⫷ Kapitel 3: Aalsung ⫸
Die Hauptstadt der Provinz Aalsung, nach der sie auch benannt war, lag ein Stück weit östlich von Tallik. Das Zittergebirge zog den gesamten Weg zu ihrer linken als dunkel anmutende Silhouette neben ihnen her. Auch, wenn man es aus Tallik nicht direkt erkennen konnte, da ihr Dorf am westlichen Ausläufer in der Nähe der Fjorde lag, meinte Nanouk die drohende Präsenz der steilen, bewaldeten Hänge stets zu spüren.
Nun tauchten sie direkt in dessen Schatten ein, denn die hohen Gipfel sperrten die Sonne bereits früh am Nachmittag aus und ließen die Welt in tiefe Blautöne gehüllt zurück.
Aalsung konnte man zwischen den Bäumen bereits anhand seiner weit aufsteigenden Rauchfahnen erkennen, die Schmieden, Suppenküchen und offene Feuerstellen angehörten. Die Geräusche gesellten sich alsbald zu den Sinneseindrücken und Nanouk hörte das Gelächter, Geschnatter und Geschrei des großen Marktplatzes.
Die Stadt war durch einen hohen Zaun aus Holzpfählen geschützt und versuchte somit den verwunschen geglaubten Gebirgszug abzuwehren. Nanouk befiel, wie jedes Mal, ein ungutes Gefühl, als sie die Verteidigungsmaßnahme erblickte und nicht umhin kam, sich einzugestehen, dass es durchaus einen Grund gab, warum Aalsung auf solche Wälle setzte. Zwar mochte Nanouk nicht zwangsweise an Dämonen und böse Geister glauben, aber Schneebären auf der anderen Seite waren echt.
Ganz gleich wie träge sie aussahen, vor ihnen war man nicht einmal in Sicherheit war, wenn man auf Bäume kletterte. Weswegen die Palisade um Aalsung herum auch mindestens drei Mannslängen hoch war.
Nanouk reckte den Kopf und spähte hinauf zu den zugespitzten Pflöcken, als sie durch das offene Stadttor gingen und die Waren schließlich auf einen kleinen Karren mit Rädern umluden. In Aalsung wurde die meiste Zeit Schnee geräumt und der raue Pflasterstein würde ihnen nur die Kufen der Schlitten beschädigen.
Sie packte kräftig mit an und bedankte sich bei einem der Stallwächter, der ihnen dabei zu Hilfe eilte, bis sie alles verladen hatten.
In Aalsung gab es den einzigen Anschluss an den Rest der Welt, vor allem in den Osten und in den Süden. Postwege liefen ausschließlich über die Hauptstadt und hätten sie nicht ihre Rauchsignale und im Sommer die Schneisen durch die Haine, wäre es auch unmöglich, sich mit den anderen Dörfern so weit im Westen auszutauschen.
Weswegen Aalsung auch immer ein äußerst begehrtes Reiseziel unter allen Bewohnern Talliks war. Hier bekam man Neuigkeiten, feine Stoffe, Metalle, Knochennadeln und Schmuck. Ausgefallene Pelze, robustes Werkzeug und die Süßigkeiten, die Ajat so gerne aß. Marillen gab es hier im Westen allerdings nicht, die orangene Frucht wuchs bloß im warmen Süden, jenseits der Nadelwälder und fern vom tückischen Schatten des Zittergebirges.
Und deswegen verstand Nanouk auch nicht, warum Rendrun dieses Mal nur sie selbst und drei halbstarke Burschen mitgenommen hatte. Sie beratschlagten sich bereits vor ihrem Eintritt nach Aalsung begeistert darüber, was sie sich als erstes ansehen sollten, glänzende Waffen, Speere, Schwerter und Messer auf der einen Seite und alle fremdländischen Köstlichkeiten auf der anderen.
Rendrun führte sie über den großen Marktplatz, der unzählige Verkaufsstände aufwies und das Geschrei der Marktrufer wurde nun allgegenwärtig. Der Dorfälteste blieb angesichts dieser ansteckenden Lebenslust jedoch völlig kalt.
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Dadurch, dass heute der Tag der Abgaben war, tummelten sich noch viel mehr Leute auf dem Marktplatz, als für gewöhnlich. Nanouk erspähte zwischen den Pferden und Rentieren, welche den reicheren Dörfern als Lasten- und Zugtiere dienten, auch einige bekannte Gesichter aus den umliegenden Siedlungen.
Nanat war berühmt für ihre fantastischen Stickereien, die selbst in der Lage dazu waren einen Hieb mit dem Messer auszuhalten und Uruuq, der keine zwei Wegstunden von Tallik lebte, war bekannt für seine außerordentlich waghalsigen Manöver mit dem Kajak.
Nanouk war immer gerne aufs Meer hinaus gefahren, als Kind hatte sie sich immer auf den rauschenden Ozean gesehnt, doch dann hatte Inuksuk, ihr Großvater, von Saibiki erzählt und von ihren üblen Launen. Und dann, vor kaum drei Jahren hatten sie den Unfall auf dem See gehabt. Seitdem mied Nanouk das Wasser.
Jetzt allerdings hob sie nur die Hand zum Gruß, als sie an den beiden Dorfbewohnern vorbei gingen und zog den Karren auf das Handelskontor zu. Rendrun allerdings hielt sie mit einem Mal am Oberarm zurück.
