Kapitel 6
Jane
Luc griff nach hinten, nahm eine schwarze, etwas dickere Sweatjacke hervor und gab sie mir.
»Anziehen und Kapuze auf«, sagte er knapp bevor er ausstieg, die Tür aber noch offen ließ. Ich nahm die Jacke entgegen. War das sein ernst? Ich blickte die Jacke mit Abscheu an, beschloss aber über meinen Schatten zu springen. Ich mochte Abenteuer, aber für heute waren es genug. Ich wollte nicht noch weitere heraufbeschwören. Hinter uns hielt ein Transporter. Wahrscheinlich war es der, den wir auf der Allee getroffen hatten.
»Warte bis ich die Beifahrertür öffne«, damit schlug er die Tür hinter sich zu. Ich zog den schwarzen Mantel aus und zog die Jacke an, wobei ich ihn nachäffte. Dann setzte ich die Kapuze auf, auch wenn es mir widerstrebte nach seiner Pfeife zu tanzen.
Draußen hörte ich, dass Luc mit jemandem redete. Ungeduldig klopfte ich mit meinen Fingern auf meinem Oberschenkel, bis er endlich die Beifahrertür öffnete, welche er offen hielt und mich nun abwartend anblickte. Langsam stieg ich aus und nahm die Geige, mit der ich mir die ganze Zeit den Fußraum geteilt hatte und meinen Mantel.
Vor dem schwarzen Transporter standen eine Frau und zwei Männer. Einer der Männer schien deutlich älter zu sein als Luc. Die anderen beiden waren ungefähr in unserem Alter.
»Kommt ihr noch mit hoch?«
»Das fragst du kein zweites Mal.« Der Jüngere der beiden Männer wollte bereits losgehen, als der Ältere, sehr muskulöse, ihn an seiner Kapuze zurück zog. Hustend hielt sich der Jüngere den Hals, währen der muskelbepackte Mann mich einen Moment kalt musterte, sodass ich eine Gänsehaut bekam. Doch ich blickte interessiert zurück, ohne mir was anmerken zu lassen.
»Besser nicht. Wir sehen uns morgen«, sagte dieser.
Moment. Die Stimme kannte ich. Es war die Stimme des Anrufers im Auto. Wie hieß er gleich? Fin. Er sah mich nochmal abschätzig an, worauf ich ihm, einen meiner bösen Blicke zu warf. Das aber schien ihn unbekümmert zu lassen, was mich sehr ärgerte, denn er drehte sich um und stieg zurück in den Transporter.
Der Jüngere öffnete die Schiebetür des Transporters und sprang hinten rein. Die Frau öffnete die Beifahrertür und warf mir dabei einen forschen und gleichzeitig giftigen Blick zu. Luc nickte nur ganz leicht zum Abschied. Er griff nach meinem Arm und zog mich mit sich.
Der schwarze Transporter fuhr an uns vorbei in Richtung des Ausgangs. Auf dem Weg zum Wohnhaus liefen wir an vielen Luxuskarossen vorbei, entlang den Pfeilen. Thomas würde der Mund offen stehenbleiben.
Wir kamen an einer Glastür an. Dahinter war ein großer Flur mit hohen Decken zu sehen. Die Wände bestanden aus hellem, braunem Mamor, der das Licht von der Decke reflektierte und den Flur noch heller aussehen ließ. Allein der Flur sah kaum weniger luxuriös aus, als die Autos eben.
Der gute Mr. Restaurantbesitzer hatte wohl einiges an Geld gemacht. Luc hielt einen Chip, der an seinem Schlüsselbund samt Autoschlüsse hing, an den Scanner neben der Glastür. Nach einem elektronischen Piepen öffnete sich diese. Während wir auf den Aufzug warteten, wippte ich von meinen Hacken auf meine Zehenspitzen und wieder zurück. »Wer waren die Drei?«, wollte ich wissen, doch alles was ich bekam war ein Laut der zwischen seinen Lippen hervor kam und mir bedeuten sollte, still zu sein.
Ich hatte meine Hände überkreuzt und hielt den Geigenkoffer und den Mantel mittig meines Körpers. Warum machte ich das hier alles so bereitwillig mit? Ich könnte jetzt einfach gehen, mich umdrehen und durch die Tür verschwinden. Was wollt er tun mich verfolgen und wohlmöglich noch Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nach dem er eben noch verfolgt wurde?
