jedoch fort, seine Stimme dünn und seine Lippen trocken. „Wir haben nichts mehr zu Geben, mein Herr."
Rendruns Sitznachbar packte den Saum seines Wollwamses, um ihn zum Schweigen zu bringen, doch Rendrun fuhr eisern fort. Diese Kunde musste Perrin erreichen, musste einfach durch seinen benebelten Verstand dringen, denn andernfalls würde keines der Dörfer den nächsten Winter überstehen.
Jedes Jahr waren schreckliche Tributzahlungen zu liefern. Der König, der in seinem fernen Palast auf der Spitze des Zittergebirges residierte, verlangte nach Fisch und Fleisch, Häuten und Fellen, Holz und Räucherwerk, nach Stoffen, Seifen, Medizin, Gold und Geschmeide, beinahe alles, was nicht niet und nagelfest war und Rendrun wusste, wenn er könnte, dann risse er ihnen selbst die Kleidung vom Rücken.
Jedes Jahr kamen grausame Handlanger, bewaffnet bis an die Zähne, zu ihnen ins Tal, wuchteten sämtliche Vorräte auf ihre Karren und Schlitten und brachten alles hinauf ins Gebirge, in die niemals vollen Schatzkammern des Königs. Handlanger, über die man fürchterliches erzählte. Böse Geister, Eisdämonen in Menschengestalt, die als noble Prinzen verkleidet die blutigen Taten des Königs ausführten.
»Wir haben keine Materialien mehr, um unsere Zelte und Hütten auszubessern, die Nahrung geht uns zur Neige, wir haben weder Medizin noch die Mittel, um weiterhin in den dunklen Schneisen des Waldes zu jagen, mein Herr!«, fuhr Rendrun fort und konnte die Verzweiflung nicht gänzlich aus seiner Stimme bannen. Er selbst hatte nur noch einen von zwei Enkeln und viel zu viele seiner Familie auf der Jagd verenden sehen, als dass er einen weiteren Tag stumm zusehen konnte, wie sein Dorf litt.
Doch Perrin starrte ihn nur durchdringend an, als er seine Faust um den vor Fett triefenden Spieß krampfte. Dabei quollen ihm seine wässrigen Augen aus dem Kopf, Bratensaft tropfte ihm vom Kinn und seine Lippen zitterten, als sich sein Temperament nach oben arbeitete. Zu Rendruns Glück war es jedoch Nent, nicht weniger grausam, aber auf alle Fälle vernunftbegabter als sein Fürst, der das Wort ergriff.
»Wie kannst du es wagen, so mit deinem Herren zu sprechen?!« Seine quiekende Stimme hallte in der Stille nach, zittrig und voller Abscheu. Fürst Perrin schenkte aber auch seinem Berater keine Aufmerksamkeit, als sich seine Augen nach wie vor auf Rendrun fixierten und in dem Dorfältesten aus Tallik kurz die Hoffnung aufflammen ließ, als hätte er ihm wirklich zugehört.
»Bitte, Herr«, wiederholte Rendrun und beugte seinen gebrechlichen Körper vornüber.
»Du Narr«, zischte sein Banknachbar, der ihn auch zuvor schon davon abhalten hatte wollen, das Wort zu erheben. »Deinetwegen werden wir noch alle hingerichtet.«
Rendrun war sich dessen bewusst, das Risiko, dass er soeben alle Anwesenden verdammte, schnitt ihm zusätzlich die Luft ab, doch keines der anderen Dörfer lag so weit im Westen, so hoch im Norden in der Nähe der Küsten, dass die Winter so herzlos über ihre Siedlungen herfielen, wie die seine. Wo Aalsung die Privilegien einer Hauptstadt hatte, befestigte Handelsstraßen und Postwege, war Tallik die meiste Zeit des Jahres völlig von der Zivilisation abgeschnitten.
»Unsere Säuglinge sterben im Kindbett und mit ihnen ihre Mütter. Wir können weder die einen noch die anderen ernähren, habt ein Herz«, fügte Rendrun flehend hinzu, seinen Genossen ignorierend.
»Oh?« Als Perrin tatsächlich die Stimme erhob, konnte man beinahe das kollektive Luftanhalten in der Langhalle spüren. »Ein Herz?«
»Mein Herr«, beeilte sich ein weiterer Dorfältester zu sagen, stand dabei auf und neigte sein Haupt. »Rendrun spricht wirr, er ist alt und sein Geist umnachtet, gebt-«
»Schweig!«, kreischte Perrin und in einer abrupten, ruckartigen Bewegung schleuderte er seinen Bratenspieß nach dem Ältesten, der soeben das Wort erhoben hatte. »Der knausrige Tattergreis möchte sprechen, also soll er wagen zu sprechen, was ihm auf der Zunge liegt. Ob er diese behalten darf, nachdem sein Frevel erst sein Maul verlassen hat, werden wir noch sehen«, kicherte Perrin, als er sich mit der nun freien Hand das Kinn wischte.
Rendrun spürte, wie seine Finger zitterten und seine Knie aneinander schlugen, als er versuchte seine Lippen zu benetzen.
»Du sollst sprechen!«, schrie der Fürst und schlug mit der Faust so fest auf den Tisch, dass sein Weinglas vornüber kippte und auf dem Steinboden zersplitterte. Zwei seiner Diener beeilten sich so unauffällig wie möglich die Sauerei zu beseitigen.
»Sehr wohl, mein Herr«, krächzte Rendrun und verschränkte seine Finger krampfhaft. Fürst Perrin forderte man nicht heraus, das war ebenso lebensmüde, als wenn man einem der skelettartigen Eisdämon mit einem Lachen auf dem Gesicht gegenüber trat.
»Mein Fürst, das einzige, worum ich bescheidener Greis Euch bitten möchte ist, dass Ihr die Abgaben dieses Jahres halbieren lasst. Vielleicht könnt Ihr die Schergen auf Raten vertrösten. Uns ein wenig mehr Zeit geben, bis wir über den Sommer wieder genügend Güter zusammengesammelt haben.«
»Und?«, bellte Perrin ungeduldig und stieß den Diener, der ihm soeben ein neues Glas brachte, grob von sich fort. »Was noch? Na komm.«
Rendrun zitterte am ganzen Körper, als ihm der Schweiß in eiskalten Tropfen über den Nacken und die Stirn kroch. »Die ... die Winter der letzten Jahre waren alle hart und lang. Der diesjährige zieht sich bis in den Lenz. Unsere Fallen bleiben leer, die Fischnetze ebenso, die Seen sind allesamt zugefroren und die Tiere schwinden. Bitte, mein Herr, unsere Kinder haben nichts mehr zu essen, verschont uns dieses Jahr.«
Seine Stimme verklang und nun richteten sich alle Augen auf Perrin, niemand wagte es jedoch, ihm in die Augen zu Blicken, aus Furcht, so die aufschäumende Wut auf sich zu ziehen. Doch zu aller Überraschung fing Perrin an zu grinsen.
»Oh. Oh, ich verstehe, was euer Problem ist. Die Nahrung reicht nicht aus, die Kinder sterben – so geht das nicht.«
Randruns Schultern sanken ein Stück herab, als seinen Worten kein Wutanfall folgte, doch enthielt er sich vorerst, Erleichterung zu empfinden.
»Ja, doch«, fuhr Perrin fort und rieb sich das Kinn. »Das ist wahrlich eine Zwickmühle, in der ihr alle steckt. Die Kinder wollen essen, natürlich, doch die Felder, Wälder und eure kleinen arglistigen Seen geben bloß Fang für kleine Wichte. Aber dann wachsen diese Wichte und wollen mehr essen.«
Er tippte sich gegen die Nase. »Also wollt ihr, dass ich meinen Kopf hinhalte, damit eure gefräßigen Kinder noch größer werden, um noch mehr zu vertilgen, aha.«
»Mein Herr-«, versuchte Rendrun den Gedankengang seines Fürsten zu stoppen, da sich in ihm eine böse Vorahnung zusammenbraute.
»Oh, aber ich habe eine Lösung, das habe ich«, fuhr Perrin jedoch bloß lautstark fort und breitete die Arme aus. »Wann stopfen sich eure Wichte denn besonders voll? Wenn sie jung und ungezügelt sich, wenn sie ihre Grenzen und Plätze noch nicht kennen, ha!« Perrin kicherte.
»Vor allem, wenn sie sprießen«, warf Nent ein und ließ sich einen weiteren Teller voller Braten reichen.
»Genau! Genau, wenn sie sprießen«, wiederholte Perrin und sein irres Grinsen brachte die Haare auf Rendruns Armen zum Erzittern. »Nun denn. Zur Feier dieses Winterendes, bringe man mir all eure Kinder, die kleinen Dämon, die euer Essen stehlen, die bis zur Tag-und-Nachtgleiche zwischen zehn und achtzehn Jahre alt geworden sind. Dann könnt ihr euren verdorbenen Fisch behalten, damit sich der König an dieser statt mit euren garstigen Jünglingen den Magen vollschlagen kann!«
Fürs Perrin fing lauthals an zu Lachen, ein gackernder Tonfall, der misstönend durch die eisige Stille zwischen der vor Schock Erstarrten schnitt.
Niemand wagte es, ein Wort zu erwidern und Rendrun sackte langsam in sich zusammen, als die Realität dieses Befehls in seine Knochen sank.
»Bei Sina-wa selbst", wisperte eine Älteste kaum hörbar. »Du hast unseren Untergang besiegelt.«
»Auf die Ewigen zu flehen wird uns nicht helfen, Schwester«, knurrte Rendruns Sitznachbar und die gebeugte Frau legte sich zitternd die Knöcheln ihres Zeigefingers gegen die Stirn.
»Wo bleibt eure Freude? Ich habe doch soeben euer Essensproblem gelöst! Feiert, trinkt und labt euch an dem Schmaus, den ihr euren kleinen Monstern abgeknöpft habt!« Nent stimmte in Perrins Lachen ein und die Dienerschaft klatschte widerstrebend in die Hände.
»Bringt sie alle zu mir, wenn die Schergen des Königs kommen. Sollen die entscheiden, ob sie euren gefräßigen Nachwuchs als Entschädigung wollen, andernfalls werde ich euch alle hinrichten lassen!«
Es war Fürst Perrins letztes Wort und Rendrun konnte sich nicht helfen, als reine Erleichterung darüber zu verspüren, dass sein Enkel dieses Jahr bereits die zwanzig erreichte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro