
Kapitel 5
Jane
Wir fuhren auf einer Umgehungsstraße. Der Mann schwieg die ganze Zeit über, also betrachtet ich die Lichter der Stadt, um uns herum. New Cloud schien eine große Stadt zu sein und das bisschen, was ich erkenne konnte wirkte ganz schön.
Während ich mich umsah, bemerkte ich das Spiegelbild in der Fensterscheibe. Es war Helens ... nein mein Gesicht. Die Haare waren nicht mehr schulterlang, sondern reichten bis unterhalb der Brust. Ich betrachtete das Gesicht genauer. Helen hatte Make up aufgetragen. Die Wimpern waren mit etwas Mascara verlängert und ließen die großen blassgrünen Augen noch runder wirken. Sie hatte etwas erdfarbenen Lidschatten aufgetragen und etwas Rouge auf den Wangen. Alles war sehr dezent, brachte aber die Merkmale des Gesichtes gut zur Geltung.
Seit wann schminkte Helen sich? Ich hatte scheinbar eine ganze Menge verpasst. Das Gesicht war das selbe. Doch irgendwie wirkte es anders. Helen schien reifer und erwachsener. Vielleicht lag es an dem Make up, aber die kindlichen Rundungen waren verschwunden. Ihr Gesicht hatte mehr Struktur. Die kleine Stupsnase wirkte eleganter und die Hamsterwangen waren sehr viel kleiner geworden. Aber was dachte ich da. In diesem Moment gehörte das Gesicht nicht Helen, sonder mir.
Unliebsam fuhren wir von der Umgehungsstraße ab. Je länger wir fuhren, desto weiter entfernten wir uns von der Stadt. So kam es mir zumindest vor. Ich warf einen Blick auf das Tacho. Wenn mich meine Augen nicht täuschten, sah ich eine 131. Ich schluckte schwer. War das hier eine Autobahn?
Links und rechts säumten Bäume die Straße, die wegen der Geschwindigkeit zu einer grauen Masse verschwammen. Ich sah jeden Augenblick ein Reh auf die Straße springen. Selbst wenn das Auto gute Bremsen hatte. Es lag Schnee draußen, der die Straßen funkeln ließ. Es fror draußen. Sehr wahrscheinlich war die Straße glatt. Wenn jetzt wirklich ein Reh auf die Straße springen würde, könnte er dann das Auto rechtzeitig anhalten?
Ich sah zu dem Mann. Seine rechte Hand umfasst das Lenkrad. Mit der anderen stützte er lässig seinen Kopf ab. Ich behielt weiterhin die Straßenränder im Blick, um - wenn nötig - vor einem Reh zu warnen. Plötzlich drückte er das Gaspedal noch weiter durch. Ein weiterer, vorsichtiger Blick Richtung Tacho ließ meinen Atem stocken. »Ey! Bist du irre?« Panisch hielt ich mich an dem Griff fest, der an der Decke des Autos befestigt war und vergaß dabei komplett ihn zu siezen.
»Rufen Sie bei Ihrem Freund an. Wir werden nicht kommen können. Er kann ruhig weiterfeiern.«
»WIE BITTE?!« Ich klammerte mich an meinem Gurt fest.
»Rufen Sie ihn an.« Die Stimme des Mannes war komplett ruhig. Nun war seine linke Hand die, die das Lenkrad fest hielt. Seine rechte Hand ruhte locker auf dem Ganghebel. Er blickte immer wieder in den Rückspiegel.
Ich drehte mich nach hinten, um durch die Heckscheibe zu sehen. Doch ehe ich mich richtig rumdrehen konnte, packte der Mann mich an der Schulter und drückte mich zurück auf den Sitz.
»Rufen Sie einfach Ihren Freund an. Nicht umdrehen.« Er nahm die Hand von meiner Schulter. Fassungslos blickte ich ihn an. Vielleicht sollte ich besser die Polizei rufen. Ich nahm mein Handy in die Hand und rief Ben an.
»Bist du gleich da?«
»Nein. Das Problem hat sich erledigt Ben.«
»Wie?«
»Du kannst weiter feiern.«
»Jane. Was redest du?« Ich lachte etwas unsicher. »Ich meine du brauchst nicht auf mich zu warten.«
»Warum? Was ist ... «
»Wir treffen uns morgen, in Ordnung?« Ich hatte ja selbst keine Ahnung was vor sich ging. Also unterbrach ich Ben. Es war eine Weile ruhig am anderen Ende.
»Mach keine Scheiße Jane. Vergiss die Abmachung mit Helen nicht.«
»Ach, hat sich Helen an die Abmachungen gehalten?« Ich spürten einen flüchtigen Blick auf mir, der wohl von dem Anzugträger kam. Als ich zu ihm sah, hatte er sich wieder der Straße gewidmet, was mir in Anbetracht der Geschwindigkeit lieb war.
»Schon gut, schon gut. Wir reden wann anderes darüber.« Ich hörte jemanden im Hintergrund rufen.
»Dann bis morgen Ben.«
»Okay. Meld dich, wenn du zu Hause bist.«
»Mal sehen.« Damit legte ich auf und wandte mich an den plötzlich selbstmörderischen Anzugträger.
»Kannst du mir mal erklären, was das hier wird?« Ich sah den Mann grimmig an. Er antwortet mir nicht sondern sah starr auf die Straße. Gerade als ich bemerkte, dass die Scheinwerfer des Gefährts hinter uns ziemlich dicht zu sein schien, riss der Bürohengst das verdammte Lenkrad herum.
Er bog in eine Bushaltestelle ein, die parallel zur Straße verlief, aber durch einen kleinen Grünstreifen davon getrennt war. So schnell, wie wir durch die Einfahrt zur Busshaltestelle gefahren waren, waren wir auch durch die Ausfahrt gefahren. Rechts konnte ich die Bremslichter eines Autos erkennen. Ich hatte kurz Angst wir würden in den Wald geschleudert werden. Doch dieser komplett wahnsinnig gewordene Bürohengst hatte uns, wie durch ein Wunder, auf der Fahrbahn gehalten und nun fuhren wir in die entgegengesetzte Richtung.
Er drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Dann schaltete er. Das Auto beschleunigte. Wieder schaltete er in einen höheren Gang. Ich fühlte mich wie in einem Rennwagen. Ein Klingeln ertönte. Auf dem Bildschirm, wo eben noch das Navi zu sehen war, tauchte ein Name auf.
Fin stand in der Mitte. Darunter ein Feld zum Annehmen und eines zum Ablehnen. Der Bürohengst tippte auf Annehmen.
»Bist du das Mädchen losgeworden?«, ertönte eine rauchige Stimme aus den Lautsprechen. Empört sah ich zu dem Bürohengst rüber. Dieser blickte mich ausdruckslos an. Ich formte mit meinem Mund die Worte ‚Losgeworden'?
»Nein«, sgate er dem Anrufer mit genervten Unterton.
»Wir sind dran.«
»Ich habe sie gerade abgehängt.« Und tatsächlich ich konnte im Rückspiegel keine Lichter mehr erkennen.
»Es wird nicht lange dauern. Es sind seine Männer.« Der Bürohengst gab ein abschätziges Geräusch von sich.
»Verstanden.« Der Mann am anderen Ende legte ohne Verabschiedung auf.
Ich starrte den Bürohengst an. »Willst du mich verarschen? Du wolltest mich loswerden?« Er blickte starr auf die Straße. »Luc.« Verwirrt sah ich zu ihm.
»Mein Name ist Luc.«
»Das war nicht meine Frage!«
»Das ist die Frage, auf die ich dir, im Moment eine Antwort geben kann.« Entrüstet ließ ich mich in den Sitz fallen, während Mr. Rennfahrer uns aus dem Waldgebiet rausbrachte.
»Wo fahren wir hin?« Luc - der vielleicht doch nicht Bürohengst - bog erneut abrupt ab und führte uns auf eine hügelige Allee. Auch hier fuhr er viel zu schnell. Wenn ich nicht durch, vor was auch immer wir wegfuhren, starb, dann, weil sich das Auto um einen der Bäume wickelte. Uns kam ein Auto entgegen und Luc wurde langsamer. Ich versuchte zu verstehen, was hier geschah, doch mein Gehirn wollte es einfach nicht raffen. Als wir mit dem schwarzen Transporter auf einer Höhe waren, hielten beide an. Luc sah wieder in den Rückspiegel.
»Bleib sitzen«, gab er knapp von sich, ohne mich eines Blickes zu würdigen und stieg aus. Er schlug die Tür sofort zu und blieb vor der Tür stehen. War ich ein Hund? Ich musterte seinen Rücken grimmig. Meine Neugier konnte ich trotz meines Unmuts nicht verstecken, weshalb ich versuchte an ihm vorbei zu luschern, doch ich konnte nichts sehen. Dann machte er die Tür auf und setzte sich schwungvoll ins Auto. Er fuhr sofort los und schnallte sich dabei an.
»Was ist hier eigentlich los?«, fragte ich langsam aber allmählich ziemlich genervt.
Luc reagierte nicht, also wollte er mir wohl nicht antworten, was er nach kurzem Zögern dann doch tat. »Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass du hier heil raus kommst?«
»Wie bitte? Was soll das heißen?«
»Egal.« Egal? Ugh ... dieser Kerl frustrierte mich.
Immerhin hatte er mir seinen Namen genannt und dieses Siezen hatte ein Ende. Nach einer Weile traf die Allee auf eine größere Straße. Auf diese bog Luc ab. Er fuhr immer noch schnell. Doch da die Straße besser war und nicht so hügelig, hatte ich keine Angst mehr wir würden gleich auf einen Baum zu rasen. Scheinbar war Luc ein guter Fahrer. Trotz des Wetters waren wir nicht einmal ein Bisschen ins Schleudern geraten. Der Schreck hatte sich nun auch gelegt. Zumindest etwas.
»Entschuldige die Unannehmlichkeiten«, kam es von links. Desinteressiert blickte ich zu ihm. Mir war gar nicht aufgefallen, wie angespannt Luc gefahren war. Erst jetzt da er wieder lässig in dem Sitz saß und das Lenkrad locker in einer Hand hatte, bemerkte ich einen Unterschied.
»Wo fahren wir hin? Ganz bestimmt nicht zu mir nach Hause.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah auf die Straße. Ich hatte sein Gesicht satt. Luc atmete tief ein. »Nicht ganz.« Nicht ganz. Wieder etwas, das ich nicht wissen durfte? Doch bevor ich mir mehr Gedanken machen konnte, unterbrach Luc diese. »Wir fahren zu mir nach Hause.«
Jetzt sah ich ihn doch an. Ohne eine Regung saß er dort. »Keine Angst. Ich habe nichts falsches im Sinn. Es ist nur zur Sicherheit.«
»Sicherheit?«, lachte ich. Natürlich. Genau das würde ein Mörder, Kidnapper oder sonst wer sagen, der anderen Menschen was antun wollte.
»Ja.«
»Du wirst mir nicht mehr sagen?«
»Nein.« Natürlich nicht. Warum auch? Ich bekam das Gefühl, dass Luc definitiv kein normaler Mensch war. Auch wenn er ganz normal aussah, hatte er mehr Geheimnisse als der Durchschnittsmensch.
Wenn ich darüber nachdachte, dass sich dieser Blondschopf vor ihm verbeugte hatte, hätte es mir schon klar sein müssen. Wie immer hätte ich auf mein Bauchgefühl hören sollen. Stellte sich noch die Frage, wer wirklich hinter diesem Restaurantbesitzer steckte. Aber ich war zu müde, um mir weiter den Kopf zu zerbrechen.
Ich lehnte meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe. Ich musste eine ganze Weile nicht da gewesen sein. Helen hatte nie ihr Notizbuch vergessen. Ben hatte immer gefragt, wer gerade am Telefon war. Vorhin kam er nicht mal auf die Idee, dass es nicht Helen war, die ihn angerufen hatte und mit ihm sprach. Helen, die nie sprach. Trotzdem wurde Ben nicht stutzig.
Wie lang war ich verschwunden? Immerhin schien Ben mittlerweile zu studieren. Wir hatten also unseren Abschluss geschafft. Naja, ich wohl nicht. Was hatte Helen dazu gebracht mich zu rufen? Oder, wollte ich einfach wieder raus? Weil ich so lange eingesperrt war? Mir dröhnte der Kopf. Langsam schielte ich zu Luc rüber. Er wirkt komplett ruhig und hellwach. Helen, wie bist du nur an diesen Chef geraten? Ich schüttelte den Kopf und schloss die Augen, um das dumpfe, leicht benommene Gefühl loszuwerden.
Es wurde heller um mich herum. Ich öffnete die Augen. Wir waren zurück in einer Stadt, welche durch Weihnachtsdekoration hell erleuchtete war. Etliche Autorücklichter schienen in einem grellen rot auf einer dreispurigen Straße. Ich sah zu Luc rüber. Die Lichter ließen ihn noch eleganter aussehen. Ich konnte nicht umhin ihn als gut aussehend zu bezeichnen, auch wenn ich von ihm genervt war. Sein Jackett war geöffnet und gab den Blick auf die darunter liegende Weste frei. Die dunkle Krawatte saß noch immer perfekt und bildetet einen Kontrast zu dem weißen Hemd. Er schien komplett gelassen und sah abwartend zur Ampel, welche in diesem Moment grün wurde. Schnell wandte ich meinen Blick von ihm ab und sah aus dem Fenster, um den Anblick des Weihnachtsmarktes zu genießen.
Zu dieser Zeit war ich besonders oft da und konnte so etwas Zeit auf den Weihnachtsmärkten verbringen. Beinahe konnte ich den Geruch gebrannter Mandeln wahrnehmen. Und Glühwein. Ich hatte gerade erst mit Ben und Kathi meinen ersten Glühwein getrunken, nach dem ich endlich 18 geworden war. Nicht dass ich nicht vorher schon mal probiert hätte. Wobei ... War es gerade erst, dass ich mit Ben und Kathi auf dem Weihnachtsmarkt war? Oder war es schon eine Weile her? Ich hatte gar kein Zeitgefühl mehr.
Irgendwann bog Luc bei einem riesigen Gebäude in die Einfahrt der Tiefgarage ein. Ich hatte kurz Angst, dass das Dach die Stange berühren würde, die die maximale Fahrzeughöhe angab, doch wir kamen ohne Probleme durch. Luc fuhr zielstrebig durch die Tiefgarage und parkte. Er schaltete den Motor ab, zog den Schlüssel und schnallte sich ab. Ich tat es ihm gleich.
Wieder, wie schon so oft heute, schielte er zu mir rüber ohne seinen Kopf mir ganz zu zuwenden. Ich fühlte mich unter seinem eindringlichen Blick unwohl. Als er immer noch nichts sagte, blickte ich ihn direkt an. »Steigen wir nicht aus?«
»Nein.« Er bewegte seinen Kopf anmutig und sah gerade aus. Worauf warteten wir? Die Antwort folgte kurz darauf, als ich ein Auto in der sonst so ruhigen Tiefgarage hörte.
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