Kapitel 44
Helen
Ich spürte, wie mein Bewusstsein langsam an die Oberfläche drang. Das kleine Kissen schob und drückte ich an die richtige Position, die meinen Kopf perfekt stützen und mir dieses traumhafte Gefühl der Gemütlichkeit geben würde.
Doch irgendetwas störte mich und sorgte dafür, dass ich die Augen öffnete. Ich sah mich um. Mein Gehirn brauchte etwas, bis ich feststellte, dass ich mich in Kathis Wohnung befand. Das konnte nicht sein. Ein schmerzhafter Gedanke, dass ich das Treffen verpasst hatte, schallte durch meinen Kopf. Stattdessen war Jane für mich gegangen und hatte Spaß beim Backen von Plätzchen gehabt. Es versetzt mir einen Stich ins Herz. Ich hatte mich so darauf gefreut. Warum war Jane überhaupt ...
Abrupt setzte ich mich auf, als die Erinnerung mich unverhofft traf. Ein Mann war in Lucs Wohnung gekommen und hat die Tür zu meinem Zimmer eingetreten. Mit einem festen Griffe hatte er mich an meinen Haaren hinter sich her gezerrt. Aber da hörten meine Erinnerung auf.
Jane musste wieder gekommen sein. Ich schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. Tränen brannten in meinen Augen. Wie war ich nur in diese Situation geraten.
Wäre ich doch nur nicht an diesem Tag zur Arbeit gegangen. Ich hätte mich einfach krank melden sollen. Das alles geschah nur, weil ich in dieses verdammte Büro gegangen war.
Meine Lippen pressten stark aufeinander. Ich würde jetzt nicht weinen, sonst würden sich Kathi und Ben sicher Sorgen machen. Ich schniefte und nahm mein Handy hervor. Als ich das Handy entsperrte öffnete sich das digitale Tagebuch.
Guten Morgen Herzchen,
Er schreck dich nicht, wenn du in den Spiegel schaust. Es sah schon schlimmer aus. J.
Das war's. Mehr hatte Jane nicht geschrieben. Ich ging in das an das Schlafzimmer angrenzende Bad, schalte das Licht ein und warf einen Blick in den Spiegel.
Meine welligen, fast lockigen Haare waren aufgeplustert und vom Schlafen zerzaust, doch das war es nicht, was meine Augen hatte größer werden lassen.
Meine Wange schimmerte etwas gelblich. An meinem Hals prangten schon verblasste rosa Streifen mit kleinen, rötlichenPunkten. Den Mund fassungslos leicht geöffnet neigte ich den Kopf etwas zur Seite, um meinen Hals besser betrachten zu können.
Woher stammten diese Spuren? Waren es Würgemale? Was um Himmelswillen war passiert? Ich fuhr mit den Fingerspitze darüber.
Plötzlich schoß ein stechender Schmerz durch meinen Kopf. Mit schmerzverzerrten Gesicht hielt ich mich an dem Waschbecken fest. Bilder aus einer Erinnerung, die nicht meine war, zogen an mir vorbei.
Der selbe Mann, der mich zuvor an den Haaren gepackt hat, schlug mir nun ins Gesicht. Ich hielt eine Hand an die Wange und spürte den brennenden Schmerz. Ich lief zurück in das Zimmer und konnte gerade so an das klingelnde Handy gehen. Grobe, klobige Hände schlossen sich um meinen Hals und ich bekam keine Luft. Kein bisschen.
Ich rang nach Luft und sah ich mich wieder im Spiegel. Meine Hände lagen locker an meinem Hals. Tränen rannen aus den äußeren Winkel meiner Augen und kullerten meine Wange hinab.
Ich legte eine Hand über den Mund, um das heran brechende Schluchzen zu dämmen. Schnell öffnete ich den Wasserhahn, in der Hoffnung mein erbärmliches Weinen zu übertönen.
Ich began zu hyperventilieren. In dem Versuch mich zu beruhigen, schloss ich meine Augen und konzentrierte mich auf meine Atmung. Warum konnte ich nicht zumindest halb so stark sein wie Jane?
