⫷ Kapitel 19: Demut, dem Demut gebührt ⫸
Nanouk betrat den riesigen Saal hinter den schwarzen Toren. Sie war kaum zwei Schritte gegangen, als sich die schweren Torflügel in ihrem Rücken mit einem Dröhnen schlossen.
Der Saal erstreckte sich zu beiden Seiten Nanouks und doch erblickte sie nichts und niemanden. Es gab weder Bänke, noch Tafeln, keine Stühle, keine Teppiche, keine Kronleuchter und allem voran keine Menschenseele. Nanouk war, als hätte man sie in einen Raum zwischen den Welten gestoßen, der Boden war aus poliertem Alabaster gefertigt, welcher gleißend weiß das Licht reflektierte, das durch die massigen Spitzbogenfenster ihr gegenüber fiel.
Nanouk blinzelte irritiert in die blendenden Stille des Saales, der so sehr im Kontrast zum schwarzen Gestein des Palastes stand, dass sie für einen Moment vergaß, sich zu fürchten. Selbst das Sonnenlicht brach sich an den Kristallglasfenstern und streute als funkelnder Regenbogen auf den weißen Boden.
Nanouk blickte sich in dem ruhigen Saal um und hätte beinahe die einzige Silhouette übersehen, ginge von ihr nicht ein Gefühl schauriger Dunkelheit aus. Erst sachte, doch dann immer energischer, zog dieses Gefühl an ihren Eingeweiden und Nanouk stellte mit einem Schreck fest, dass sich jemand im Schatten dieser Silhouette befand.
Es war ein Thron und auf diesem saß ein Mann.
Nanouk hielt die Luft an, als sich ihre Augen an die stechenden Lichtverhältnisse gewöhnten und mit ihrer wachsenden Sehkraft, wuchs auch das Unbehagen. Sie erkannte lange Beine, die überschlagen in kohlrabenschwarzen Stiefelschaften steckten, welche bis über seine Knie reichten. Sie konnte es nicht deuten, konnte nicht sagen, woher das Rumoren in ihrem Bauch auf einmal kam, doch alleine zu wissen, dass der Winterkönig dort vorne ebenso reglos wie der Stein unter ihm saß, entfachte in Nanouk den Drang die Flucht zu ergreifen.
Es war genau wie jenes Gefühl, welches sie ereilte, wenn sie den endlosen, dunklen Forsten im Südwald den Rücken kehrte. Doch hier drang diese lautlose Gefahr von allen Seiten auf sie ein und machte die gleißende Leere des Thronsaals zu einer Falle, die Licht und Ehrlichkeit vortäuschte, obwohl gerade diese Illusion das erschreckende war.
Die Haltung des Winterkönigs war keineswegs aufrecht und erhaben, wie sich Nanouk das stets ausgemalt hatte, sondern er war leicht in sich zusammen gesunken, lasziv zurückgelehnt und hatte die Ellenbögen beinahe schlampig auf den schwarzen, schmalen Armlehnen des steinernen Throns abgestützt.
Jetzt realisierte Nanouk auch, warum es ihr so schwer gefallen war, ihn zuvor zu erkennen. Seine Kleidung war bis auf die Stiefel schneeweiß, der Thron, auf dem er saß, nachtschwarz und die Fenster in seinem Rücken blendeten jeglichen Gast, der durch dieses Tor geschritten kam. Damit der Winterkönig seine Besucher mustern konnte, während diese sich zuerst an die kontrastreichen Lichtverhältnisse gewöhnen mussten.
Nanouk schluckte, als sie keinen Schritt zu nehmen vermochte. Sollte sie näher treten? Sollte sie warten? Die Ungewissheit krallte sich in ihre Magengrube wie kaltes Eisen, schwer und stechend. Durfte sie ihm ins Gesicht blicken? Zur Sicherheit tat sie dies nicht, sondern begutachtete stattdessen seine Hände. Seine linke wurde von einem blutroten Handschuh bedeckt, seine rechte war nackt und Nanouk erkannte bloß lange, weiße Finger, mit denen er Nanouk nun deutete näher zu treten.
Sie war immer noch wie erstarrt. Vom Winterkönig gesehen zu werden, sodass er sogar ihr gegenüber einen direkten Befehl äußerte, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Das entrische Gefühl seiner Präsenz schlug sich in ihr Gemüt und brachte ihr Herz zum Rasen. Das hier war kein Ammenmärchen, kein Gerücht und kein gestaltloser Name, über den man schimpfen konnte. Der Winterkönig war echt und greifbar nahe.