Oder wohl besser wir. Und das war es wohl auch, weshalb ich nicht ging. Das Dunkel in mir schien langsam aber allmählich empor zu kommen. Das Dunkel, welches ich feinsäuberlich verbannt hatte. Eine solche Situation war mir nicht gänzlich unbekannt.
Ich beobachtete, wie die Zahl im Anzeigefeld des Aufzuges langsam sank. Plötzlich griff Luc nach dem Geigenkoffer, ohne etwas zu sagen und nahm ihn mir aus der Hand. Ich blickte zu ihm auf, aber er sah einfach auf die Anzeige des Aufzuges, also nahm ich es einfach hin.
Als der Aufzug nur noch ein Stockwerk entfernt war, zog Luc die Kapuze tiefer in mein Gesicht. Widerstrebend wollte ich diese wieder zurückschieben, doch Luc hielt meine Hand davon ab, wobei er sie nicht losließ und mich stattdessen ein Stück hinter sich zerrte. Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich und Männer stiegen aus dem Fahrstuhl.
Zumindest vermutete ich das, denn viel sah ich nicht. Die Männer hielten kurz vor uns inne und gingen dann durch die Glastür, durch die wir gekommen waren. Luc zog mich in den Aufzug und ich versuchte noch einen Blick auf die Männer zu erhaschen, aber sie waren schon verschwunden.
»Kann ich die Kapuze abnehmen?«
»Nein.« Ich kugelte die Augen. Wir waren nur ein paar Sekunden gefahren, da hielt der Aufzug im 45. Stock. Das ging sehr schnell und es ließ mich ungewollt staunen. Die Türen öffneten sich und Luc stieg aus dem Aufzug. Unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze irgendetwas zu erkennen grenzte an ein Meisterwerk. Als Luc dann auch noch, für mich komplett unvermittelt stehen blieb, konnte ich gerade rechtzeitig stoppen, um nicht gegen ihn zu laufen.
Er könnte auch ruhig etwas mehr Rücksicht nehmen. Ich war quasi blind. Auf seine Anweisung hin.
An einem Gerät welches an der Tür unter der Klinke, angebracht war, gab er etwas ein. Ein Ton zur Bestätigung ertönte und ich hörte, wie sich das Schloss der Tür öffnete. Ich zog die Kapuze hoch. Braucht er keinen Schlüssel? Gab er einfach einen Code ein? Wie cool war das denn? Ich könnte nie mehr meinen Schlüssel vergessen. Vor mich hin lächelnd folgte Luc in die Wohnung.
Niemals. Ich war im Himmel. Im wahrsten Sinne des Wortes. Vor mir eröffnete sich ein kleiner Eingangsbereich mit Garderobe in dem kleinen Nebenraum, doch dahinter, dort wartete das eigentliche Juwel. Lucs Wohnung war ein Loft im modernen industrial Stil, wie ich es nur aus Filmen kannte. Doch das Beste, neben der modischen, aber minimalistischen Einrichtung, war die Fensterfront. Die Deckenhöhe war enorm und zwei Reihen mehrerer hoher, schmaler Fenster, die beinahe nahtlos in einander übergingen und vom Boden bis zur Decke reichten, gaben Ausblick auf die Skyline von New Cloud. Von hier aus konnte ich nicht einmal die gesamte Fensterfront sehen.
Das klatschende Geräusch der Hausschuhe auf dem schwarzen Marmor holte mich aus meinem fast tranceartigen Zustand zurück. Luc hatte den Geigenkoffer auf einer beigen Bank abgestellt, die vor dem großen Spiegel stand, der den eigentlich kleinen Eingangsbereich deutlich größer erscheinen ließ. Er hatte seine Schuhe durch braune Hausschuhe ersetzt und hatte mir hellgraue vor die Füße gelegt.
Schnell zog ich die schwarzen Stiefeletten mit kleinem Absatz aus und schlüpfte in die kuschlig gefütterten Hausschuhe. Ich hatte die Befürchtung, dass die Hausschuhe viel zu groß waren, aber überraschender Weise passten sie ganz gut. Luc stand abwartend vor mir und musterte mich von oben bis unten.
Meinte er nicht er hätte keine falschen Gedanken. Ich kniff meine Augen zusammen und musterte ihn argwöhnisch. »Was schaust ...«
»Dein Mantel.« Ich blickte auf den Mantel, den ich immer noch in der Hand hielt und auf den auch Luc jetzt blickte, während er mit seiner Hand eine auffordernde Geste macht, ihm den Mantel zu geben.
»Ah ... « etwas peinlich berührt gab ich ihm den Mantel. Er nahm ihn entgegen und hing ihn in die Garderobe. Ich zog auch die Sweatjacke aus, die er mir gegeben hatte. Beim Vorbeigehen blieb mein Blick wieder an meinem Spiegelbild hängen. Helen war zu einer jungen Frau geworden. Es war nichts kindliches mehr an ihr. Wie lang war ich nicht da gewesen? Was war nur mit mir geschehen?
Sie trug eine schwarze Feinstrumpfhose, dazu ein schwarzes Kleid, dessen Rock, wie ich nun deutlich sehen konnte, für meinen Geschmack viel zu kurz war. Er bedeckte gerade die Hälfte des Oberschenkels. Allein die Tatsache, dass ich ein Kleid trug, ließ Unbehagen in mir aufkommen.
Hatte sie sich nur für ihren Mini Job so schick gemacht?
Außerdem ... Wo waren Andrea und Thomas? Hatten sie ihr schönes Landhaus hinter sich gelassen? Waren sie umgezogen? Wenn Helen hier einen Job hatte, dann musste sie hier wohnen. Andrea und Thomas würden Helen niemals allein lassen. Und was war mit Odin?
Er liebte es mit Thomas auf den Feldern und Wiesen zu tollen? Odin war nicht für die Stadt gemacht. Wie lang war ich wirklich nicht da gewesen? Aufgewühlt zupfte ich an dem Rock des Kleides, um etwas mehr Bein zu bedecken.
»Die Jacke kannst du mir geben.« Ich riss meinen Blick von meinem Spiegelbild los und sah zu Luc. Ich gab ihm die Jacke und er ging weiter ins Wohnzimmer. Dabei betätigte er den Lichtschalter und die Wohnung wurde in ein warmes Licht getaucht. Bei jedem Schritt schlurften Lucs Hausschuhe auf dem dunklebraunen Frischgrätenparkett. Ich schlich ihm hinter.
Das Wohnzimmer grenzte an eine offenen Küche mit Essbereich. Direkt neben mir führte eine offene Treppe nach oben. Die Stufen waren in einem warmen Grau. Glasscheiben mit einer sehr dünnen, schwarzen Umrandung bildeten das Geländer. Ein Leuchtstreifen warf auf jede der grauen Stufe ein sanftes hellgelbes Licht.
»Setz dich.« Ich blinzelte mehrfach und schloss meinen Mund, der sich langsam aber sicher immer weiter geöffnet hatte. Ich hatte kurz vergessen, wo ich war und dass ich nicht alleine war. Luc lief die Treppe rauf. Statt mich auf die dunkle Ledercouch zu setzten, die neben dem Karmin sehr einladen wirkte, wie Luc mich gebeten hatte, ging ich zu der riesigen Fensterfront.
Ich musste mir diesen Ausblick genauer ansehen. Kurz davor blieb ich stehen. Ich fühlte mich als würde ich fliegen. Durch die bodentiefen Fenster konnte ich alles sehen. Direkt vor mir breitete sich die Stadt aus.
Die gelben Lichter von New Cloud spiegelten sich in den Fenstern der anderen Gebäude. Eine viel befahrene Straße zog sich durch eine scheinbar endlose Reihe an modernen Hochhäusern und war bereits weihnachtlich geschmückt. Auch in den Wohnungen gegenüber schien die Weihnachtszeit Einzug zu halten, nicht aber bei Luc. Hier war von Weihnachten weit und breit nicht die Spur.
Von hier oben konnte ich auf der Straße lediglich die kleinen roten Rücklichter sehen und die Ampel die von rot zu grün wechselte. Ich meinte in weiter Entfernung einen Kirchturm zwischen den Hochhäusern zu erkennen. Es musste ein wahnsinns Ausblick bei Tag sein.
Es war kein Vergleich zu meinem Zuhause bei Andrea und Thomas. Trotzdem oder gerade deswegen konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie hierher gezogen waren.
Ich zuckte zusammen als zwei große, starke Hände mich an den Schultern packten und eine leise, tiefe Stimme direkt an meinem Ohr erklang.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro