
Kapitel 17
Jane
Das unerträglich nervige Vogelgezwitscher weckte mich. Ich zog die schwere Federbettdecke über meinen Kopf. Dabei gab sie ein wohliges Rascheln von sich. Mit einer Hand tatstet ich das Bett nach dem verdammten Handy ab. Das Vogelgezwitscher wurde immer lauter. Ich wirbelte hoch und stöhnte genervt. Bettdecke und Kissen rutschten auf Grund meiner Suchaktion vom Bett. Ich fand das Handy auf dem Schreibtisch. Ungestüm raffte ich mich auf und schaltete den Wecker aus.
Wie nervig. Warum stellte Helen so früh einen Wecker? Immer noch verschlafen legte ich Kissen und Decke wieder auf das Bett, um mich schnell darin einzukuscheln und schloss die geschwollenen Augen. Wenige Minuten später klingelte das Handy erneut. Ich rollte mich auf den Rücken und starrt frustriert an die Decke. Jetzt würde ich wohl kaum noch einmal einschlafen können.
Dann schlug ich die Bettdecke trotzig zur Seite. Verdutzt blickte ich auf das Handy runter. Es war nicht der Wecker der mich erneut gestört hatte, sondern eine Erinnerung. In der kleinen Zeile der Mitteilung stand Gespräch Hochschule. Noch nicht ganz wach kniff ich meine Augen zusammen. Ich nahm das Handy in die Hand und entsperrte es. Das Kalendersymbole zeigte eine Meldung an. In dem Moment riss ich die Augen auf.
Ich erhaschte nur einzelne Wörter beim Überfliegen des Eintrages. Helen hatte heute ein Gespräch in der Universität, an der sie sich beworben hatte. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Was sollte ich jetzt tun? Ich blickte aufgeregt hin und her. Dann sah ich auf die Uhr. Ich hatte noch zwei Stunden. Ich nahm das Handy und lief ins Badezimmer, um Kathi anzurufen. Nebenbei putze ich mir die Zähne.
»Geh schon ran Kathi«, murmelte ich an der Zahnbürste vorbei und kleine Seifenblasen aus Zahnpasta flogen durch die Luft. Da Kathi nicht dran ging, rief ich Ben an. Auch Ben ließ auf sich warte, doch er hob ab, bevor ich auflegen konnte.
»Helen?«
»Nein. Jane hier.« Mein Mund war mittlerweile voller Zahnpasta und nicht mal ich hatte mich verstanden. Ich spuckte den Schaum aus und wiederholte mich.
»Jane? Was ... was ist?« Bens Stimme deutet darauf hin, dass ihn mein Anruf geweckt hatte.
»Ben du musst mir helfen.«
»Wobei?« Ich hörte ein Rascheln im Hintergrund.
»Helen hat heute irgendein Gespräch in der Uni. Ich weiß nicht, wohin ich muss. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und ich weiß nicht, was ich anziehen muss.« Am anderen Ende war es eine Weile still. Ich versuchte meine Worte möglichst locker und desinteressiert klingen zu lassen. Meine Verärgerung über die letzten Tage saß tief. Trotzdem hatte Helen es nicht verdient, dass sie diese Chance verpasste.
»Gespräch? Was meinst du?« Wieder Stille am anderen Ende. »Meinst du wegen des Vorspiels«, machte Ben den Versuch zu verstehen, was ich ihm sagen wollte.
»Ja. Ich schätze schon.«
»Jane!« Ben wirkte plötzlich wacher. »Du darfst das nicht verpatzen, hörst du?« Seine Stimme klang mahnend.
»Tz. Was glaubst du warum ich anrufe?«
»Zieh was Schwarzes an. Etwas förmliches und schlichtes. Ich komme dich abholen.« Ich nickte vor mich hin.
»Ich muss mich fertig machen. Also bis gleich.«
»In Ordnung, bis gleich.«
Ich zog das förmlichste an, was ich in Helens Kleiderschrank finden konnte. Was wären mögliche Fragen in diesem Gespräch? Würde ich überhaupt was gefragt werden? Warum musste Helen ausgerechnete heute nicht aufwachen? Nicht, dass ich nicht gerne aufwachte, aber heute? Ich gab ein genervtes Geräusch von mir. Okay Jane. Durchatmen. Du machst das. Helen war mir sowas von etwas schuldig.
Irgendwann klingelte es an der Tür. Ben stand davor. Er blickte mich misstrauisch an.
»Was?«, wollte ich irritiert wissen.
Ben schüttelte den Kopf. »Ich hatte Angst du würdest Ärger machen«, sagte er breit grinsend. Ich sah ihm ärgerlich hinterher, als er reinkam. »Warum hätte ich dich dann anrufen sollen, he?«, fragte ich schnippisch.
Ben machte eine beschwichtigende Handbewegung »Ist ja gut.«
»Geht das?« Ich fabrizierte eine geschickte Drehung. Zumindest fand ich sie geschickt. Ben blickte mich eindringlich an. »Ich denke schon«, sagte er, was mich beruhigte.
»Wozu das Gespräch?«, fragte ich so gelassen wie möglich. Ben zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht genau, jedenfalls wirst du nicht spielen müssen.« Gott sei Dank. Hoffentlich behielt Ben Recht. Müsste ich spielen, dann hätten wir ein großes Problem gehabt. Ich war wirklich null musikinteressiert und dieses Desinteresse kam nicht von irgendwo.
»Hm ... vielleicht wurde Helen auch nur eingeladen, um ihr zu sagen, dass sie angenommen wurde. Aber das ist unwahrscheinlich. Vielleicht wollen sie noch ein paar Informationen zu den Liedern haben, die Helen gespielt hat.« Ben lief nachdenklich durch den Raum.
»Lieder?«, fragte ich verdutzt. Er blieb stehen und sah mich an, dabei gab er ein zustimmendes Geräusch von sich. »Helen musste drei selbstgewählte Stücke spielen.« Mehr sagte Ben nicht. Ich machte eine Geste die ihm bedeuten sollte, dass diese Aussage absolut nicht ausreichte. Was brachte es mir, wenn ich nicht wusste, welche Lieder Helen gespielt hatte? Ich wurde ungeduldig.
»Ben ... « Meine Stimme war ruhig. Ben blickte mich fragend an.
»Was hältst du davon, wenn du mir auch sagst, welche Lieder Helen ausgesucht hat!?« Ich gestikulierte wild mit meinen Armen durch die Luft. Ben wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. »Wenn ich das wüsste.«
»Du weißt es nicht?« Ich starrte ihn mit großen Augen an.
»Nein, der Gedanke kam mir unterwegs erst und diese Stücke haben immer so ausgefallene Namen.« Ben blickte ins Nichts und schien nachzudenken. Ich ließ mich auf das Bett fallen und starrte an die Decke. Das konnte nur ein Reinfall werden.
»Ich bin mir sicher, dass sie ihr Lieblingsstück gespielt hat.«
»Das da wäre?« Ich erhob mich nicht mal von dem Bett, da ich keine Hoffnung hatte das Ben sich erinnerte.
»Wiegen ... Wiegenlied?« Der Schreck bei dem Klang dieses Liedes ließ meine Augen größer werden. Doch ich riss mich gleich wieder zusammen.
Hatte ich das richtig verstanden? Wiegenlied? Es war als würde eine riesige Kirchenglocke ganz hinten in meinem Gehirn läuten. Ich starrte an die Decke, während die Erinnerung sich urplötzlich wieder in meinem Bewusstsein breit machte. Eine Erinnerung, die ich tief vergraben hatte. Für Helen. Ich warf Ben einen vorsichtigen Blick zu und hoffte, er hatte nichts bemerkt und sah wieder an die Decke. Diese Erinnerung war für mich bestimmt. Ausschließlich.
Ich lachte abfällig. »Wiegenlied? Was soll das denn sein?«
Ben sah mich etwas grimmig an. »Gib mir mal dein Handy.«
Ich schielte zu ihm rüber. »Wozu das denn?«
»Gib einfach her.«
»Ja ja.« Ich nahm das Handy, entsperrte es und gab es Ben. Auf der Suche, nach was auch immer, tippte sich Ben durch das Handy.
»Hier.« Er hielt mir das Handy hin. Es war ein Eintrag in Helens digitales Tagebuch. Ich hatte das letzte Mal nur schnell drüber gelesen, um zu verstehen, was die letzten Jahre geschehen war. Ben hatte einen Eintrag geöffnet. Ich blickte auf das Handy und las.
20. Oktober Helen
Sollte ich es nicht zu dem Gespräch schaffen haben ich die Lieder hier festgehalten. Es handelt sich um Vivaldis Sommer Satz 1, Schuberts Wiegenlied und Beethovens Frühlingssonate. Ich bitte dich Jane, inständig. Gib dir Mühe, bitte. Ich tue alles, aber bitte geh dort hin und sei nett, freundlich und respektvoll.
Ich verdrehte die Augen. Sie kann froh sein, dass ich überhaupt dorthin ging.
Alle drei Lieder haben eine tiefe Bedeutung für mich persönlich. Ich habe das Vorspiel mit Allegro non molto, Vivaldis Sommer Satz 1 aus „Die vier Jahreszeiten", begonnen. Warum? Ich habe schon immer gerne Vivaldi gehört. Ich mag den Fluss seiner komponierten Stücke. Vor allem „Die vier Jahreszeiten" höre ich gerne. Vivaldi schafft es lebensnah die Jahreszeiten zu charakterisieren. So kann ich mich im Winter fühlen, als wäre es Sommer. Ich habe mich für Allegro non molto entschieden, da ich den Umschwung besonders finde. Das sanfte vorsichtige Spiel der Violine, welches in ein tosenden, aufregen Klang übergeht. Die Dramatik des Stückes spiegelt nicht nur den Sommer sondern auch das Leben wieder. Mit den vielen guten und schlechten Erinnerungen.
Das zweite Lied, Schuberts Wiegenlied, ist für mich ein Ort der Ruhe. Umgeben von der warmen weichen Melodien, fühle ich mich wie zu Hause, in den schützenden Armen meiner Liebsten. Es bringt Frieden und Ruhe mit sich. In der Frühlingssonate von Beethoven erwacht das Leben aus dem tiefen Schlaf im Winter. Es beginnt etwas Neues. Langsam erheben sich frühblühende Blumen aus der kristallenen Schneedecke. Dies soll ein Zeichen für den Neuanfang sein, sowie ich hiermit einen Neuanfang beginnen möchte.
Ich hoffe ich konnte Sie überzeugen und Sie während meines Spiels auf eine Reise mitnehmen.
Hm. Ich verstand nichts davon, aber Helen hatte sich viel Mühe gegeben das alles vorzubereiten. Außerdem hatte sie trotz der fünf Jahre, die ich nicht da war, Rücksicht auf mich genommen. So schien es zumindest. Vielleicht habe ich auch überreagiert. Vielleicht ... Ich schüttelte den Kopf. Nein.
Ich reichte Ben die Blätter. »Helen ist gut vorbereitet«, sagte ich knapp. Ben begann zu lächeln. »Das ist wirklich Helen. Ich hab keine Ahnung, wie sie das aus den Lieder zieht, aber sie tut es.« Ich rümpfte die Nase. Das war ja ekelhaft. »Ich ziehe mich an. Ich glaube wir müssen bald los.«
***
Es war einfach eklig draußen. Die Nässe, durch den eben geendeten Regen ließ die Temperatur sich noch kälter anfühlen. So kalt, dass ich den Mantel noch enger um mich zog, wenn das überhaupt möglich war. Die nass, kalte Luft kroch in meine Glieder. Meine Finger waren schon ganz schwerfällig von der Kälte.
»Sind wir bald da?« Die Hände in meinen Taschen vergraben wandte ich mich zu Ben.
»Gleich da vorne.« Ben, der seine Hände ebenfalls in den Jackentaschen vor dem grausigen Wetter versteckt hatte, zeigt mit einer Hand auf ein altes Gebäude. Alt war definitiv nicht gleichzusetzen mit Ruine. Ganz im Gegenteil. Dieses Gebäude war erstaunlich. Es sah aus wie einen kleine Villa, mit reiner, weißen Fassade kleinen Türmchen, Vorsprüngen und hohen Fenstern. Daran anknüpfend war ein moderner Neubau zu erkennen.
Wir gingen die graue Steintreppe hoch und betraten das Gebäude durch große Glastüren. Hier würde Helen also studieren? Vor uns eröffnete sich eine große Aula mit malerischem Stuck an der Decke und den Wänden. Der Holzboden glänzte in einem gold-braun. War das alles nicht etwas zu extravagant? Ich zog eine Augenbraue hoch und sah mich in der Aula um. Es waren Stühle und Tische aufgestellt an denen bereits einige Studenten saßen. Ben und ich steuerten sicher auf einen der freien Tische zu, die wahrscheinlich nur für diesen Tag hier platziert worden waren, und setzten uns.
Kaum dass wir saßen, kam eine junge Frau zu uns. Auf den ersten Blick konnte ich sagen, dass sie naiv war. Ihre großen runden Augen strahlten mich freudig an. Ihre Haare glänzten seidig in einem natürlichen blond-rot. Edel gekleidet und mit großem goldenen Schmuck setzte sie sich neben uns.
Ich runzelte die Stirn. Sie wirkte mir zu fröhlich. Zu energiegeladen. Es war von allem zu viel.
»Weißt du, ich bin immer noch begeistert von dir. Du hast so schön gespielt.« Ich sah sie reglos an. Ihre Stimme war viel zu hoch. Sie zog einige Worte unnötig in die Länge und redete, als wenn sie Aufputschmittel zu sich genommen hätte.
Ich lächelte und nickte dabei. Mein Blick wandte sich unverzüglich von ihr ab und ich blickte zu Ben. Ich versuchte ihm mit meinen Blicken meine Gedanken zu übermitteln. Anstatt das Mädchen zu verscheuchen, schmunzelte er in sich hinein. Entgeistert musterte ich sein amüsiertes Gesicht. Wusste er, dass ich auch einfach gehen könnte? Ich musste diesen Kram hier nicht machen.
»Wirklich deine Art und Weise zu spielen ... Wow. Das war der Wahnsinn!« Wilde Gesten unterstrichen ihre Worte und am Ende schlug sie auf den Tisch. Der goldene Schmuck klapperte auf der weißen Tischplatte. Ich sah sie entgeistert an. Wo war ich hier gelandete?
»Danke«, sagte ich nur anstatt ihr einen Vogel zu zeigen.
Ich zwang mich wieder zu einem Lächeln. Dieses Mädchen war komplett durchgeknallt. Sie blickte sich kurz um. Ihre Haare flogen dabei durch die Luft. Anschließend sah sie wieder zu mir. Ihren Oberkörper leicht über den Tisch gebeugt, winkte sie mich zu sich. Ich schaute umher und überlegte, mich einfach weg zu setzten.
Ich schloss die Augen, atmete tief durch und sah sie freundlich an. Ich beugte mich zu ihr über den Tisch. Das Mädchen hielt ihre Hand an mein Ohr.
»Ich glaube sogar, dass du die Beste warst. Viel besser als alle anderen.« Sie ließ ihre Hand fallen und setzte sich wieder normal hin. Ich verharrte in meiner Position und fragte mich, womit ich das hier verdient hatte.
Meine Augen schossen Pfeile in Bens Richtung, als ich sein unterdrücktes Lachen hörte. Dieser sah nach unten und versuchte es unter seiner Hand zu verstecken. Trotzdem sah ich, wie seine Schulter durch das Lachen hoch und runter hüpften. Meine Lippe zuckte vor Wut.
»Keine Angst. Du wirst bestimmt angenommen.« Das Mädchen zeigte mir einen Daumen nach oben.
»Helen Bold!« Gerade als ich ihr gespielt freundlich das Gleiche sagen wollte, schallte mein Name von den Wänden wieder. Ich blickte auf. Ein wichtig aussehender Mann stand am anderen Ende des Raums in dem Steinbogen, der zu einem Flur führte. Ben und das Mädchen wünschte mir Glück und ich ging zu dem Mann im schwarzen Anzug und roter Krawatte.
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