Viel zu nah, flüsterten ihre Gedanke und Nanouk zwang ihre Beine regelrecht dazu, sie vorwärts zu tragen, hin zu dem grauenhaften Monster, welches ihnen alles nahm.
Ihre Samtschuhe erzeugten kein Geräusch auf dem Alabasterboden und sie selbst hob ihren Blick nicht von diesem, bis sie zwei Mannslängen vor dem Winterkönig stehenblieb. Sie konnte keinen weiteren Schritt mehr tun, konnte sich nicht noch näher an jenen Mann heranwagen, dessen Ausstrahlung bereits hier so erdrückend, so unterjochend wirkte, dass Nanouk das Atmen schwer fiel.
Sie erkannte seinen Oberkörper, um dessen Schultern ein weißer Pelzmantel lag, der nur von einer Goldkette über die Brust zusammengehalten wurde. Er trug erstaunlich schlichtes Gewand, das nur durch seine Reinheit für seinen Stand sprach.
Nanouk spürte seinen Blick auf sich und wünschte, sie könnte vergehen.
»Das ist sie also, die kleine Maus, die Adassett im Gebirge vergessen hat.«
Nanouk zuckte heftig zusammen, als die Stimme des Winterkönigs ertönte. Sie war klar und rein, als stieße man ein Glas mit der Gabel sachte an, als lausche man dem Klang von hellen Glocken an der Meeresküste, die im kalten Nordwind läuteten.
»Vergessen«, antwortete eine zweite Stimme und Nanouk blieb das Herz für einen Augenblick lang stehen, als sie diese erkannte, die neben dem Thron her erklang. Sie hatte dort zuvor niemanden gesehen und mit einem Anflug von Erleichterung meinte sie, Ijiraq stünde neben dem Thron. Doch dann erhob der Winterkönig erneut das Wort und jegliche Erwartung zersplitterte.
»Ja, Reiki. Vergessen. Wie sonst erklärst du mir ihre Anwesenheit in meinem Thronsaal? Die anderen Kinder wurden doch auch bereits längst untergebracht. Was soll ich damit?«
Nanouk vergaß all ihre Vorsätze, den Blick nicht zu heben und riss den Kopf in die Höhe. Das konnte unmöglich wahr sein, doch die tiefroten Augen, welche sie nun von oben herab anblickten, gehörten unmissverständlich dem Gestaltenwandler.
Nanouk schluckte heftig gegen die plötzliche Trockenheit ihrer Kehle an, als sie Ijiraq entgegenblickte, der seelenruhig und mit reglosem Gesicht neben dem Thron stand, als wäre er nicht eben einfach dort aufgetaucht.
»Man vergisst nicht einfach jemanden im Zittergebirge, atanik«, antwortete Reiki und er wandte den Blick ab, als wäre er ihrer Erscheinung bereits überdrüssig.
Der Winterkönig stieß ein kurzes Lachen aus, das frei von jeglicher Emotion war und Nanouk folgte der Geste seiner Hand, als er sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen tippte.
Er hatte schockierend schlohweißes Haar, wie frisch gefallener Schnee, das ihm zu beiden Seiten seiner Stirn bis zu den ebenso weißen Wimpern ins Gesicht fiel. Die aus dunklem Kristall gefertigte Krone wirkte filigran, dünnen Zweigen gleich, mit fein geschmiedeten Blättern und Blüten besetzt und Nanouk musste unwillkürlich an den Urahn der Geweihträger zurückdenken, dessen Krone aus Ästen schwarz und verdorrt ausgesehen hatte.
Und nach all diesen Eindrücken konnte sie sich auch nicht mehr davon abhalten, dem König direkt in die Augen zu blicken. Ob es ihrer schwindende Selbstbeherrschung zu Schulden kam, die durch ihre Angst dünn gescheuert worden war, oder ihre fehlenden Manieren, die man in einem Dorf wie Tallik nie erlernt hatte, vermochte Nanouk gar nicht mehr zu ergründen, denn der Blick des Winterkönigs war so stechend wie schmelzendes Eis auf der Haut.
Seine Augen waren so blass wie der Schnee selbst, als blicke sie nicht in das Gesicht eines Menschen, sondern in die ewigen Abgründe der Eisspalten. Seine Pupillen waren selbst von der Entfernung als deutliche Punkte zu erkennen und Nanouk erkannte hinter dieser endlosen Schwärze ein Wesen, das so allumfassend und gigantisch war, als wäre der Winterkönig selbst der Tod gehüllt in kalte Flut. Ein Eisdämon, nicht atanik, nicht König.
