⫷ Kapitel 9: Ijiraq ⫸
Nach einem ungewöhnlich konstant sonnigem Tag, versank die Welt schließlich in Schatten, als sich die Nacht über den Gebirgszug legte, wie ein Tuch blauer Seide. Obwohl es Frühling war und die Tage wieder länger wurden, drückten die steilen Hänge und bewaldeten Schneisen das Licht förmlich aus ihrer Mitte.
Der Fremde hatte den ganzen Tag über kein Wort mehr an Nanouk gerichtet und das kam ihr anfangs auch gelegen. Sich nicht mit seinen nervenaufreibenden Argumenten und verstörend sanften Aussagen zu beschäftigen, bändigten ihre Wut. Doch ließ ihr das Spielraum über all die anderen, furchtbaren Dinge nachzudenken, sodass sie immer dichter zu ihm aufschloss, um in der voranschreitenden Dunkelheit nicht zu weit zurück zu fallen.
Das erste Mal, seit sie durch die Panik über ihren Zustand und die Ausweglosigkeit ihrer Lage hinweggekommen war, wagte sie es darüber nachzudenken, was sie sich all die Monate zuvor verwehrt hatte. Über das Gemunkel und Raunen zwischen den Hütten in Tallik.
Dass es in den dunklen Weiten des Zittergebirges ganz andere Kreaturen als Bären und Wölfe gab. Dass Nebelgeister und Eisdämonen bloß der Anfang einer Liste an schaurigen Gestalten waren, welche fernab der Zivilisation ihr Dasein fristeten, stets hungrig, stets durstig. Nanouk kannte die Erzählungen ihres ataaq, wusste dass es hier draußen genauso Altäre wie den Irinjoks im Südwald gab. Doch sie verbat sich an die Ewigen oder an die Altäre zu denken, die ihnen gehörten. Jene Orte, die als spirituelle Fokuspunkte galten, unzählige andere Geister, doch Nanouk zwang ihre rotierenden Gedanken zum Stillschweigen. Sie wollte darüber gar nichts wissen und verbat sich vehement jeglichen weiteren Gedanken in die Richtung der Lehren ihres verstorbenen Großvaters. Schauermärchen, Lügen, mehr nicht.
Sie waren bis jetzt noch keiner Seele begegnet, weder Eichhörnchen noch Rotkehlchen, keiner Krähe, keinem Raben und Nanouk wusste nicht, ob sie sich deswegen glücklich schätzen sollte, oder nicht. Der Mann hatte gesagt, dass er der einzige war, vor dem sie sich zu fürchten hatte, aber schloss das auch alles andere Getier mit ein? Fürchtete sich ein Eisdämon oder ein Schneebär vor jemandem wie ... ihm?
Nanouks Blick huschte zwischen seinem Rücken und ihrer immer dunkler werdenden Umgebung hin und her, ehe sie sich ein Herz fasste und zum Sprechen ansetzte.
»Warum – abgesehen von den offensichtlichen Gründen – müsste sich alles in diesen Wäldern vor Euch fürchten?«
Der Mann blieb stehen und so hielt auch Nanouk inne.
»Abgesehen von den offensichtlichen Gründen?«, fragte er zu ihr nach hinten und wandte sich schließlich neugierig zu ihr um.
Nanouk unterdrückte ein ärgerliches Seufzen. »Ihr seid ein Diener des Winterkönigs, das dürfte wohl Grund genug sein, Euch zu fürchten.«
Er bedachte sie mit einem langen Blick. »Vorurteile sind es, die du fürchten solltest, uki«, sprach er mit einem Bedauern in seinem Blick und Nanouk blinzelte irritiert zu ihm nach oben. Seine Bezeichnung ihr gegenüber als Überlebende, versetzte ihr einen merkwürdigen Stich des Schuldgefühls.
