Helen
Sofi zog mich den ganzen Tag auf. Glücklicherweise hatten wir den selben Stundenplan, sodass ich nicht alleine war, auch wenn sie mich den ganzen Tag mit Fragen löcherte. David musste zu anderen Veranstaltungen, die auf sein Instrument zugeschnitten waren. Es gab verschiedene Module, die wir im ersten Semester durchlaufen mussten. So gingen Sofi und ich zu unserem Hauptfach, welches Teil des künstlerischen Kernmoduls war, in dem unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten, sowie unsere Persönlichkeit als Violinistinnen gebildet und weiterentwickelt werden sollten.
Davon hatte wir mehrere Stunden die Woche. Es fühlte sich wirklich an, als würde ich ins kalte Wasser geschmissen. Mr. Harno hatte das bereits beim Gespräch angedeutet. Die Aufgaben und Anforderungen waren neu und ich verstand zu beginn nicht direkt, was ich machen sollte. Sofi war genauso verwirrt gewesen wie ich. Gott sei Dank hat uns ein netter Kommilitone geholfen und uns erklärt, was die Aufgabe war. Um so dankbarer war ich um Sofis Anwesenheit.
Die nächsten zwei Stunden widmeten wir uns dem Pflichtkurs Klavier. Ich hatte schon mal am Klavier gesessen und einfache Lieder gespielt, wie Funkel, funkel kleiner Stern und der ungefähre Aufbau eines Klaviers war mir bekannt, aber das hier war ein ganz anderes Level. Ich hatte sehr viel aufzuholen und die Nervosität machte es nicht besser. Meine Finger wurden kalt und unbeweglich. Ich schaffte es nicht mich zu konzentrieren und machte mehr Fehler als nötig.
Auch wenn in der Beschreibung des Moduls stand, es würde auf das individuelle Niveau angepasst werden, war ich komplett überfordert und ich zweifelte an mir selbst. Sofi munterte mich auf, dass wir gerade angefangen hatten und sie kein Stück besser wäre, doch mein Kopf sagte mir etwas anderes.
Es folgten eineinhalb Stunden in denen wir uns mit Tonsätzen beschäftigten. Damit kannte ich mich bereits aus und ich verstand halbwegs, was die Dozentin am Pult erklärte. Danach gingen Sofi und ich essen, denn es war bereits später Nachmittag.
»Oh man. Es ist der erste Tag und ich sehe jetzt schon nicht mehr durch.« Sofi lief verzweifelt neben mir her. »Du hast ja wenigstens die Satztechniken verstanden!« Sie riss die Hände in die Luft und musterte mich erstaunt, was mir ein kleines Schmunzeln entlockte.
»Homophonie? Polyphonie? Es tut mir echt leid, aber ich verstehe kein klingonisch.« Ich konnte nicht anders als zu lachen.
»Du lachst?« Sofi sah mich fassungslos an. Ich nickte und hielt mir eine Hand vor den Mund. Ich lachte nicht oft. Meistens lächelte ich nur oder schmunzelt, doch manchmal konnte ich nicht anders.
Nach dem wir was gegessen und mit David in der Bibliothek den Lernstoff nochmal wiederholt hatten, betraten wir das Theater, in dem die Ensembleprobe stattfand, von der ich nun auch Teil war. Die Probe fand in einem dafür vorgesehenen Probenraum statt. Es herrschte bereits Durcheinander, als wir reinkamen. Einige Studenten unterhielte sich angeregt. Andere stimmten bereits ihre Instrumente.
»David! Sofi!« Ein Mädchen mit dunklen zu einem Dutt gebundenen Haar kam auf uns zu gelaufen. Ich glaubte sie auch auf der Gala gesehen zu haben.
»Ihr glaubt nicht was passiert ist!« Wir drei blickten uns fragend an.
»Claire wurde ausgetauscht. Es wurde noch nicht gesagt wer die erste Geige spielt, aber als der Dirigent die Teilnehmerliste gesehen hat, wollte er das Claire sich zu der Begleitung setzt.«
»Wer ist denn der Dirigent heute?« Sofis und auch mein Blick schweiften durch den Raum.
»Mr. Lorenz.« Das Mädchen zeigte hinter uns, ich konnte aber niemanden erkennen. Mr. Lorenz? Der Name kam mir irgendwoher bekannt vor. Wir gingen zu unseren Plätzen. Sofi und ich saßen nebeneinander und stimmten unsere Instrumente.
»Helen Bold?« Ich sah auf. Der Dirigent stand am Pult und blickte mich direkt an.
»Ihr Platz ist heute hier vorn.« Er deutete auf den Platz der ersten Violine. Meine Augen weiteten sich. Sofi stieß mich mit dem Ellenbogen an und scheuchte mich nach vorn. Langsam stand ich auf und stellte mich auf den Platz, der mir zugewiesen wurde. Ich spürte die Blicke der Anderen. Sie bohrten sich in meinen Rücken. Ein verächtliches Schnauben kam von hinten und ich vermutete, dass es von Claire kam.
Der Dirigent lächelte mich traurig an. Verwundert über seinen Blick sah ich unsicher umher.
»Sie sehen aus wie Ihre Mutter«, sagte er mit Bedauern in der Stimme. Mein Atem stockte als ich zu dem Dirigenten sah. Er neigte seinen Kopf nach vorn. Ein kalter Schauer huschte über meinen Rücken. Jede Faser in meinem Körper verspannte sich.
»Es ist mir eine Freude.«
***
Die Probe war ein Desaster gewesen. Nach dem der Dirigent mich als erste Geige hochgestuft hatte und offensichtlich meine Mutter kannte, stand ich so unter Strom, dass meine Hände eiskalt und steif waren. Sie waren vor Aufregung schwitzend feucht, wodurch der Bogen in meiner Hand immer wieder verrutschte und grässlich quietschende Töne auf den Saiten erzeugte. Claire hatte ihren Platz als erste Geige wieder eingenommen.
Es war peinlich. Dieses ganze Szenario war einfach nur peinlich. Ich lag zu Hause auf meinem Bett. Beschämt vergrub ich meinen Kopf unter der Decke. Es hatte wahrhaftig nicht schlimmer kommen können. Selbst ein paar Tage später verfolgte mich dieses abscheuliche Gefühl immer noch. Bereuend schloss ich meine Augen.
Immerhin wusste ich jetzt woher ich den Dirigenten kannte. Er hatte damals viele Stücke dirigiert, in denen meine Mutter den Flügel spielte. Wie hatte ich so naiv sein können zu glauben, niemand würde mich mit meiner Mutter in Verbindung bringen?
Der Gedanke an sie schnürte meine Kehle zu. In meinem Kopf projizierten sich ein Bilder meiner Eltern. Es waren Bilder aus dem Fotoalbum welches Andrea und Thomas zu Hause hatten. Ich selbst hatte keine Erinnerung an meine Eltern. Alle Erinnerung schienen aus dem Fotoalbum zu sein.
Als ich Dr. Hill fragte, warum ich keine Erinnerung an meine Eltern und schon gar nicht an ihren Tod hatte, erklärte er mir, dass die Erinnerungen an den Tod meiner Eltern so traumatisch seinen, dass sie sich in einem abgetrennten System, in meinem Kopf befanden. Dies war eine Schutzreaktion des Körpers.
Die Erinnerungen waren so schwer zu ertragen, dass mein Gehirn sie weggesperrt hatte. So war auch Jane entstanden. Sie schützte mich vor diesen Erinnerungen, die mich krank machten und half mir in Situationen, die mich überforderten. Auf Grund meiner Erlebnisse bei dem Unfall entstanden meine Panikattacken und Angststörungen.
Ich rollte mich in meinem Bett zur Seite. Thomas war damals als Polizist am Unfallort gewesen. Es soll sehr hektisch gewesen sein und mein 6-jähriges Ich war mitten drin gewesen. Er hatte mich an einen etwas ruhigeren Ort gebracht. Ich war apathisch gewesen und hatte nur in die Luft gestarrt. Nichts hatte meine Aufmerksamkeit wecken können. Da ich keine Verwandtschaft hatte wurde ich in ein Kinderheim gesteckt.
Thomas und Andrea hatten mich wenige Monate später adoptiert. Sie konnten keine Kinder bekommen und wollten mir ein schönes Leben bieten. Tränen traten mir in die Augen und in meiner Nase machte sich ein brennendes Kribbeln breit. Ich war Thomas und Andrea so dankbar, denn ich hatte eine wirklich schöne Kindheit verbringen dürfen. Ich wischte meine Tränen weg und kuschelte mich in meine Decke.
Ein dicker Nebel legte sich über die Stadt, welcher kaum Sonnenstrahlen durchließ. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Meine erste Veranstaltung war erst am Nachmittag. Ich legte mein Gesicht in meine Hände. Heute musste ich mit einer mir zu geteilten Pianistin spielen. Es graute mir jetzt schon vor diesen eineinhalb Stunden. Für diesen Tag war es zu meinem Glück die einzige Veranstaltung. Für das Lernen heute hatte ich Sofi und David abgesagt. Ich brauchte wirklich etwas Ruhe. Nach der Korrepetition würde ich mich kurz mit Kathi treffen und dann nach Hause gehen.
Ich machte mich also auf den Weg zur Uni. Das Wetter spiegelte meine innere Gefühlslage wieder. Es war nass und kalt. In weiser Voraussicht hatte ich mir einen Schal umgebunden. Ich stieg teilnahmslos in die S-Bahn und fuhr zur Uni. Dort traf ich mich mit der Pianistin vor dem Gebäude. Ihr Name war Luisa und sie schien recht nett zu sein. Wir suchten uns einen Übungsraum mit Piano und begannen zu spielen.
Es lief nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Nach der Einheit verabschiedeten wir uns und ich machte mich auf den Weg zu Kathi. Auf dem Uni Campus waren viel zu viele Leute. Mein Mund war staubtrocken. Ich achtete auf eine kontrollierte Atmung. Ich konnte Kathi unter den ganzen Studierenden nicht ausmachen.
Ich blickte mich auf dem ganzen Campus um. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Erschrocken drehte ich mich um. Es war Maja, mit den lila Strähnen aus dem restaurant. »Suchst du etwas?« Ich starrte sie eine Weile einfach nur an. Irgendwann blinzelte ich und schüttelte mit dem Kopf. Sie sah verlegen zu Boden, was mich verwunderte. Dann blickte sie mich direkt an. »Weißt du, ich wollte fragen, wie es dir geht.« Sie stocherte mit den Schuhen auf dem Pflasterstein rum. »Also Manu und Gustav, sie meinten du warst letztens komisch. Ich wollte fragen was los ist. Ich dacht wir hätten uns gut verstanden.«
Fragend sah ich sie an »Manu? Gustav? Wer... «, sagte ich unsicher.
»Die Jungs meinten sie haben dich vor ein paar Tagen auf dem Campus getroffen, aber du warst wohl sehr abweisend«, erklärte Maja.
Da fiel mir die Situation mit dem blassen Studenten und dem mit Brille ein. Mein Herz rutschte mir in die Hose und meine Kehle schnürrte es augenblicklich zu. Noch nie hatte ich anderen erklären müssen, weshalb ich mich mal so und mal so verhielt. Jane hatte bisher immer Bekanntschaften gehabt, die nichts mit mir und meinem Leben zu tun hatten.
»Ich... also... ich warte auf eine Freundin magst du ... kannst du mit mir warten. Ich ... erkläre dir dann alles.«
Etwas verwundert blickte Maja mich an. »Klar ich bin fertig für heute. Was studiert sie denn?«, sagte sie trotz ihrer Verwunderung, wofür ich ihr sehr dankbar war.
»Journalismus.«
»Okay. Die Journalisten sind meist in diesem Gebäude.« Maja deutete auf das Gebäude links von uns. Wir warteten also davor, bis Kathi tatsächlich aus dem Gebäude kam.
Kathi entdeckte mich und kam geradewegs zu uns. »Tut mir leid Helen. Wir haben überzogen.« Ich winkte ab. Kathis Blick richtete sich auf Maja neben uns. Dieses lächelte aufgeschlossen und legte eine Hand an ihr Schlüsselbein. »Ich bin Maja.«
»Ah. Hey. Noch eine neue Bekanntschaft?« Kathi sah mich forschend an. Ich nickte. »Ja, Maja und ich arbeiten in dem Restaurant und scheinbar ... « Ich hielt inne. Ich konnte einfach nicht weitersprechen. »Ich hab sie gefragt, ob wir an einem ruhigen Ort reden wollen. Wäre das für dich auch in Ordnung?« Kathi hatte kein Problem damit und wir suchten uns das nächste Café.
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