KAPITEL 22
Cassiopeia
„Fuck, ich glaube, ich habe die Picknickdecke zu Hause vergessen." Kadeem stieß einen genervten Seufzer aus, während Ranielle und ich einen skeptischen Blick austauschten.
Der Trainer musste die Jungs heute besonders hart rangenommen haben, sodass Kadeems Gehirn immer noch etwas unterversorgt mit Sauerstoff war, denn er trug die Tasche mit der blauen Decke in seiner linken Hand. Eben am Auto hatte er uns noch gezeigt, dass es möglich war, die Picknickdecke in die bereits viel zu volle Tasche zu quetschen, anstatt sie einfach in der anderen Hand zu tragen oder an Ranielle oder mich zu geben. Aber offensichtlich hatte er das schon wieder vergessen.
„Wie gut, dass ich zaubern kann", antwortete Ranielle grinsend und trat zu Kadeem, um die Decke aus der Tasche zu ziehen. „Wir können es ja einfach mal mit dieser Decke probieren."
„Die sieht ja genau aus wie meine", staunte Kadeem, der immer noch etwas neben sich war und kratzte sich irritiert am Kopf.
„Das ist deine, du Idiot", antwortete Ranielle lachend und boxte ihm freundschaftlich gegen den Arm. „Was haben die heute nur mit euch beim Training gemacht? Euch das Gehirn amputiert?"
Jetzt musste auch ich lachen. Offensichtlich hatte meine beste Freundin denselben Gedanken wie ich.
Kadeem ließ die Tasche aus seiner Hand zu Boden gleiten und fuhr sich durch die kurzen Haare. Seine braunen Augen funkelten amüsiert in Ranielles Richtung. „Ja genau. Wir führen jetzt eine Studie durch, ob Footballer ohne Gehirn besser spielen als mit. Das Blut gehört schließlich in die Waden und nicht in so überflüssige Organe wie das Gehirn", scherzte er. „Nein, ich habe einfach nur ein bisschen zu wenig geschlafen. Mein Kurzzeitgedächtnis spielt mir heute schon den ganzen Tag Streiche. Ich habe heute Morgen einfach für zehn Minuten in der falschen Klasse gesessen, bis mir aufgefallen ist, dass ich die ganzen Schüler gar nicht kenne."
Jetzt lachten wir alle nur noch mehr. So verpeilt konnte auch nur Kadeem sein. Aus Erfahrung wusste ich, dass mein bester Freund, wenn er nicht auf seine vollen neun Stunden Schlaf kam, tagsüber mehr Zombie als Mensch war.
Wahrscheinlich hatte er gestern Abend wieder zu lange mit Ranielle geschrieben, denn auch wenn die beiden es vehement leugneten, spürte ich auch in diesem Moment das Knistern zwischen ihnen in der Luft. Ich verstand nur nicht, warum meine besten Freunde nicht offiziell zu ihren Gefühlen standen. Gerade Ranielle reagierte jedes Mal total abweisend, wenn ich sie darauf ansprach, aber ich war mir sicher, dass auch sie etwas für Kadeem empfand.
„Dann hoffe ich mal, dass du uns nicht gleich einschläfst, sonst muss ich deine Klapperkiste nach Hause fahren", meinte ich immer noch mit einem Grinsen auf den Lippen. Dabei graute es mir vor dem Gedanken, tatsächlich mit Kadeems Auto zu fahren, denn jedes Mal, wenn es auch nur minimal beschleunigte, musste man sich fürchten, dass es auseinanderfiel. Ich konnte für ihn nur hoffen, dass er damit niemals in eine Polizeikontrolle geraten würde.
Trotzdem hatten wir es heil auf die Belle Isle geschafft, um unser Wochenende mit einem Picknick am Detroit River einzuleiten. Ranielle und ich hatten den ganzen Nachmittag in der Küche gestanden und kleine Snacks vorbereitet, aber den besten Schokokuchen buk immer noch Kadeem und er hatte versprochen einen mitzubringen und das hatte er zumindest nicht vergessen.
So waren wir mit genug Essen für eine ganze Footballmannschaft ausgestattet vom Parkplatz zu einem schönen Platz am Wasser gelaufen und ich war wirklich froh, dass wir die Picknickdecke nicht vergessen hatten, denn ich wäre definitiv nicht bereit gewesen, die ganzen Sachen nochmal zurück zum Auto zu schleppen. Dann hätten wir halt einfach auf dem Boden sitzen müssen.
Nun begannen wir aber unser Lager aufzubauen und machten es uns anschließend auf der Decke umgeben von unzähligen Tupperdosen bequem.
Ich hatte mich schon die ganze Woche auf diesen Abend mit meinen besten Freunden gefreut, nachdem sich die Ereignisse diese Woche förmlich überschlagen hatten. Einfach einen Abend lang den Sonnenuntergang genießen, herumzualbern und alles andere vergessen – genau das brauchte ich jetzt. Dabei war meine Woche alles in allem überraschend positiv gewesen.
Nachdem Diego und ich uns ehrlich ausgesprochen hatten, lief es echt deutlich besser zwischen uns. Er gab sich wirklich Mühe, sich an sein Versprechen zu halten und war so zuvorkommend und rücksichtsvoll wie noch nie. Am Mittwoch hatte er mir sogar Rosen mit zur Schule gebracht, einfach so. Außerdem hatte er es echt gut aufgenommen, dass ich Emilio jetzt Nachhilfe gab.
Meine Mutter hatte ebenfalls eine richtig gute Woche gehabt. Sie hatte jeden Tag für Adhara und mich zu Abend gekocht und war so lebhaft wie seit Langem nicht mehr gewesen.
Doch das gerade alles so reibungslos lief, machte mir Angst. Angst, wie lange dieses Hoch von Dauer sein würde. Denn wenn ich eines in meinem Leben gelernt hatte, dann dass schöne Momente immer nur kurz währten und die schlechten anschließend noch grausamer in ihrer vollen Gewalt über einen hereinbrachen.
Aber daran wollte ich heute Abend nicht denken, heute Abend wollte ich einfach eine schöne Zeit mit meinen Freunden verbringen.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch meiner besten Freunde zu, die über den Spanischtest diskutierten, den sie heute geschrieben hatten.
„Das kann doch nicht sein, dass wir fast alle Vokabeln komplett unterschiedlich zugeordnet haben. Ich will nicht schon wieder durchfallen", stöhnte Ranielle und schüttelte resigniert den Kopf.
„Vielleicht habe ich ja auch einige Fehler gemacht, das können wir noch gar nicht wissen", versuchte Kadeem sie aufzubauen.
„Das ist zwar lieb gemeint, Kay, aber wir alle wissen, dass du wieder mit einem A+ bestehen wirst und ich – naja – hoffen wir mal das Beste", antwortete Ranielle.
Während Kadeem echt gut in Fremdsprachen war, lagen die Stärken meiner besten Freundin eher im künstlerisch-musischen Bereich. Ich erinnerte mich immer wieder gerne daran, wie sie, als wir vor einiger Zeit Mexikanisch essen waren, auf Spanisch bestellen wollte und statt Kartoffel-Omelett ein Papst-Omelett bestellt hatte, was dem Kellner, Kadeem und mir einen herzlichen Lacher beschert hatte.
„Vielleicht muss ich auch einfach unseren Lehrer verführen, damit er mir eine bessere Note gibt. Mister Perez ist schließlich echt heiß", überlegte Ranielle dann laut und ich hatte das Gefühl, dass sie dabei etwas in Kadeems Richtung linste.
Sie hatte mir schon öfter von ihrem Spanischlehrer vorgeschwärmt, aber ich wusste, dass sie nur Scherze machte und es niemals ernsthaft in Betracht ziehen würde, sich bei einem Lehrer hochzuschlafen. Kadeem hingegen zog erst überrascht die Augenbrauen hoch, nur um sie anschließend finster zusammenzuziehen. Offensichtlich schien ihm nicht klar zu sein, dass Ranielle diese Aussage ganz sicher nicht ernst meinte und der Gedanke an sie und den Spanischlehrer schien im gar nicht zu behagen. Aber er erwiderte nichts, sondern schnappte sich einfach ein Stück Schokokuchen, das er ziemlich aggressiv zerkaute.
„Ich glaube, da gibt es auch noch andere Lösungen, ohne zu so drastischen Auswegen zu schreiten", warf ich ein und versuchte mein Grinsen zu verbergen. Kadeem war gerade echt eifersüchtig und ich hatte das Gefühl, dass Ranielle ihn mit völliger Absicht provoziert hatte.
Ich fragte mich immer wieder, wohin das mit den beiden hinführen würde, denn scheinbar waren beide nicht in der Lage, sich ihre Gefühle einzugestehen und schon gar nicht sie dem anderen zu gestehen. So gerne würde ich ihnen einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben, aber gleichzeitig hatte ich Angst, unsere Freundschaft durch eine unüberlegte Verkupplungsaktion zu gefährden. Bis ich einen besseren Plan hatte, musste ich also einfach dadurch, dass die beiden nicht erkannten, dass sie einfach perfekt füreinander waren.
„Wie wäre es zum Beispiel mit Nachhilfe?", fügte ich dann noch hinzu.
Ranielle schüttelte den Kopf. „Noch einen Nachmittag länger in der Schule verbringen? Nein, danke. Aber erzähl mal – wie war denn gestern deine erste Nachhilfestunde mit Emilio?"
Sie sah mich gespannt an und auch Kadeems Blick richtete sich vom Schokokuchen auf mich. Beide wirken sehr interessiert an diesem Thema. Zu interessiert.
„Er hat echt große Lücken in vielen Themen, aber ich denke, das kriegen wir hin. Er lernt schnell", antwortete ich, obwohl ich mir sicher war, dass meine Freunde auf ganz andere Informationen gehofft hatten. Beide waren kein großer Fan von Diego und gerade Ranielle schien fest davon überzeugt zu sein, dass Emilio viel besser zu mir passen würde. Dabei kannte sie ihn gar nicht. Das tat ja noch nicht mal ich.
„Das klingt doch gut, beim Footballspielen hat er sich auch unglaublich schnell verbessert", meinte Kadeem, doch Ranielle bohrte weiter nach: „Und ist sonst noch etwas passiert? Ihr werdet ja wohl kaum die ganze Zeit gelernt haben."
„Doch. Wir haben ganz als erstes geklärt, dass mein Angebot, ihm Nachhilfe zu geben auf völlig professioneller Basis läuft und ich habe mich dafür entschuldigt, falls ich ihm falsche Hoffnungen gemacht habe. Da wird ganz sicher nichts passieren", erwiderte ich, wobei meine Worte harscher klangen, als ich sie gewollt hatte. Vielleicht, um die Erinnerung an das Kribbeln zu unterdrücken, das sich über meine Haut gezogen hatte, wenn Emilio aus Versehen meinen Arm oder mein Bein gestreift hatte.
Genau das war auch der Grund, warum ich diese strenge Trennung von Privatem und Schulischem brauchte. Ich hatte Angst davor, was es mit meinen Gefühlen machen würde, wenn ich ab sofort mehr Zeit mit Emilio verbrachte. Und um dem vorzubeugen, hatte ich mir selbst Regeln aufgestellt. Treffen nur in der Schule, Kontakt nur über Mail und auf keinen Fall zulassen, dass Emilio mir näherkam. Das würde für uns beide am besten sein.
„Manchmal ist es süß, wie naiv du bist." Ranielle beugte sich zu mir und legte mir einen Arm um die Schulter. „Ich habe doch gesehen, wie Emilio dich im Englischunterricht immer wieder anguckt. Der will was von dir. Kadeem, was sagst du dazu? Hat Emilio schon mal was beim Training über Cassie gesagt?", wandte sie sich dann an den dritten im Bunde.
Kadeem kratze sich nachdenklich an der Schläfe. „Ich bin mir nicht sicher. Auf jeden Fall nicht vor Diego. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass er und Sid etwas länger in der Umkleide bleiben oder auf dem Feld ein bisschen abseitsstehen, um etwas zu besprechen und da habe ich auch schon mal deinen Namen fallen hören. Ich frage mich öfter, ob die beiden etwas planen, so plötzlich wie die in unserem Footballteam durchgestartet sind, aber ich wüsste nicht was."
