⫷ Kapitel 4: Die Halle der Abgaben ⫸
»Und ihr seid?«, schnauzte der Stadtschreiber vor dem Nebeneingang ins Handelskontor. Seine dicke Fellmütze war ihm tief ins Gesicht gerutscht und Nanouk wunderte sich, warum ihm mit seinen fingerlosen Handschuhen nicht die selbigen abfroren. Er blickte von seinem angesengten Klemmbrett auf und bedachte sie mit einem mürrischen Blick.
Sie deutete auf den Karren. »Ich bin Nanouk, mein Herr. Wir kommen aus Tallik, Rendrun-«
»Ja, ja über den Rest weiß ich Bescheid. Den Brief«, forderte er sie mit dem Wink seiner geröteten Finger dazu auf, ihm den Zettel zu geben. Nanouk überreichte den Brief und wartete, bis der Schreiber einen Haken auf sein Klemmbrett setzte.
»Nanouk, du hast versprochen, dass wir jetzt los können«, meldete sich Paali zu Wort und die Angesprochene nickte. Doch noch ehe sie ihnen die Erlaubnis erteilen konnte, erhob der Stadtschreiber das Wort erneut.
»Alle gehen mit. Bringt den Karren durch den Innenhof in die Nordhalle.«
Nanouk runzelte die Stirn. Sie war zwar noch nicht oft am Abgabetag in Aalsung mit gewesen, doch erinnerte sie sich nicht an dieses Protokoll.
»Verzeiht, aber-«
»Na los, Abmarsch.« Das war sein letztes Wort und Nanouk legte schützend eine Hand auf Inaaks Schulter, als sie merkte, wie die Stadtwachen neben dem Eingang hellhörig wurden.
»Ist ja gut«, besänftigte sie den Stadtschreiber, der sie mürrisch weiter winkte.
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In der Nordhalle tummelten sich schon einige Kinder und das überraschte Nanouk. Denn das hier waren tatsächlich kaum mehr als Halbwüchsige, die vielleicht zehn oder fünfzehn Winter zählten. Sie standen in kleinen Gruppen zusammen und tuschelten, deuteten immer wieder auf die Wachen, die an den Ausgängen des Handelskontors standen und wirkten unruhig.
Nanouks Herz fing an heftiger zu schlagen, als sie sich selbst umblickte und erkannte, dass das Podest, auf dem für gewöhnlich die Güter abgegeben wurden, beinahe leer war. Sie hatte gewusst, dass es schlecht um sie alle bestellt war, aber dass es jegliches Dorf in der Provinz so hart treffen könnte, wie Tallik, versetzte ihr dann doch einen Tritt in den Magen.
»So wenige Waren«, pflichtete ihr Qiuq bei und zählte mit der Hand die Kisten.
Das ungute Gefühl in Nanouks Bauch verschlimmerte sich und sie versuchte ihr Unbehagen zu verstecken, als ihr das Herz in den Hals hüpfte. Mit einem knarrenden Dröhnen öffnete sich das Nordtor zur Halle und sie erkannte über die Köpfe der Kinder hinweg, wie Fürst Perrin höchstpersönlich durch die Tore schritt. An seiner Seite führte er den bedrohlich wirkenden Mann und seine handvoll an Soldaten ins Innere der Halle.
Nanouk hatte Perrin noch nie von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden, doch der dunkelrot gefärbte Pelzumhang mit dem weißen Kragen aus Hermelinfell, wirkte eindeutig und unmittelbar auf sie. Dekadent.
»Seht, mein Prinz«, erhob Fürst Perrin seine quäkende Stimme und breitete seine Arme schwungvoll aus, sodass sein opulenter Pelzumhang um seine Gestalt wallte. »Ich enttäusche Euch nicht, richtig? Ohh, so viel besser als verdorbene Feldfrüchte!«
Nanouk starrte den Fürsten verständnislos an, doch dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf den finsteren Soldaten an seiner Seite. Hatte er Prinz gesagt?
Nanouks Blick huschte in der Halle umher, doch der Fürst und sein Prinz wurden aus allen Ecken mit entsetztem Schweigen bedacht.
»Ihr braucht bestimmt ein paar Jünglinge, ein paar jungfräuliche Maiden, die Winter sind lang und kalt«, fuhr er kichernd fort und packte einen kleinen Jungen am Kragen, der das Unglück hatte, ihm am nächsten zu stehen. Ihm entkam ein wortloses Wimmern. »Und ach, so einsam«, hauchte er und ihm quollen die Augen dabei aus dem Kopf. »Was gäbe es da nicht erquicklicheres als warmes Fleisch?«
Der Prinz jedoch starrte Fürst Perrin wortlos an, sein Gesichtsausdruck nun aus der Nähe noch finsterer, als seine Erscheinung.