Nanouk schluckte, als sich jeder Muskel in ihrem Körper ihrer Dienste entzog und sie hilflos diesem Blick ausgesetzt war, der sie hier auf dem kalten Boden des Thronsaals zu Asche verwandeln wollte.
»Nun. Dieses Ding hier hat Adassett eindeutig vergessen. Wie dem auch sei. Es ist mir einerlei. Ich brauche sie nicht«, erwiderte der Winterkönig auf Reikis vorherigen Kommentar und die Worte fühlten sich an wie Peitschenhiebe. Endgültig. Verurteilend.
Nanouk wollte etwas sagen, wollte für sich einstehen, um den Worten des Winterkönigs zu trotzen, die ihre gesamte Existenz mit einem einzigen Wink seiner kalten, klaren Stimme auslöschte, doch nichts vermochte es ihre Zunge zu lösen. Auch nicht ein Seitenblick zu Reiki, zu Ijiraq, demjenigen, der sich ihr fast wie ein Freund zu erkennen gegeben hatte und nun nicht einmal genügend Betroffenheit aufbrachte, um ihr ins Gesicht zu sehen. Sie spürte, wie ihr das eigene Leben durch die Finger glitt, weil sie zu starr vor Angst nicht einmal wagte den Mund zu öffnen.
»Atanik«, begann Reiki mit ruhiger Stimme. »Ihr wollt sie einfach so hinrichten?«
»Was soll ich denn sonst mit ihr?«
Reiki hielt kurz inne, doch das, was er dann sagte, schockierte Nanouk selbst als sie an das dachte, was die anderen Frauen in Wallheim über ihn erzählten. »Oh, da gäbe es unendlich viele Möglichkeiten. Sie ist noch jung und frisch. Wie wäre es, wenn ihr sie von hinten nehmt, wenn Euch ihr Gesicht nicht gefällt? Danach könnt Ihr immer noch mit ihr verfahren, wie es Euch beliebt.«
Nanouk fiel beinahe die Kinnlade herunter. Den lachenden, amüsierten und doch andächtigen Mann aus dem Zittergebirge mit dem furchtbaren Diener, welcher sie ohne jegliches Gefühl der Scham wie ein billiges Stück Fleisch an den König vermarktete, in Einklang zu bringen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Es musste ein Irrtum sein, ein Streich, den ihr das überstrapazierte Gemüt spielte.
Der Winterkönig schnaubte belustigt und rieb sich mit den blutroten Fingern, welche die selbe Farbe wie Reikis Haare hatten, das spitze Kinn. »Ich soll sie in mein Bett nehmen? Nicht einmal verneigt hat sich die kleine Maus. Wäre es nicht erheiternd, wenn Adassett sie tötet? Oder möchtest du sie fressen?«
Der Blick, den Reiki Nanouk nun zuwarf, war beunruhigend. Doch als der Winterkönig zu ihm hinüber sah, breitete sich ein kaltes Lächeln auf dem Gesicht des Gestaltenwandlers aus.
»Ich verzichte. Sie besteht bloß aus Haut und Knochen. Ich möchte mir den Magen nicht verderben. Und ich kann mich hier am Palast ohnehin nach Lust und Laune bedienen, atanik.« Dabei neigte er sein Haupt und der Winterkönig lachte. »Aber es wäre eine Verschwendung, sie einfach so gehen zu lassen. Überlasst sie mir, wenn sie Euch nicht reizt«, sagte Ijiraq ohne Eile.
Der Winterkönig legte den Kopf schief, als überlegte er, begutachtete sie ein weiteres Mal von oben bis unten, als ließe er sich Reikis unverschämtes Angebot tatsächlich durch den Kopf gehen.
»Entkleide dich«, sagte er dann tonlos und deutete mit der Hand auf ihren Mantel, den welchen ihr Reiki zurückgebracht hatte.
Jetzt ergab es sogar Sinn. Wenn Reiki Ijiraq war, dann wusste er selbstverständlich, wo ihr Mantel lag, doch Nanouk verspürte eine seltsame, tiefgreifende Enttäuschung, als sie diese Tatsache nicht länger zu leugnen wusste. Er hatte ihr doch beigestanden, oder nicht? Oder hatte er sich bloß an ihrer Unwissenheit ergötzt, so wie es Nauju ständig tat?