Ich schüttelte den Kopf. „Was sollen die denn bitte planen? Ich kann mir vorstellen, dass die beiden schon über mich geredet haben, schließlich sind Emilio und ich schon öfter als mir lieb ist aneinandergeraten, aber das heißt nichts. Wir kennen uns doch kaum."
Das Thema war mir unangenehm, denn je mehr ich darüber nachdachte, was zwischen Emilio und mir war oder auch nicht, desto tiefer versank ich in meinem Gefühlswirrwarr. Deshalb musste ich mir auch größte Mühe geben, Emilio weiterhin auf Abstand zu halten, schließlich war hatte ich einen Freund, den ich niemals betrügen wollen würde.
„Was nicht ist, kann ja noch werden", gab Ranielle zurück und zog anzüglich die Augenbrauen hoch. Offensichtlich sah sie Emilio und mich bereits vor dem Traualtar.
Ich verdrehte die Augen, konnte mir aber kleines Grinsen nicht verkneifen. Es war echt beeindruckend, wie viel Mühe sie sich gab, mich für Emilio zu begeistern. „Ja klar."
„Leute, ich will ja nichts sagen, aber guckt mal dort", unterbrach uns Kadeem und deutete mit seiner Hand in Richtung Parkplatz. „Wenn man vom Teufel spricht."
Ich folgte seiner Bewegung mit meinem Blick und als ich erkannte, wovon er sprach, blieb mir für einen kurzen Moment das Herz stehen, nur um danach umso schneller weiterzuschlagen. Auf dem Parkplatz waren gerade drei Junge Männer auf Motorrädern angekommen und zwei davon kannte ich mittlerweile viel besser als ich es wollte. Den Dritten hatte ich dafür noch nie gesehen.
„Scheiße", entfuhr es mir, während ich meinen Blick schnell wieder abwandte. Ich hätte damit rechnen können, dass Emilio und seine Freunde ebenfalls einen so schönen Sommerabend auf der Belle Isle verbringen würden, schließlich waren wir uns hier schon mal begegnet. Aber das hatte ich nicht, weshalb mich ihr Anblick jetzt wie ein Schlag traf.
Unauffällig versuchte ich mich ein bisschen umzusetzen, um der Gruppe meinen Rücken zuzudrehen und hoffte einfach, dass sie uns nicht erkennen würden. Schließlich waren wir nicht die einzige Gruppe an Jugendlichen, die hier auf der Wiese saß.
Ich wollte doch nur einen Abend mit meinen besten Freunden entspannen und nicht ständig daran erinnert werden, was für ein Chaos in meinem Leben herrschte. Es hatte mir schon gereicht, gerade über Emilio zu sprechen, aber mit ihm sprechen, danach stand mir jetzt wirklich nicht im Sinn. Gleichzeitig spürte ich aber auch ein aufgeregtes Kribbeln in der hintersten Ecke meines Bauches. Nur ganz schwach, aber es war da und das störte mich.
Ranielle und Kadeem tauschten derweil einen Blick aus, den ich nicht ganz deuten konnte. „Was?", fragte ich nach und hoffte, dass meine Stimme nicht so nervös klang, wie ich mich fühlte.
„Sie haben uns entdeckt und kommen herüber", sagte Kadeem. „Soll ich sie abfangen und wegschicken?", bot er mir an. Er schien zu merken, dass ich mich nicht wohlfühlte.
Doch ich schüttelte den Kopf, auch wenn ich mir eigentlich nichts lieber wünschte. Wenn Emilio uns bereits entdeckt hatte, war es jetzt eh zu spät. Außerdem war ich erwachsen und nur weil ich von meinen eigenen Gefühlen verwirrt war, musste ich das nicht weiter an Emilio auslassen, wie ich es bereits viel zu oft getan hatte. Mir würde es schon gelingen mich normal zu verhalten und meine Hormone unter Kontrolle zu bringen. Diego würde ich einfach nichts von dem heutigen Abend erzählen.