»Denn Vorurteile sind es, die selbst den rechtschaffensten Mann zu einem Untier verkommen lassen können.«
Nanouk wollte etwas erwidern, doch der Ausdruck in seinen dunklen Augen hielt sie zurück. Als wäre dieser Satz nun tatsächlich eine Warnung, ein Hinweis und eine Bitte an sie direkt, ohne, dass er es ansprach.
»Ich lehre der Welt nicht das Fürchten«, fuhr er schließlich fort und seine Stimme war dabei leise, aber fest, als strenge es ihn an zu sprechen. »Aber ich halte diese Wälder in Schach, so gut ich es kann.«
Nanouk rollte mit den Schultern, um das entrische Gefühl des dunkelnden Waldes in ihrem Rücken abzuschütteln. »Als ob Ihr die dekadenten Sitten des Hofes nicht genießen würdet. Was sind da schon ein paar Vorurteile?«
Der Mann legte den Kopf schief und musterte sie. Ihm schien etwas auf dem Herzen zu liegen, eine Antwort, die Nanouk bereits als Ansatz in seinen stillen Augen lesen konnte, doch ein Zögern schob sich vor seine Zunge und die Worte blieben ungesagt. Stattdessen kräuselten sich seine Lippen und seine Mundwinkel zogen sich in kaum verhohlener Abscheu nach unten.
»Genießen«, stellte er trocken fest. »Selbstverständlich genieße ich all die Vorzüge meines Platzes in seinen Hallen aus Stein.«
Doch die Lüge, welche diese Aussage war, enttarnte Nanouk mit Leichtigkeit und das erste Mal hatte sie das Gefühl ließ der Mann tatsächliche Wahrheit in seine Stimme fließen, unmaskiert und völlig bar gelegt.
»Du willst wissen, was ich bin? Warum sich kein Tier in meine Nähe wagt und weshalb ich dir wie ein Gespenst erscheine?«
Seine Stimme war nach wie vor zeitlos, sanft und ungestüm, obwohl sich in seinen Blick nun ein gefährliches Funkeln mischte. »Du sollst dein Urteil fällen dürfen.«
Und dann begann die Luft um seine Gestalt zu flimmern, seine Konturen verwischten, lösten sich auf in schwarzen Rauch, der in kalte Düsternis zerfloss und die Schatten um sie herum vertiefte. Nanouk hielt erschrocken den Atem an, als sich der schwarze Rauch, welchen sie auch schon am Schneepfad gesehen hatte, schließlich wieder zu einem Ganzen zusammenschob.
Aber anstatt des Mannes schlugen mit einem Mal die mächtigen Pranken eines Schneebären vor ihr auf den Boden und wirbelten diesen auf. Nanouk wich augenblicklich zurück, reckte den Arm mit dem Dolch nach vorne und richtete die Waffe mit zittrigen Händen auf die rot glühenden Augen des Monsters, welches mit zwei Metern Schulterhöhe größer war, als alles, was Nanouk je zuvor gesehen hatte.
Der weiße Pelz des Tieres schimmerte in der Dunkelheit in tiefem Indigo, wirkte so echt, dass sie selbst das flaumige Unterkleid erkennen konnte und die Nase im Wind zucken sah.
Doch der Schneebär rührte sich nicht vom Fleck, blickte sie lediglich von oben herab an, ehe sich auch seine Konturen wieder in Schatten auflösten und sich in die hochgeschossene, aber schmale Form eines riesigen Karibus formten.
Nanouk wich einen weiteren Schritt zurück, als sie jegliche Muskeln in ihrem Körper an der Flucht hindern musste. Nichts an diesem sanften Tier wirkte sanft. Früher hatten sie ständig Jagd auf Karibus gemacht, vor allem im Frühling und im Herbst, doch war es riskant diese Herdentiere zwischen den trügerischen Eisschilden zu verfolgen und wäre sie diesem Karibu auf der Jagd begegnet, so hätte sie augenblicklich kehrt gemacht.