Es dauerte ein bisschen doch ich schaffte es mich zu beruhigen. Da fiel mir auf, dass es tatsächlich nicht meine Erinnerung war. Sie fühlten sich anders an. Wie eine Erinnerung an einen Film.
War es Janes Erinnerung? Wieso konnte ich mich daran erinnern, wenn ich gar nicht da war? Außerdem wie lang war es her?
Die Blessuren waren beinahe verschwunden, es musste mehrere Tage her sein. Ich schüttelte den Kopf, welcher wegen all der Gedanken bald zu platzen drohte.
Eine kalte Dusche würde wohlmöglich helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Außerdem hatte ich diese bitter nötig, um die Mähne an Haaren zu bändigen. Bevor ich in die Küche ging deckte ich die noch gut sichtbaren Flecken ab. Fragen von Kathi und Ben könnte ich jetzt nicht ertragen.
Ich betrat die Küche. Die nassen Locken hingen über meine Schulter.
»Helen! Guten Morgen Schlafmütze!« Kathi saß mir einer großen, weihnachtlichen Kaffeetasse in der Hand am Tisch.
Ihre blonden Locken hatte sie zu einem Dutt zusammen gebunden. Kathi und Ben kannten mich mittlerweile so gut, dass sie sofort bemerkten, mit wem sie redeten, ob mit mir oder Jane.
Auch Andrea und Thomas erkannten es sofort. Wahrscheinlich anhand der Ausstrahlung und der Körperhaltung. Ich konnte mir gut vorstellen, dass ich mich da sehr von Jane unterschied.
»Gut geschlafen?«, fragte Ben.
»Ganz gut würde ich sagen.« Ich verzog meinen Mund zu einem Lächeln, dessen Zwanghaftigkeit ich nicht verstecken konnte und von Ben mit Sicherheit sofort durchschaut wurde.
Meine Vermutung wurde direkt bestätigt, da Ben mich für einen Moment musterte, sich dann aber wieder seinem Vollkornbrot widmete.
»Es ist schon alles fertig?«, fragte ich leise mit krätziger Stimme.
»Ben hat etwas mitgebracht, als er hergekommen ist.« Ich bedankte mich bei Ben, welcher nur eine flotte Handbewegung machte, um zu verdeutlichen, dass es nicht weiter der Rede wert sei.
»Hast du geweint?«, fragte Ben ohne mit der Wimper zu zucken, als ich mich neben ihn gesetzt hatte. Ich schüttelte mehr oder weniger überrascht mit dem Kopf. Ich war eine grottige Schauspielerin. Nun sah mich Kathi genauer an. Ich erklärte, dass ich beim Duschen Seife ins Auge bekommen hätte.
»Sicher?«,fragte Ben nach. Beide sahen mich ernst und mit einer gewissen Besorgnis im Blick an. Ich konnte sie nicht anlügen.
»Ich weiß nicht. Ich hatte mich wirklich gefreut ... auf unser Treffen. Es ist etwas passiert und Jane ... musste zurück kommen ... Ich ... « erneut kullerte eine Träne meine Wange herunter.
»Nein Helen.« Kathi kam sofort um den Tisch zu mir und nahm mich in den Arm.
»Tut mir leid. Das ist albern«, sagte ich schluchzend. Doch gerade jetzt wo ich es ausgesprochen hatte, bemerkte ich wie sehr es stimmte.
Die letzten Wochen hatte ich mich wirklich nicht wohl und eingesperrt gefühlt. Jetzt da ich endlich mal wieder was unternehmen wollte und konnte, musste all das passieren und Jane musste mir wieder helfen. Es war unfair.
»Nein das ist es gar nicht«, sagte Ben mitfühlend und blickte uns an. Ich spürte wie Tränen auf mein Haar tropften und sah zu Kathi. Ihre Augen bereits gerötet kullerte eine Träne herab. Ich schniefte und lachte zu gleich und auch Kathi lachte.
Ben saß kopfschüttelnd und schmunzelnd neben uns. Dafür liebte ich meine Freunde. Sie waren immer für mich da und hatten immer Verständnis.
Nachdem Kathi und ich uns ausgeheult hatten und Ben uns unzählige Taschentücher gereicht hatte, aßen wir in Ruhe Frühstück. Ben und Kathi blödelten andauernd miteinander herum, was mich ablenkte und mich meinen Gefühlsausbruch und auch die Erinnerungen kurz vergessen ließ, zumindest bis ich Luc eine Nachricht schrieb, dass er mich in einer Stunde abholen konnte.
Wenigstens hatte ich jetzt die Chance noch etwas Zeit mit Ben und Kathi zu verbringen, wenn schon nicht gestern Abend. Kathi erzählte mir, wie sie Plätzchen gebacken hatten und Jane mehrfach wütend geworden war, weil sie den Teig zu dünn ausgerollt hatte und die Plätzchen kaputt gegangen waren.
»Hast du immer noch so viel Kontakt mit diesem Typen?« Perplex sah ich Ben an, während wir die ganzen kleinen Holzfiguren sortierten, die Kathi von ihrer Oma hatte und dringend an ihren kleinen Tannenbaum hängen wollte, an dem allerdings schon etliche goldene Kugeln, eine weiße, glitzernde Taube und natürlich eine Lichterkette angebracht waren.
Ben schien zu erahnen, dass ich nicht genau wusste, worauf er hinaus wollte. »Luc heißt er, oder nicht? Dein Chef.« Im ersten Moment überraschte es mich, doch dann erinnerte ich mich an die ganzen Diskussionen um Lucs Person in unserer Gruppe.
»Ich treffe ihn gelegentlich«, sagte ich kleinlaut.
»Gelegentlich? Helen ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Der Typ hat etwas zu verbergen und ...«
»Jetzt lass sie doch mal Ben. Jahrelang hatte sie keine anderen Leute um sich außer uns.« Kathi beteiligte sich nun sowohl an der spontanen Diskussion als auch am Sortieren der Figuren.
»Kannst du mal bitte den Fakt außer Acht lassen, dass er gutaussehend ist?«, forderte Ben genervt. Kathi schnaubte belustigt. »Das spielt gar keine Rolle. Es geht einfach darum, dass es Helen vielleicht ganz gut tut mit anderen Kontakt zu haben.«
»Das kann sie doch auch gerne. Maja und Thore sind total cool drauf. Mit denen kann Helen sich doch treffen, aber dieser Luc ... mit dem stimmt etwas nicht. Es ist ihr Chef und das sollte er auch bleiben.«
Ben traf da einen Punkt. Luc passte wirklich nicht in den Rest meines Umfeldes. Wenn ich ehrlich war, wusste ich gar nicht genau, wer Luc eigentlich war. Er verbarg so viele Dinge, die ich nicht einmal erahnen konnte und selbst die Dinge, die mich betrafen, besprach er nicht mit mir. Ben hatte schon immer einen guten Riecher was komische Menschen anging.
»Das sind doch aber Janes Freunde und nicht Helens. Sie haben Jane kennengelernt und nicht Helen«, machte Kathi sofort weiter.
»Helens Psychologe meinte doch, dass wir die beiden nicht als zwei Personen betrachten sollen«, erwiderte Ben.
»Tu ich ja auch nicht«, empörte Kathi sich. Ich wollte mich gerade zu Wort melden doch Ben reagierte bereits auf Kathis angegriffenen Worte .
»Dann sind Janes Freunde doch auch Helens.« Aufgebraucht schmiss Kathi eine kleine Holzfigur zurück in die Schachtel. Diese Art von Diskussionen zwischen Kathi und Ben war ich bereits gewohnt.
Sie waren oft sehr gegensätzlicher Meinung und ihre Gespräche uferten meistens in ein Streitgespräch aus.
»Was ist denn dein Problem Ben?!«
»Ich hab kein Problem.«
»Dann lass Helen doch machen, was sie für richtig hält. Sie ist kein kleines Kind!«
Ben stocherte missmutig in den Figuren rum. Als Kathis wütende Stimme verstummte. Eine Haarsträhne fiel in seine Stirn.
»Ich mache mir nur Sorgen, okay?«
Ich legte eine Hand auf Bens und nun hatte ich endlich die Aufmerksamkeit der beiden Streithähne.
»Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Ich kann dich verstehen Ben. Luc ist wirklich etwas außergewöhnlich und ich kann deine Perspektive gut nachvollziehen, aber ich mag es mit Luc Zeit zu verbringen«, sagte ich leise in den Raum hinein.
Auch wenn Luc oft grimmig und kühl war, hatte ich das Gefühl gewachsen zu sein seit ich ihn kannte.
»Bist du dir sicher Helen?« Ben musterte mich abwartend und wirklich an meiner Meinung interessiert. Ich hatte das Gefühl weniger und nicht ganz so starke Panikattacken zu haben, seit ich bei Luc war, was eine echte Erleichterung war. Ich erinnerte mich an die Situation in meiner Wohnung, in der ich eine Panikattacke bekommen hatte und Luc mir half mich zu beruhigen. Er hatte eine sehr ruhige und gelassene Ausstrahlung und diese schien auf mich überzugehen.
Ich nickte und Ben gab ein ergebenen Laut von sich. »Na schön. Wenn irgendwas ist sag mir Bescheid.« Wieder nickte ich. Ben war wie der große Bruder, den ich nie hatte. Kathi lächelt zufrieden. Damit war die Diskussion beendet.
Wir schmückte den Tannenbaum zu Ende, der mit dem ganzen Schmuck wirklich süß aussah und super in Kathis Wohnung aus Krimskrams passte. Kathi hatte vor den Weihnachtsferien noch mehrere Abgabe in Form von journalistischen Berichten, die sie zu einem bestimmten Thema schreiben musste, weshalb wir schon bald gemeinsam nach unten gingen, als ich eine Nachricht von Luc bekam.
Zu dritt standen wir vor dem Gebäude und Luc mit seinem luxuriösen Wagen an der Straße. Er hatte heute mal keinen Anzug an, war aber trotzdem schick und seriös gekleidet mit einer dunklen Jeans, dem elfenbeinfarben Pullover und dem olivgrünem Mantel darüber. Seine Haare hatte er aber trotzdem wie üblich gestylt.
Kathi lächelte und winkte freundlich, worauf Luc ebenfalls die Hand zum Gruß hob. Ben nickte lediglich.
»Ich werd dann. Macht's gut«, sagte ich nachdem ich Luc den Rücken zugedreht hatte.
»Ja wir sehen uns.« Kathi umarmte mich herzlich und auch Ben verabschiedet mich mit einer Umarmung. »Sag Jane sie soll ein bisschen mit Andrea üben Plätzchen zu backen.«
Da war der lustig und fröhlich aufgelegte Ben wieder.
»Manch ich«, sagte ich grinsend und winkte nochmal, als ich das kleine Stück Richtung Straße runterlief, was wie ein Vorgarten wirkte, mit einer ziemlich großen Eiche vor dem Haus.
Dann drehte ich mich zu Luc um und ging direkt auf ihn zu. Ein unruhiges Kribbeln bereitete sich in meiner Magengegend aus und ich hatte das Gefühl der Kragen meiner Jacke scheuerte an der empfindlichen Haut mit den Streifen an meinem Hals. Ich versuchte den Kragen meines Mantels zu lockern.
»Ist alles gut?« Ich blickte zu Luc hoch, vor dem ich nun angekommen war, sah aber schnell wieder weg und nickte zaghaft. Es widerstrebt mir mit ihm zu kommunizieren.
Ich war irgendwie sauer über diese Situation in seiner Wohnung, da ich ja eigentlich nur da war, damit genau so etwas nicht passierte. Luc nahm mir die kleine Tasche ab, die Jane gepackt hatte, legte sie auf die Rückbank und hielt mir die Tür auf der Beifahrerseite offen. Dann stieg er ebenfalls ein.
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