„Hey, ihr auch hier?", begrüßte uns da auch schon die tiefe Bassstimme von Emilio, die ich mittlerweile unter tausenden erkennen würde. Er hatte echt eine schöne Stimme.
Ich drehte mich wieder zu ihm herum und erwiderte seinen Blick. Er hatte ein strahlendes Grinsen aufgesetzt und seine Augen funkelten.
„Offensichtlich", antwortete ich trocken, doch das schien Emilio nicht aus dem Konzept zu bringen. Stattdessen begrüßten er und Sid Kadeem mit einem Handschlag.
Der Dritte von ihnen hielt sich etwas im Hintergrund und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick schweifte kühl über die Szene und blieb dann an mir hängen. Er musterte mich von oben bis unten, ohne auch nur eine einzige sonstige Regung in seinem Gesicht zu zeigen. Seine Pupillen waren dabei so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten.
Ein Schauer überkam mich. Wie konnte ein Blick gleichzeitig so undurchdringlich und intensiv sein? Was machte mich für Emilios Freund so interessant? Oder starrte er mich nur so an?
Auch wenn ich mich unwohl fühlte, dachte ich gar nicht daran, wegzugucken und unser Blickduell zu verlieren. Stattdessen stand ich auf, um ihm auf Augenhöhe zu begegnen und schaute ich starr zurück, bis Emilio in mein Sichtfeld trat.
„Hey, Cassie. Wie geht's?", fragte er mich. Für einen kurzen Moment schien er zu überlegen, ob er mich umarmen sollte, doch dann ließ er seine Arme lieber hängen. Mein Blick fiel auf die unzähligen Tattoos, die aus den Ärmeln seines weißen T-Shirts ragten. Zu gerne würde sie mal aus der Nähe betrachten. Die vielen Muster und Motive, die alle ihre ganz eigene Geschichte zu erzählen schienen. Als ich mich bei diesem Gedanken ertappte, machte ich erschrocken einen Schritt zurück.
„Alles bestens und bei dir?", antwortete ich und rang mir ein Lächeln ab.
„Das freut mich", kam es von Emilio zurück und die Wärme, die in seinen Worten mitschwang, zeigte mir, wie ehrlich er das meinte. „Mir geht es auch gut, danke."
Warum musste er nur so sein? So nett und charmant? Wie sollte es mir da gelingen, ihn weiterhin von mir fernzuhalten? Vor allem, wenn er einfach überall auftauchte. Ich spürte jetzt schon, wie all meine guten Vorsätze wieder ins Wanken gerieten...
Zum Glück stellte sich in diesem Moment Ranielle neben uns und räusperte sich.
„Das ist meine beste Freundin Ranielle", stellte ich sie vor. „Ranielle, das ist Emilio."
„Wir haben uns ja in Englisch schon öfter gesehen, aber es freut mich sehr, dich persönlich kennenzulernen", sagte Emilio daraufhin und streckte Ranielle förmlich die Hand entgegen.
Meine beste Freundin ergriff sie und schüttelte sie kurz. „Die Freude ist ganz meinerseits", antwortete sie und zwinkerte dem braunhaarigen Jungen schelmisch zu.
Ich hatte Ranielle schon immer für ihre offene und einnehmende Persönlichkeit bewundert, sie konnte einfach unglaublich gut auf neue Menschen zu gehen. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Herzen sie schon mit ihrem unverfänglichen Flirten gebrochen hatte.
Nun traten auch die anderen zu uns und wir setzten die Vorstellungsrunde fort. Sid kannte ich bereits von Weitem und der andere Freund von Emilio stellte sich als Blake vor. Ansonsten schien er jedoch nicht besonders gesprächig zu sein.
„Wollt ihr euch nicht zu uns setzen?", bot Ranielle an. „Wir haben so viel Essen, das kriegen wir eh nicht alleine auf."
Das Angebot nahmen die Jungs mit Freuden an, womit meine letzte Hoffnung, sie doch noch möglichst schnell loszuwerden, zerstört wurde. Aber das störte mich tatsächlich weniger als es sollte.
Ich landete zwischen Emilio und Sid auf der Decke. Sid machte sich auch sogleich über Ranielles und meine Häppchen und Kadeems Schokokuchen her.