Nanouk reagierte zuerst nicht, zu surreal und beschämend war diese Aufforderung gewesen, doch der Winterkönig seufzte nur und schnippte mit den Fingern, als er auf sie deutete. »Reiki?«
Nanouk schüttelte leicht den Kopf, als dieser stumm auf sie zu schritt und nach ihren Schultern griff, damit sie nicht zurück weichen konnte.
»Nicht«, hauchte sie so leise, dass sie sich selbst nicht verstand, doch auch aus nächster Nähe blitzte keinerlei Erkennen in Reikis dunklen, rot schimmernden Augen auf. Er stieß ihre Hände grob zur Seite, als sie die seinen daran hindern wollte die Schnallen ihres Mantels zu lösen und mit Entsetzen stellte Nanouk fest, dass er nicht einmal mit der Wimper zuckte, als er den Mantel grob von ihren Schultern zerrte und sie halb entblößt vor dem Winterkönig stehen ließ.
Unter dem grässlich leblosen Blick des Königs begann Nanouks Haut zu kribbeln, als seine Augen langsam an ihr herab wanderten, jeden Zentimeter ihrer nackten Haut zu kosten schienen und schließlich an der roten Schärpe hängen blieben. Da kam ihm schließlich ein Gedanke, denn seine Mundwinkel hoben sich scharf, als unterdrückte er tatsächlich ein belustigtes Grinsen.
»Also schön. Wie ist dein Name?«
Alles in ihr schrie danach das Weite zu suchen, diesem seelenlosen Blick zu entkommen, doch ihre Glieder waren nach wie vor starr und still, als wären sie mit dem Alabaster verwachsen.
»Nanouk, mein Herr«, wisperte sie mit zugeschnürter Kehle.
Der Winterkönig starrte sie eine Weile lang bloß an, als glitten ihm unzählige Gedanken bei der Nennung ihres Namen durch den Kopf. Und dann grinste er. »Ich habe gehört, du hättest dich ganz alleine bis hinauf zu meiner Mauer geschlagen. In bitterer Kälte.«
Nanouk wusste nicht, ob sie darauf antworten sollte, ob sie überhaupt durfte. Ihr Blick huschte zu Reiki, der sie immer noch unverwandt musterte. Also hatte er dem König auch nicht die Wahrheit verraten? Zögerlich und mit rasendem Herzen, welches ihr die Luft aus den Lungen hämmerte, wandte sie sich wieder an den Winterkönig.
»So ist es, mein Herr. Ich ... hatte das Glück ... eines der Pferde zu finden, das ebenfalls zurück geblieben ist.«
»So so. Und wie bist du vom Weg abgekommen? Ich gehe doch davon aus, dass Adassett Aufwiegler in Schach zu halten vermag.«
Nanouk hätte zu gerne verneint, doch hielt sie es nach wie vor für wenig ratsam hier irgendjemandem etwas zu unterstellen. Zumal sie nicht wusste, wie weit oder tief ihr Eingreifen Wellen schlüge, die sie im Gegenzug zu ertränken drohten, wenn sie es tat. Also holte sie zitternd Luft und blieb so vage wie möglich. »Ein Eisdämon, mein Herr.«
Der Winterkönig seufzte leicht verärgert und verzog den schmalen Mund. »Man hört sie kaum! Du weißt doch, wie gerne ich sie klagen höre«, sagte er angewidert. »Wenn sie nicht kreischt, wozu behalte ich sie?«
Nanouks Magen füllte sich mit Eis. Er wollte sie klagen hören?
»Ich verspreche Euch«, mischte sich nun Reiki erneut ein, »dass es die Sauerei nicht wert ist, sie schreien zu hören. Noch nicht jedenfalls.« Das erste Mal meinte Nanouk so etwas wie Beunruhigung in Reikis Stimme mitschwingen zu hören.
»Hmm«, machte der Winterkönig nachdenklich und studierte Nanouks Erscheinung erneut. »Sie hat sich den Weg bis zu meinem Heim tapfer erkämpft. Und Nanouk ist ein hübscher Name«, sinnierte der Winterkönig und Nanouk wünschte, sie könnte im Boden versinken, um seinem stechenden Blick zu entgehen.
»Diese Loyalität muss vergolten werden. Schließlich«, seine Lächeln wurde animalisch, »hätte sie auch einfach das Pferd stehlen und nach Hause reiten können.«
Nanouk vergaß beinahe zu atmen.