»Nanouk«, sagte er angestrengt und ließ seinen Blick beunruhigt über den Stadtplatz wandern. »Wärst du so gut und würdest den Karren mit den Jungs zum Kontor bringen? Ich muss mich mit den anderen Dorfältesten besprechen. Das Wetter, die Lage, du ahnst es.«
Nanouk nickte folgsam, das hatte sie schließlich vorgehabt. Rendruns Griff um Titus Leine verkrampfte sich für einen Augenblick, es wirkte, als läge ihm etwas auf der Zunge, jedoch schwieg er und holte dann bloß einen Umschlag aus der Tasche.
»Nimm den Brief und gib ihm dem Verwalter, damit er weiß, zu wem du gehörst.« Er reichte ihr das zerknitterte Stück Papier und Nanouk steckte es in die Manteltasche. »Danke.«
»Selbstverständlich«, gab sie pflichtbewusst zurück und schenkte Ajats Großvater ein Lächeln. Doch dieser erwiderte es nicht und biss nur die Zähne zusammen, als der Wind ihm in den Augen stach und sie zu Tränen rührte.
»Passt gut aufeinander auf«, sagte der Dorfälteste schließlich und klopfte ihr einmal zaghaft auf die Schulter.
»Machen wir. Ich hoffe, das dauert nicht all zu lange, ich habe Ajat versprochen, ich suche Zuckermarillen.«
Rendrun nickte und wandte sich dann steif ab.
Ein wenig verdattert blickte Nanouk dem Greis nach und hob dann die Schultern. Gerade spannend war es nicht die Waren zum Handelskontor zu bringen und Rendrun hatte schließlich wichtigeres zu tun.
Nanouk seufzte, winkte dann die anderen drei zu sich und gemeinsam drängten sie sich durch die Menge auf die andere Seite des Marktplatzes.
Das Handelskontor war ein hohes, zweistöckiges Gebäude aus robustem, grauem Stein und imposanten, roten Dachziegeln, die allerdings wie alles andere im Norden mit einer dicken Schicht Schnee bedeckt waren. Mehr Karren und Pferde kreuzten ihren Weg und Nanouk hielt die drei Burschen an, dicht bei ihr zu bleiben. Sie reihten sich schließlich in die Kolonne der anderen Dörfer ein, die ebenfalls ihre Tribute ablieferten.
Als sie warteten, fingen Qiuq und Inaak an zu jammern, wie öde das Warten war, doch Nanouk besänftigte sie damit, dass sie gleich nachdem sie den Karren beim Stadtschreiber abgegeben hatten, loslaufen durften.
Während also das Gemurre abnahm, blieb Nanouk ein wenig Zeit, die Umgebung zu mustern. Sie lächelte noch einigen anderen ihr bekannten Gesichtern zu und überlegte sich, welche Läden sie wohl besuchen musste, um an Zuckermarillen zu gelangen. Ajat hatte immer so unmöglich ausgefallene Wünsche!
Als sie nachdenklich die Ladenschilder auf dem Marktplatz absuchte, fiel ihr Blick schließlich auf das Nordtor, direkt neben dem Handelskontor. An den bedrohlich aufragenden Holzpfählen tummelte sich eine Gruppe an Reitern, die gerade absaßen.
Nanouks Brauen verzogen sich argwöhnisch, als sie den Kopf reckte, um die in komplettes Schwarz gewandeten Gesellen genauer zu betrachten. Etwas widernatürliches haftete der Gruppe an und sie hielt den Atem an, als sie die langen Dolche, Schwerter und Bögen erkannte, die ausnahmslos jeder von den neun Gestalten bei sich trug. Doch von allen Männern stach ihr einer besonders ins Auge.
Er war größer als die anderen, was bestimmt an seinem massiven Federkragen lag, dessen schwarze Federn selbst in dem schwachen Licht des Nachmittags dunkel schillerten. Nanouk wurde sofort von einem unguten Bauchgefühl beschlichen, als sie ihn betrachtete, konnte es jedoch nicht zuordnen. Das mussten die Soldaten sein, welche ins Tal kamen, um die Abgaben für den König zu holen.
Nanouk unterdrückte ein kräftiges Schütteln und verlor sich im Anblick dieser dunklen zur Schaustellung an Macht, denn obwohl sie nicht viel vom Winterkönig – oder seinen Schuldeneintreibern – hielt, flößte ihr diese Repräsentation seiner Herrschaft Ehrfurcht ein. Die Männer lachten miteinander, unterhielten sich, doch verstand Nanouk natürlich nicht was sie sagten. Als der Hüne mit dem Federkragen den Kopf langsam zu ihr umwandte, stockte Nanouk der Atem. Er blickte selbst von dieser Entfernung auf sie herab und sie wandte rasch den Kopf zurück nach vorne. Sein stechender Blick hatte sich angefühlt, als durchbohre er sie direkt da, wo sie stand. Als wäre er tatsächlich ein Unhold aus den Schneisen des Zittergebirges, der kleine Mädchen verspeiste.
Nanouk stieß die Luft irritiert aus. Das war alles Holler, nur weil ein breitschultriger Mann ein wenig bedrohlich wirkte, hieß es noch lange nicht, dass er Kinder tötete. Energisch schob Nanouk den Karren vorwärts.
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