„Zu geil", stöhnte er mit vollem Mund. „Ich sag ja immer: Essen hält Leib und Gehirn zusammen."
„Was für ein Gehirn? Deine Erbse kann man ja kaum zählen", erwiderte Blake trocken. Das war das längste, dass ich ihn bisher sprechen hören hatte. „Außerdem heißt das Seele."
„Eine Seele besitze ich leider nicht mehr, die habe ich dagegen getauscht, dass du für immer deine Klappe hälst, aber offensichtlich hat das nicht funktioniert", schoss der Junge mit bunten Tattoos und den vielen Piercing zurück, um sich anschließend ein weiteren Käsespieß in den Mund zu stopfen.
Ich blickte ein bisschen überfordert zwischen den beiden hin und her. Stritten sie sich gerade wirklich oder war das nur Spaß?
Emilio schien meinen Blick bemerkt zu haben, denn er lehnte sich ein bisschen zu mir herüber. „Meine Freunde sind leider totale Vollidioten, die benehmen sich immer so", erklärte er mir leise. „Aber eigentlich sind die beiden schwer in Ordnung."
Ich nickte und schenke ihm ein kleines Lächeln. Man merkte, dass seine Freunde ihm sehr nahestanden. „Ich habe das Gefühl, Blake mag mich nicht", flüsterte ich zurück. „Der schaut mich die ganze Zeit so kalt an."
Emilios Blick wanderte zu seinem Kumpel und dann wieder zu mir. „Blake mag niemanden, aber ich glaube nicht, dass er ein Problem mit dir hat. Mach dir keine Sorgen", antwortete er mir, doch das nahm mir nicht das komische Gefühl, das mich jedes Mal überkam, wenn Blakes ausdrucksloser Blick wieder an mir hängen blieb.
Trotzdem nickte ich und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch der anderen, die gerade über Musik diskutierten. Kadeem hatte seine Box angemacht, die entspannte Sommerklänge im Hintergrund spielte und somit perfekt die Atmosphäre untermalte. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu und tauchte die Welt in warmes, goldenes Licht.
Langsam begann ich mich zu entspannen. Ich fand es plötzlich gar nicht mehr so schlimm, dass Emilio und seine Freunde hier mit uns saßen. Vor allem, als Sid mich in ein Gespräch über Meerschweinchen verwickelte. Keine Ahnung, wie wir darauf gekommen waren, doch es machte echt Spaß, sich mit Jungen mit den blonden Wuschelhaaren zu unterhalten. Er war echt lustig und alles andere als gewöhnlich, aber im positiven Sinne.
Emilio musste derweil ein Verhör von Ranielle über sich ergehen lassen. Als das Thema auf seine Vergangenheit fiel, horchte ich auf.
„Stimmt es, dass du die letzten drei Jahre im Jugendknast warst?", fragte Ranielle ihn völlig unverfroren. „Du musst natürlich nicht darauf antworten, wenn dir das zu persönlich ist", fügte sie dann aber noch zum Glück hinzu.
Emilio spannte sich kaum merklich an. „Ja, das stimmt. War keine schöne Zeit, aber ich habe ganz sicher nicht vor, wieder hinter Gittern zu landen", antwortete er knapp.
„Und wieso musstest du in den Knast?", fragte Ranielle weiter, während ich mich etwas verkrampfte. Mir gefiel es nicht, wie sie Emilio hier vor allen ausfragte, über ein Thema, dass ihm offensichtlich Unwohlsein bereitete, aber gleichzeitig war ich auch gespannt auf seine Antwort. Ich hatte bisher nie viel auf die Gerüchte über Emilios Vergangenheit gegeben, da ich mir lieber ein eigenes Bild über Menschen bildete, aber ich konnte nicht abstreiten, dass ich nicht auch ein kleines bisschen neugierig war.
Dieses Mal schien der junge Mann neben mir etwas länger über seine Antwort nachzudenken. „Schwere Körperverletzung und versuchter Totschlag", kam es schließlich von ihm zurück. Er fuhr sich durch die dunklen Haare und starrte dabei auf den Kuchen in der Mitte der Decke, als würde er vermeiden wollen, meinem Blick zu begegnen.