Warmes Fleisch. Nanouk rieselte ein kalter Schauer das Rückgrat entlang, als sie nun wie Qiuq die Kisten in der Halle zählte und dann zu dem erschütternden Ergebnis kam, dass man sich Waren einsparen konnte, wenn man an ihrer statt etwas anderes schickte. Ihre Gedanken sprangen zu ihrem Gespräch mit Ajat zurück, als sie heute Morgen noch darüber gescherzt hatten, dass die Prinzen frisches Blut begehrten, doch lachen konnte sie darüber mit einem Mal nicht mehr.
Und der angewiderte Ausdruck auf dem Gesicht dieses Prinzen, war alles andere als vertrauenerweckend. Er blickte auf die überschaubare Menge an Kindern und Halbwüchsigen hinab und sah über alle Maße unzufrieden aus.
»Alles auf die Karren«, knurrte er dann mit einer Stimme, die so rau war, wie der Frost auf den Dächern. »Bete zu den Geistern, dass du dich nicht maßlos überschätzt hast«, fügte er dann grollend an Fürst Perrin gewandt hinzu, doch der Fürst lachte nur gackernd auf.
»Wenn Euer Herr noch mehr Kinder will, kann er sie gerne haben! Meine alten Tattergreise wollen schließlich ihre Nahrung nicht mehr mit den Gierschlunden teilen, oh nein!«
Der Prinz verzog angewidert das Gesicht und gab seinen Soldaten mit dem Arm den Befehl alles zusammen zu packen.
Nanouk stand wie viele der anderen Kinder bloß ungläubig da. Das war ein Irrtum, ein übler Scherz. Hatte Rendrun davon gewusst und sie aus diesem Grund alleine vorgeschickt? Nein, das war unmöglich. Rendrun würde niemals zustimmen, Kinder in die Sklaverei zu verkaufen! Sie warf ihre Schockstarre ab und zwang sich dazu, die Stimme zu erheben, obwohl ihre Hände unangenehm zitterten.
»Verzeiht, mein Herr! Verzeiht, bitte, aber hier liegt ein Missverständnis vor!«
Fürst Perrin zuckte beim Klang ihrer lauten Stimme zusammen und fuhr hektisch zu ihr herum, das selbstgefällige Grinsen fiel ihm dabei vom Gesicht. Sein Blick wanderte von ihr zu dem Prinzen und Nanouk erkannte bereits, wie sich der Speichel in seinen Mundwinkeln zu Schaum wandelte. Doch er sagte nichts. Stattdessen erklang die raue Stimme des Prinzen, rollte wie Donner durch die Halle, in der nach wie vor Grabesstille herrschte.
»Das hier ist die Halle der Abgaben«, sagte er und Nanouk wandte ihm widerwillig den Kopf zu. Er blickte sie direkt an und Nanouk spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog. Aus seinen Augen sprach selbstsichere Arroganz, kalt und unnachgiebig. »Ich erkenne kein Missverständnis in deren Zweck. Bindet die Kinder mit den Stricken«, fegte er Nanouks Widerworte einfach vom Tisch und nickte seinen Soldaten nachdrücklich zu.
Diese packten die Kinder, stießen sie grob zusammen und fesselten sie mit rauen Seilen an den Händen. Die meisten waren noch in ungläubiger Angst gefangen, rührten sich kaum doch schon bald hörte man es Klagen.
Nanouk biss ihre Zähne zusammen und schüttelte fassungslos den Kopf. Das hier waren doch nur Kinder. Selbst, wenn sie rechtens hinauf ins Zittergebirge wandern mussten, würde die Hälfte doch schon auf dem Weg dorthin erfrieren!
Die harten Winter hatten bereits den höchsten Tribut gefordert, den sie geben konnten. Viele der älteren hatten mit dem Leben bezahlt, dazu gezwungen wie die Erwachsenen für Unterhalt zu sorgen, aber nicht annähernd so erfahren wie ihre Eltern. Nicht wenige waren auch aus Tallik den Heimtücken der Kälte, der Wälder im Nebel zum Opfer gefallen. Waren bei der Jagd schwer verletzt worden, oder in dem verzweifelten Unterfangen, draußen auf den Fjorden nach Robben zu fischen, ertrunken.
Tonraq war letzten Winter in den eisigen Wäldern verschwunden, verzweifelt der Spur eines Rentier folgend und hatte Ajat und seine Großeltern in Trauer zurück gelassen. Auch Nanouks Bruder war umgekommen. Sie wäre vor drei Jahren an eben diesem Tag beinahe selbst ertrunken, als sie durch die trügerischen Eisschichten der Seen gebrochen war. Wie auf Geheiß fing die Narbe an ihrer rechten Schläfe an zu kribbeln und eine Erinnerung, ein Gefühl der Schuld drängte sich ihr auf, doch sie würgte diese ab und zog sich aus dem Sog der lähmenden Gedanken.
»Bleibt hier«, beschwor sie die anderen drei und die jüngeren nickten, kreidebleich im Gesicht. Dann schob sie sich durch den ansteigenden Tumult, der durch die Soldaten des Prinzen nur geschürt wurde.
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