Und als auch diese Erscheinung verwirbelte und anstelle des unheimlichen Karibus ein mächtiger Rabe mit den Flügeln schlug, erkannte Nanouk ihren Denkfehler. Es hatte nie einen Raben gegeben, der sie vor dem Eisdämon gerettet hatte. Und der Vogel war auch nicht durch die Hand des Dieners gestorben, so wie sie zuerst beim Anblick der einzelnen Rabenfeder in den Händen des Mannes geglaubt hatte. Der Diener war der Rabe gewesen.
Zitternd ließ Nanouk den Dolch sinken und wenig später löste sich wieder die Gestalt des Mannes mit den rostroten Haaren aus den dunklen Schatten. Und auch er blickte sie nun mit dem blutroten Schimmer in seinen Augen an. Also hatte sie sich diese ebenso wenig eingebildet.
Doch das war unmöglich. Sie verbat es sich, zu glauben, was sie eben gesehen hatte. Magie durfte es nicht geben, ganz gleich, was man sich in den Dörfern erzählte, Geschichten waren Geschichten und Gemunkel bloß Gemunkel, weil sie keine Richtigkeit besaßen! Magie gab es nicht.
Nanouk spürte, wie sie in eine Angststarre verfiel, als ihr Verstand ihr langsam und ungewollt die Dinge vor Augen führte, vor denen sie sich seit dem Tod ihres ataaq verschlossen hatte.
Sie wollte nicht an Magie glauben, weil es einfach alles auf den Kopf stellte und ihr Leiden, die Kälte, den Hunger und den Tod zu etwas machte, das durch eine gerichtete, übergeordnete Macht verursacht wurde und nicht durch das Unglück einiger Schlechtwetterjahre erklärt werden konnte. Es bedeutete, dass ihr aller Verderben einen ungreifbaren, unverständlichen Grund hatte, der sich ihr aufgrund völlig unerreichbarer Wesenheiten und deren Gemüter entzog.
Nanouk verstand das Wetter, das Klima, Regen, Schnee, Wind und Wasser. Sie verstand die Reise der Himmelskörper, Tag und Nacht, Sonne und Mond. Was sie nicht verstand war dieses Netz aus Magie, das unsichtbare von den Ewigen und ihren Geistern gewobene Band, welches unfassbar und unspürbar durch die Erde floss. Keine Geschichte ihres Großvaters hatte etwas an ihren Überzeugungen ändern können.
Magie war eine Fantasie, welche die Trostlosigkeit mit Heiterkeit füllte, aber nichts sein durfte, das diese an erster Stelle verursachte. Zu wissen, dass es die Geisterwesen wirklich gab, dass die Altäre der Ewigen allesamt eine Bedeutung hatten, welche über das Wunschdenken hinausging, machte ihre Existenz in dieser der Ewigen verlassenen Welt aus Kälte und Tod zu einer bitteren, unverständlichen Strafe.
Menschen konnten nicht einfach in einer Explosion aus Schatten verschwinden, Menschen konnten nicht zwischen den Geistern der Tiere springen und die Darbringungen der Gaben an den Altären waren nichts als ein Zeitvertreib gewesen und keine Ehrerweisung an die Urahnen der Tiere, an die Bindeglieder in die Welt der Ewigen und ihren Geistern.
Und doch hatte der Prinz einen ganzen Konvoi zum Verschwinden gebracht und der Mann vor ihren Augen seine Gestalt verändert.
»Das wären die weniger offensichtlichen Gründe«, meinte der Mann schließlich so unbefangen wie eh und je.
Nanouks Atem zitterte, als sie die kalte Nachtluft einsog. »Ihr seid ein-«
»Monster«, unterbrach er sie ruhig, nur mit der Andeutung eines Lächelns um seine Lippen. Er schnippte sich eine Schneeflocke von der Schulter. »So wurde ich schon des öfteren genannt, doch nicht aus den Gründen wie den deinen.« Sein Lächeln wurde abweisend, bedauernd, doch ganz gleich, wie er sich verhielt, Nanouk konnte die Furcht beinahe in ihrem Rachen schmecken.
»Und Ihr verlangt, dass ich mich nicht vor Euch fürchte.«
Schlimmer noch, als sich eingestehen zu müssen, dass an dem Gemunkel in den Tälern tatsächlich etwas dran war, war die Tatsache, dass dieser Dämon hier nicht irgendein Dämon war. Das hier war Ijiraq, ein böser Geist, ein Gestaltenwandler, wenn man den Ammenmärchen Glauben schenken wollte, welche die Mütter ihren Kindern vor dem Zubettgehen erzählten.
Das merkwürdige Fehlen seiner Präsenz, die Art und Weise, wie Nanouks Unterbewusstsein nicht einmal erahnen konnte, wo sich der Mann befand ergab nun allerdings erschreckend viel Sinn. Ijiraq war schließlich nie wirklich zu erkennen, wenn er sich nicht bewusst zu erkennen gab. Stets ein dunkler Schemen in den Augenwinkeln, doch nie wirklich da. Seine blutroten Augen, welche seinem diabolischen Ursprung zu verdanken waren, ließen Nanouk erschaudern. Er verschleppte Kinder, stahl sie durch die Nacht davon und verschlang nicht selten eine verirrte Seele in der weißen Wüste.
Sie schluckte, immer noch fassungslos und hoffte inständig, dass sie nicht seine nächste Mahlzeit werden würde.
»Wenn du meinen Worten nicht glauben schenken möchtest, dann vertraue zumindest auf meine Taten. Vertraue auf deine Unversehrtheit angesichts unserer Umstände, kleiner Bär.«
Nanouk verzog den Mund, wagte es aber sich zu beruhigen. Er hatte gewissermaßen Recht. Sie war nach wie vor unverletzt, fühlte sich sogar verstörend lebendig. Doch ihr Körper strafte ihre Gedanken Lügen, zitterten ihre Finger nach wie vor unablässig.
»Nennt mich nicht so«, brachte sie schließlich zustande. Nicht einmal ihre Eltern nannten sie noch so, als wäre ihr Name ein Relikt aus einer verbotenen, geächteten Zeit.
»Aber so heißt du doch. Nanouk. Bär. So haben dich deine Kameraden gerufen«, wandte Ijiraq ein und bedachte sie erneut mit diesem Blick, der in ihrer ganzen Erscheinung nach den Antworten suchte, die er sich erhoffte zu erhalten. Doch Nanouk wusste nicht um die Fragen hinter diesen Blicken, also ignorierte sie ihn. Es behagte ihr nicht ein Interesse wie das seine zu erwecken.
»Furchtlos«, fuhr er mit dieser ruhigen Stimme fort, die Nanouk unter die Haut ging. »Widerstandsfähig, ausdauernd. Gute Eigenschaften für ein Leben am Abgrund. Und bisher machst du deinem Wächtergeist alle Ehre.«
Nanouks Muskeln spannten sich an, als sich alles in ihr sträubte dieses Thema fortzuführen. »Und wie heißt Ihr?«, fragte sie schroffer als beabsichtigt, darum bemüht ihre eigenen verräterischen Gedanken zu zügeln.
Daraufhin lächelte Ijiraq schalkhaft und ein belustigtes Funkeln erhellte seine Augen. »Wenn du das errätst, dann gewähre ich dir einen Wunsch im Rahmen meiner Macht.«
Nanouk straffte die Schultern und erwiderte seinen Blick mit Kälte in den Augen. »Ich lasse mich nicht auf Verträge mit bösen Geistern ein. Behaltet Eure merkwürdigen Geheimnisse, vorher verhungere ich ohnehin.«
Der Gestaltenwandler hob sanft die Schultern und nickte schließlich. »Das kann ich natürlich nicht zulassen. Ich bringe dir zu Essen.« Er lächelte sie dabei offen an. »Selbst wenn ich wollte, könnte ich dich nicht töten.«
Und damit verwischte seine Gestalt, hinterließ nicht mehr als einen feinen Wirbel aus Schnee und die Mutmaßung seiner selbst, wie er als dunkler Schemen durch die Baumkronen emporstieg.
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