»Aber da sie schlau genug war, dies nicht zu tun, will ich hören, was ich einer tapferen, kleinen Maus wie ihr als Dankesbeweis bieten kann.«
Nanouk erwiderte seinen Blick, doch sein Lächeln war alles andere als beruhigend. Alles in ihr sträubte sich auf dieses Angebot einzugehen, hatte sie nicht zu Letzt Ijiraq davor gewarnt irgendeinem Handel zuzustimmen. Doch als sie Ijiraq nun anblickte, ruhten seine kalten, leeren Augen auf ihr, als wäre sie tatsächlich nicht mehr als eine langweilige Dirne, kein Zeichen, dass er sich an diese Worte, gesprochen in Hast und Unruhe erinnerte und Nanouk lief die Zeit unter den Fingern davon.
Der Winterkönig betrachtete sie nach wie vor und nun, da er sie ganz offen dazu aufgefordert hatte zu sprechen, kam sie nicht umhin ihm zu antworten. Doch das hier war garantiert eine Falle, sie wusste nicht, was im Rahmen dessen lag, was der König ihr gewillt war zu geben und Nanouk fühlte sich wie eine Ertrinkende in den Fluten eines eiskalten Sees.
Der Winterkönig drängte sie nicht, beobachtete bloß mit Wonne die panische Verzweiflung auf ihrem Gesicht und das Lächeln in seinen Mundwinkeln erinnerte Nanouk am ehesten noch an das Maul des Eisdämon, als er sich mit einem Zischen auf sie gestürzt hatte.
Nanouk war aufgrund ihrer Verzweiflung sogar versucht nach den Kindern zu fragen, darum zu bitten, dass man sie frei ließ und zurück ins Tal schickte, ihre eigene Unversehrtheit zu erflehen, doch etwas in seinem erwartungsvollen Gesichtsausdruck hielt sie davon ab. Der Winterkönig schien bloß darauf zu warten, dass sie genau diese Bitten verlautbarte, alleinig, um ihr diese zu unterschlagen. Sie mochte sich nicht auskennen im Machtgefüge dieses Hofes, doch hatte sie das Gefühl, dass es am besten war, wenn sie ihre Schwächen für sich behielt.
Und dass ihr das Wohl der anderen Kindern dermaßen am Herzen lag, wirkte mit einem Mal als eine Information, die sie unter gar keinen Umständen mit irgendjemandem teilen durfte. Vor allem, als sie an Adassett und seine Zweikämpfe dachte. Die Welt hier oben lechzte nach Blut und Nanouk stellte mit einem Schaudern fest, dass es den Winterkönig vermutlich nicht einmal kümmerte, wenn Adassett Kinder enthauptete.
Nanouk überlegte fieberhaft, was sie ihm hinwerfen konnte, das keinen Verdacht schöpfte, aber einfach genug war, dass er ihr den Gefallen nicht ausschlagen konnte. Und dann dachte sie an Saghani. An ihre Fürsorge und ihre warme Hand. Mahas Lachen und Naujus Heilsalbe, diese zarte, sich verzehrende Melodie und schalt sich einen Dummkopf, dass sie noch nicht früher darauf gekommen war.
»Mein Herr«, fing sie daher mit dünner Stimme an zu sprechen. »Ich erbitte nicht mehr, als dass Ihr mich mit anaana Saghani gehen lasst.«
Die Worte kratzten in ihrer trockenen Kehle, doch bei Saghani und Maha, bei Nauju war sie sicher. Fürs erste.
»Oh. Du möchtest zu Saghani? Wie amüsant«, richtete der Winterkönig das Wort an sie und begutachtete sie mit listigen Augen. »Ich frage mich, wie lange es brauchen wird, bis sie dich zu mir zurück schickt.« Er lachte leise in sich hinein, als hätte Nanouk gerade einen außergewöhnlich guten Witz erzählt und legte die Fingerspitzen aneinander.
»Doch da wäre noch eine Kleinigkeit, die mir im Auge sticht, ehe ich dir geben möchte, was du ersuchst«, setzte er dann mit nicht minder amüsiertem Blick nach.
Seine Worte, gesprochen durch ein Lächeln, bohrten sich dennoch wie Nadeln aus Eis in ihre Knochen, als der Winterkönig seine Hände wie Klauen um die Lehnen seines Throns schloss und sich dann in einer einzigen, fließenden Bewegung erhob. Sein weißer Pelzmantel floss hinter ihm zu Boden, als er mit langen, gemächlichen Schritten auf sie zu trat.
Nanouk musste all ihre verbliebene Willenskraft dazu aufbringen, nicht zurückzuweichen und spürte, wie sich ihr die abgekauten Fingernägel in ihre Handflächen bohrten. Der Winterkönig kam dicht vor ihr zum Stehen und überragte sie um mindestens einen Kopf. Doch von nah sah er beinahe kindlich aus, er war schlank und schmal, regelrecht schmächtig, als müsse man ihn bloß anhauchen, um ihn zu Fall zu bringen. Wie ein Junge, der zu früh zum Mann geworden war.
Nanouk legte den Kopf in den Nacken, bis sie hinauf in das blasse Paar Augen blickte. Der Winterkönig verschränkte die Hände hinter dem Rücken und lächelte sie von oben herab an.
»Du kniest immer noch nicht.«
Sein Atem war kalt wie Firn, der sanft und drohend zugleich über ihre Wimpern strich und Nanouk stürzte augenblicklich auf die Knie, als hätte seine Nähe mit einem Mal sämtliche Kraft aus ihren Muskeln gesaugt. Ihr verletztes Bein protestierte, der Schmerz schoss ihr durch den Körper und sie stieß ein leises Wimmern aus, als sie spürte, wie sich der kalte, harte Alabaster in ihre Knie bohrte und gegen ihre Handflächen drückte.
Der Winterkönig stieß ein kehliges Seufzen aus und legte ihr einen Finger unter das Kinn, um ihren Kopf wieder in den Nacken zu drücken. »Das gefällt mir schon eher«, säuselte er und Nanouk biss die Tränen zurück, die ihr durch den Schmerz in die Augen schossen.
Sie konnte nicht sagen, welches Gefühl in ihr stärker war. Der Zorn und die Schmach gedemütigt zu werden von demjenigen, der die Demut nicht kannte, oder die Furcht, welche durch den Schrecken seiner abartigen Gelüste in ihr aufstieg.
»Du sollst haben, was du begehrst, doch erwarte ich, dass du in zwei Wochen zurück zu mir kommst und mir zeigst, wie sehr du dich und deine Manieren gebessert hast. Lerne, doch enttäusche mich nicht, denn Saghani hat so, oh so viel zu verlieren.«
Er trat zurück und das Grinsen auf seinem Gesicht war derart entzückt, dass Nanouk seine weißen Zähne erkennen konnte. Und dieses Lächeln war alles, was sie benötigte, um ihren Fehler zu erkennen. Sie würde sich zwar nicht ständig nach ihm umsehen müssen, oder Adassetts Ruchlosigkeit fürchten, doch diese Zeit war begrenzt. Was auch immer es war, das Saghani drohte zu verlieren, der Winterkönig schien sich sicher zu sein, dass sie das durch Nanouks Wunsch bereits getan hatte.
»Ich werde weder Euch noch sie enttäuschen, mein Herr«, krächzte Nanouk atemlos.
Der Winterkönig gab Reiki einen Wink. »Das hoffe ich für alles, was dir wichtig ist, kleine Maus«, grinste er und wandte sich dann an Reiki. »Bring sie zurück zu ihrer neuen Familie, es wäre so schade, wenn sie Saghanis wundervolle Zuneigung verpasst. Mir steht nach einem Spaziergang, ich möchte ein paar unserer alten Freunde besuchen. Geselle dich alsbald zu mir.«
»Wie Ihr wünscht, atanik.«
Nanouk zuckte zusammen, als sie feststellte, dass Reiki nach wie vor anwesend war, seiner unheimlichen Präsenzlosigkeit wegen hatte sie Ijiraq beinahe völlig vergessen. Doch als sie nun seinem Blick begegnete, war dieser das erste Mal erfüllt von einer andern Regung als Teilnahmslosigkeit.
Zorn und Fassungslosigkeit schlichen sich in seine sonst so akribisch neutrale Haltung, als er dem Winterkönig schließlich den Rücken zuwandte. Dann packte er sie an der Schulter und stieß sie regelrecht vor sich her, bis sie am westwärts gerichteten Ende des riesigen, leeren Thronsaals angekommen waren. Dort öffnete Reiki eine Türe, die in die Wände des Palastes führte und stieß sie in die Dunkelheit.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro