Helen
Dr. Hill pendelte zwischen zwei Orten hin und her. Davor hatte ich größten Respekt. Dass Dr. Hill von der Küste kam und auch hier Patienten hatte, war ein weiterer Grund, weshalb ich mich nun hier beworben hatte. Diese Tatsache beruhigte auch Andrea, die sich sehr viele Sorgen gemacht hatte, da ich nun so weit weg von zu Hause war. Dr. Hill war meiner Meinung nach noch sehr jung. Zumindest empfand ich 35 als jung, wenn man ein guter, erfahrener Psychologe war.
Ich stand der unterschiedlich farbenden Fliesenwand gegenüber, an der eines dieser weißen Straßenschilder angebracht war, auf dem der Name der Haltestelle stand. Die U-Bahn fuhr ein und die Türen öffnete sich. Es strömten wahnsinnig viele Leute aus der U-Bahn und meine Luft wurde gleich etwas knapper. Ich stieg ein und suchte einen Platz. Einige seitlich platzierte Sitze, die an den Fenstern waren, waren noch frei, weshalb ich mich dort hinsetzte. Zwischen mir und einem älteren Herren ließ ich zwei Sitzplätze frei. Ich legte meine kleine Tasche auf den Schoß. Die Bahn fuhr ruckartig an und beschleunigte schnell. Es dauerte eine Weile bis ich ankam. Das erste Mal, dass ich komplett alleine zu Dr. Hill ging, ließ mich etwas unruhig werden. Normalerweise ging ich mit Andrea, die dann im Wartezimmer saß, bis ich fertig war. Noch dazu war es eine komplett andere Umgebung. Eine andere Stadt. Ein anderer Behandlungsraum.
Ich hatte sehr lange gebraucht mich in Dr. Hills Raum in der psychiatrischen Einrichtung wohl zu fühlen. Die Einrichtung war in einer Stadt in der Nähe von meinem zu Hause bei Andrea und Thomas. Auch wenn Dr. Hill sich viel Mühe gegeben hatte, den Raum in der Einrichtung gemütlich zu gestalten, wirkte er trotzdem kalt und unpersönlich. Ich hatte über lange Zeit immer riesige Angst gehabt dorthin zu gehen. In der Einrichtung arbeitete Dr. Hill zwei Mal die Woche und betreute die Patienten dort und einige Ausnahmen, die nicht in der Einrichtung waren wie mich. Heute würde ich das erste Mal in Dr. Hills eigener Praxis sein. Ich hoffte die Räume dort waren angenehmer, als die in der psychiatrischen Einrichtung.
Die Praxis war mitten in der Innenstadt. Die Erinnerung an den Abend des Vorspiels blitze in meinen Gedanken auf und eine Art Kloß bildete sich in meiner Kehle. Ich blickte auf mein Handy, welches mich zu meinem Ziel führen würde. Scheinbar war der kürzeste Weg zu Dr. Hills Praxis über den Weihnachtsmarkt. Der Gehweg führte direkt zu dem Marktplatz. Ich blieb stehen. Unsicher befeuchtete ich meine trocknen Lippen. Dann holte ich zitternd Luft und ging weiter.
Die Altbaugebäude waren Wand an Wand platziert und wirkten trotz des trist grauen Wetters fröhlich. Alles war überladen mit Weihnachtsdeko, denn es säumten bereits die ersten kleinen Stände die Fußgängerzone. Die meisten hatten noch geschlossen. Einige bereiteten sich auf das baldige Öffnen vor. Es beruhigte mich, dass hauptsächlich ältere Damen mit ihren Gehhilfen oder Rollatoren unterwegs waren.
Ich ging weiter und landete auf dem große Marktplatz, mit noch pompöseren Häusern. Der ganze Marktplatz war komplett voll mit irgendwelchen Ständen. Sie schienen mit unzähligen Lichterketten verbunden zu sein und waren geschmückt mit Nadelästen, an welche Weihnachtskugeln angebracht waren.
Neben den Ständen gab es einen Haufen Losbuden und andere spaßbringende Aktivitäten, wie Dosen werfen oder Schießstände. Ein großes Riesenrad erregte meine Aufmerksamkeit und ich war sicher, dass man von dort einen fantastischen Ausblick hatte, da der Markt nur ein paar hundert Meter vom Hafen entfernt war. In der Mitte des Marktes stand eine riesige, aus Holz bestehende Weihnachtspyramide. Eine ähnliche, deutlich kleinere Pyramide hatten wir zu Hause auf dem Wohnzimmertisch zu Weihnachten stehen. Als Kind war ich immer fasziniert gewesen, wie sich die Pyramide drehte nur durch die Wärme der Kerzen angetrieben. Aber diese hier war gigantisch. Der Anblick der Pyramide und die damit entstehenden Gefühle beruhigte mich etwas.
Ich blickte wieder auf mein Handy. Laut der Wegbeschreibung musste die Praxis ganz in der Nähe sein. Ich bog in eine Straße ein, die von dem Markt wegführte. Auch hier waren die selben Bauten. Auf dem Display war zu sehen, dass ich mein Ziel erreicht hatte. Ich schaute mich um und entdeckte ein silberglänzendes Schild an der bunten Fassade des Gebäudes vor mir. Psychotherapeutische Praxis Dr. Joseph Hill stand in gerader schwarzer Schrift geschrieben.
Die bunte Holztür daneben war genauso aufwendig geschnitzt, wie die Fassade des Hauses aufwendige Verzierungen hatte. Ich sah eine Klingel und betätigte diese. Wenig später ertönte ein Surren und ich öffnete die massive, schwere Tür. Ich kam in einen dunklen Flur mit grau gepunktete Fließen auf dem Boden. Vor mir führte eine robuste alte Holztreppe nach oben. Ich ging die viel zu steile Treppe hinauf. Bei jedem Schritt knarzte die alten Stufen und meine Schuhe trafen mit einem dumpfen Klopfen auf. Das rhythmische Klopfen beruhigt mich etwas. Eine weitere Treppe führt nach oben, doch an einer weißgestrichenen Tür mit Klingel entdeckte ich das Schild Psychotherapeut Dr. Joseph Hill. Ich war richtig.
Schwer schluckend sah ich das Schild an. Ich hasste neue Sachen. Ich hasste es nicht zu wissen, was geschehen würde. Dass es Dr. Hill war, den ich seit mehreren Jahren kannte, machte diese Situation erträglicher. Ich schloß meine Augen und ballte meine Hände zur Faust. Dann klingelte ich. Das gleiche Surren ertönte und ich öffnete die Tür mit der geschwungenen Klinke.
Ich betrat einen hellen schmalen Raum in dem ich von einem weißen Tresen, hinter dem eine kleine, pummelige Frau mit Dutt saß, empfangen wurde. Mich nicht rührend stand ich noch halb in der Tür, mit der Klinke in meiner Hand. Ich atmete tief ein und aus. Die Frau sah auf. Eine große Brille mit dickem Rahmen prangte auf ihrer klobigen Nase. Ihre Augen waren dunkel fast schwarz. Die dicken Augenbrauen zog sie leicht nach oben. Dann lächelte sie warm und stand von ihrem Drehstuhl auf. »Guten Morgen.« Ihre Stimme, fast schon piepsig, passt nicht zu ihrem Äußerem. Ich versuchte ebenfalls zu lächeln. »Morgen.«
»Sie müssen Frau Bold sein. Kommen Sie rein. Hier beißt niemand.« Ich blickte die pummelige Frau an und nickte langsam. Meine Hand löste sich vorsichtig von der Türklinke, während die Anmeldedame mich weiter ruhig und freundlich musterte.
»Helen.« Die beruhigend, warme Stimme von Dr. Hill erklang hinter der Tür, die ich noch immer nicht geschlossen hatte. Seine Augen waren durch das freundliche Lächeln etwas zusammengekniffen und erste Fältchen zeigten sich. Ich nickte zaghaft als Begrüßung und ging etwas zur Seite.
»Wie geht es dir?« Dr. Hill schloß die Tür. Wieder nickte ich worauf Dr. Hill lachte. Vor lauter Aufregung hatte es mir die Sprache verschlagen. Es fiel mir mehr als schwer etwas zu sagen.
»Komm. Hier entlang.« Dr. Hill ging voran.
Wir betraten einen gemütlichen, großen Raum.
»Setz dich.« Dr. Hill deutet auf einen der Sessel. Ich zog meinen Mantel aus, hing ihn an den Ständer neben der Tür und setzte ich mich. Der Weil machte Dr. Hill an der kleinen Kommode zwei Tassen Tee. Er stellte eine davon vor mir ab und setzte sich mit einer Untertasse und Tasse in der Hand auf den anderen Sessel.
»Ist es draußen sehr kalt?«
»Nicht zu sehr.«
»Hast du gut hier her gefunden?« Ich nickte. Tatsächlich ging es schneller her zu finden als gedacht. Dr. Hill sah sich im Raum um und wandte sich mir zu.
»Ist es nicht deutlich angenehmer als in der Einrichtung?« Ich nickte zustimmend. Der Lamellenvorhang in dem anderen Raum hatte für einen sterile Krankenhausatmostphäre gesorgt. Dazu war der gesamte Raum in einem tristen grau gehalten. Dieser hier war sehr viel wärmer. Die Farben der Wände waren in beige, braun und orange Tönen. Alles war sehr hell und offen gestaltet.
»Was gefällt dir besonders an dem Raum?« Ich trank einen Schluck von dem warmen Lavendel Tee und sah mich in dem Raum um.
Es gab vieles was mir gefiel. Ich mochte die Farbe der Sessel. Ich mochte die hohen Fenster und ihre Vorhänge. Ich mochte die Bilder an der Wand und die strahlenden Pflanzen an den Fenstern. Dr. Hill blickte mich abwartend an. Ich war nicht nervös oder gestresst, da ich wusste, dass Dr. Hill mir die Zeit geben würde, die ich brauchte. Ich sah zu den Fenstern. Von hier aus konnte ich die Weihnachtspyramide auf dem Markt sehen. Davor stand eine Skulptur. Ihre Bewegungen waren leicht und fließend. Ich konnte nicht genau sagen, was die Skulptur darstellen sollte, aber sie hatte eine beruhigende Ausstrahlung.
»Die ist sehr schön.« Ich deutete auf die Skulptur. Dr. Hill gab ein verständnisvolles Geräusch von sich. »Ja, die Skulptur hat etwas besonders. Was fühlst du beim Anblick der Skulptur?«, fragte Dr. Hill ruhig.
»Ich bin mir nicht sicher. Sie wirkt wie ein plätschernder Bach? Zwitschern der Vögel? Ich fühle mich gut, wenn ich sie ansehe. Sie wirkt beruhigend, wie ein Waldspaziergang in einem schönen, unberührten Teil, wo die Natur, Natur sein darf.« Zögerlich wandte ich meinen Blick von der Skulptur ab und ich schaute wieder zu Dr. Hill.
»Eine sehr schöne Beschreibung«, sagte er aufrichtig mit einem freundlichen lächeln. Er drehte sich zu seinem Schreibtisch neben sich und reichte mir einen Block und einen Stift.
»Kannst du nun ein Bild deiner Erinnerungen zeichnen?« Dr. Hill fragte vorsichtig auf meine Gefühle bedacht, aber gleichzeitig schien es eine Art Aufforderung zu sein. Ich nahm beides entgegen und legte den Block auf meinem Schoß ab. Ich atmetet tief ein. Wie in jeder Sitzung. Der Stift über dem Papier zitterte.
»Lass dir Zeit.« Dr. Hill stellte die Tasse vor sich auf den kleinen Glastisch. Ich schluckte schwer und bemerkte, wie der Stift vor meinen Augen verschwamm.
»Wenn du die Situation noch nicht wiederholen kannst, ist das okay.«, beruhigte mich Dr. Hill und nahm mir so sämtlichen Druck ab. Ich schüttelte mit dem Kopf. Ich wollte es schaffen. Dr. Hill war hier, der mir half. Ich konnte es schaffen. Dr. Hill betrachtete mich ruhig. Diese Ruhe schien auf mich überzugehen. Ich atmete tief ein und begann zu zeichnen.
Ein Mann mit kaltem Blick. Ein kleines Mädchen. Ein weißer, geschlungener Weg in einer dunklen Umgebung. Ein scharfer, gerader Schnitt, der das Bild in zwei Hälften teilte. Ein trüber Schleier, der den unteren Teil undeutlich werden ließ. Schattenhafte Gestalten. Etwas blitze in deren Händen. Direkt davor ein kleines Mädchen. Die Umgebung hell. Der Weg dunkel und gezackt. Am Ende wieder der Mann, aber er war hell im Vergleich zu seiner Umwelt. Ich stockte in der Zeichnung. Der Mann, der sich die Sonate gewünscht hatte. Ich wusste nicht was ich von ihm denken sollte. Ich war mir fast sicher, dass er mit etwas Gefährlichem dort in seinem Büro zu tun hatte. Er hatte mir geholfen. Er hatte Jane geholfen. Er hatte uns nach Hause gebracht? Ich runzelte die Stirn. Ich zeichnete eine leere Hülle. Der Mann war eine leere Hülle. Weder gut noch böse. Ich legte den Stift zur Seite und schaute auf das Bild herab. Es wirkte düster. Ich spürte die plötzliche Überforderung und den Schmerz. Etwas regte sich ihn mir. Ein starkes Gefühl, welches ich nicht einordnen konnte. Eines, dass mir so vertraut und fremd zugleich erschien. Ich spürte die Verzweiflung. Ich spürte Tränen in meinen Augen. Ich hatte Angst. Ich war verzweifelt. Wie sollte ich hier rauskommen? Die Männer verfolgten mich. Ich hatte ihnen gerade so entkommen können. Was sollte ich tun? Was sollte ich tun? Was sollte ich...
»Helen?«
Die ruhige Stimme von Dr. Hill zog mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität. Was. Was war das? Dr. Hill sah mich ruhig und abwartend an. Er saß zurück gelehnt in dem Sessel. Die Beine waren überschlagen und seine Hände ruhten auf seinem Schoß. Mein Herz hämmerte gegen mein Brust. Und ich kam mir vor als wäre Ich benebelt. Ich schluckte, blinzelte die Tränen weg und blickte zurück auf mein Bild. Ich gab den Block an Dr. Hill weiter. Dieser betrachtet das Bild eingehend.
»Möchtest du dazu etwas sagen?« Er sah zu mir, aber nicht erwartungsvoll. Lediglich interessiert. Dr. Hill zeigte mir, dass ich für mich entscheiden konnte was ich machen möchte. Ich nickt zögerlich. »Ich hatte ein Vorspiel für die Uni«, sagte ich mit leiser Stimme. Dr. Hill nickte als Zeichen, dass er zuhörte. Er stellte keine Fragen er ließ mich einfach reden.
»Ich bin zu meinem Job gegangen und bekam plötzlich starke Kopfschmerzen nachdem wir eine Sonate gespielt hatten, die sich ein Mann gewünscht hatte.«
»Und der Mann hat dir geholfen?« Dr. Hills Stimme war sanft und beruhigend, während er auf die Hülle des Mannes zeigte. Ich nickte zögerlich.
»Magst du sagen was dann passiert ist?«, fragte Dr. Hill vorsichtig. Ich schluckte schwer. »Ich weiß nicht mehr was genau passiert ist, aber plötzlich hab ich keine Luft mehr bekommen und ich hatte so starke Schmerzen. Ich war nicht stark genug und Jane musste mir wieder helfen«, sagte ich fast schon schmerzlich und blickte auf meine ineinander verwobenen Hände runter. Ich war ein Schwächling. Nichts weiter. Wegen ein paar lächerlichen Schmerzen.
»Helen?« zögerlich schaute ich zu Dr. Hill auf.
»Ich finde dich sehr stark.« Überrascht blickte ich ihn an.
»Du hast es alleine geschafft Hilfe zu suchen, nicht wahr?« Dr. Hill hatte recht. Ich hatte den Maja um Hilfe gebeten. Das waren alles meine Erinnerungen. Erst als ich etwas komisches gesehen hatte, etwas was bedrohlich wirkte, kam Jane zum Vorschein. Ich war nicht so schwach, wie ich gedacht hatte. Ich lächelte leicht wobei ich langsam zu Dr. Hill blickte und nickte.
»Das ist wirklich klasse Helen. Du kannst stolz auf dich sein.« Ich lachte vor Erleichterung auf. Tränen rannen über meine Wangen. Ich hatte es doch geschafft. Ich war nicht mehr schwach. Ich konnte Angst haben. Ich konnte hilflos sein. Ich braucht Jane nicht dafür. Ich konnte es allein.
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