Stille breitete sich zwischen uns aus und wollte so gar nicht zu den fröhlichen Klängen der Musik passen. Doch zum Glück ergriff Kadeem das Wort und wechselte geschickt das Thema, sodass dieser unangenehme Moment schnell vorüberging. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass Emilio sich immer noch unwohl fühlte und sich nicht traute, mich anzuschauen.
Ich nutzte diese Chance und musterte ihn unauffällig. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser Mensch neben mir zu so welchen Gewalttaten in der Lage sein könnte. Das war nicht der Emilio, den ich kennengelernt hatte. Auch wenn er durchaus impulsiv war, hatte er hohe moralische Standards.
Und genau deshalb sollte es für mich mehr zählen, wer er jetzt war, als was er in der Vergangenheit getan hatte. Nein, mein Bild von ihm hatte sich durch sein Geständnis nicht negativ verändert. Denn tief in mir drin hatte ich das Gefühl, doch einen Teil des wahren Emilios zu kennen.
Ich lauschte noch eine Weile dem Gespräch der anderen, doch dann begann der Druck auf meine Blase immer größer zu werden und ich entschuldigte mich, um kurz zu dem kleinen Toilettenhäuschen am Parkplatz zu verschwinden. Auf dem Rückweg kam mir eine Gestalt entgegen, die ich erst nach kurzem Blinzeln erkannte, denn mittlerweile war es echt dunkel geworden. Emilio.
„Ich glaube, bei den Männern ist gerade jemand auf der Toilette", meinte ich zu ihm, als er kurz vor mir stehenblieb.
Er schüttelte den Kopf. „Ich muss nicht auf Klo, ich wollte nur kurz mit dir alleine sprechen", erwiderte er. Seine Stimme klang dabei noch rauer als sonst und auch durch die Dunkelheit hindurch spürte ich seinen intensiven Blick auf mir liegen.
Das reichte dazu, dass mein Herzschlag sich völlig von selbst beschleunigte und meine Knie ein kleines bisschen weicher wurden. Um das zu überspielen, reckte ich mein Kinn selbstbewusst in die Höhe. „Ist alles gut?", hakte ich vorsichtig nach.
Emilio raufte sich die Haare. Er war nervös und das machte mich nervös. „Das wollte ich eigentlich dich fragen."
„Wieso?", fragte ich überrascht. Was sollte denn mit mir nicht stimmen?
„Naja... Also ich mache mir Sorgen, wie du aufgenommen hast, weshalb ich im Knast gelandet bin. Ich will nicht, dass du jetzt Angst vor mir hast." Emilios Stimme klang nun richtig heiser und aufgewühlt. Er schien sich wirklich viele Gedanken darüber zu machen, wie ich die Informationen aufgenommen hatte. Ich hätte nicht gedacht, dass es ihm so wichtig war, was ich über ihn dachte.
Ich machte einen Schritt auf ihn zu. „Du musst dir keine Sorgen machen", beruhigte ich ihn. „Ich kann nicht sagen, dass es mir egal ist, was du getan hast, aber ich weiß, wer du jetzt bist und das zählt. Ich würde dich niemals aufgrund deiner Vergangenheit verurteilen, denn ich weiß, dass Menschen sich ändern. Und ich könnte niemals vor dir Angst haben."
Dann machte noch einen Schritt auf Emilio zu und zog ihn in eine Umarmung, weil ich fühlte, dass er das jetzt brauchte. Das wir das jetzt brauchten.
Und zumindest für einen kurzen Moment vergaß ich alles um mich herum, bis auf das schlagende Herz in meiner Brust.
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Hallo ihr Lieben und willkommen zurück!
Ich bin wieder da, die erste Uni-Klausurenphase ist gut überstanden #partyhard 🥳😂
Das heißt, dass ich jetzt ganz viel Zeit habe, zu schreiben und auf jeden Fall wöchentlich ein neues Kapitel kommen wird!😌
Was sagt ihr zu diesem hier? Wie wird das wohl mit Emilio und Cassie weitergehen?🤔
Ich bin gespannt auf eure Antworten!
Bis nächsten Sonntag,
Eure Amy
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