26) Lovely
Während ich, ohne mein zügiges Tempo herunterzuschrauben, schnurstracks den Gang herunterlief, vernahm ich etwas weiter weg, wie mir mein so heuchlerischer Bruder hinterhereilte.
Ganz ehrlich, Mum. Den soll ich mir als Vorbild nehmen?
Ich glaubte es ja auch.
"Adrael", rief er mir mit gesenkter Stimme zu, wahrscheinlich wollte er nicht, dass die anderen Personen hinter den verschlossenen Türen unser Gespräch mitbekamen.
Wenn es sich überhaupt zu einem kommunikativen Austausch entwickeln sollte, ich war nach wie vor komplett abgeneigt davon und mir war es die Zeit nicht wert, meinen Mund fusslig zu reden, um ihm klar zu machen, dass er nicht ständig unschuldige Mädchen ausnutzen und mit ihnen spielen sollte.
Dann sollte er es lieber wie ich machen, nach One Night Stands suchen und die Sache wäre erledigt.
Aber bei ihm hatte ich immer mehr das Gefühl, dass ihn der Spaß an dieser Herausforderung, jemanden um den Finger zu wickeln, reizte und leitete. Er würde sich also nie mit nur einer Nacht zufrieden geben, ohne jeglichen Hintergrund, ohne, ein Mädchen vorher erobert zu haben, um es dann wieder hämisch fallen zu lassen.
Irgendwann erreichte er mich auch mal und versuchte sich an meiner Laufgeschwindigkeit anzupassen.
"Was gibt es, Bruderherz ?", hakte ich spöttisch nach, ohne ihn anzuschauen. Mein Blick war starr auf den Gang vor mir gerichtet. "Ich habe gehört, du hast noch etwas zu klären. Doch nicht etwa mit mir?"
Genervt grummelte er neben mir. "Du weißt ganz genau, was ich mit dir zu klären habe."
Ich hob einen Mundwinkel an. "Tatsächlich?" Mit einem wissenden Gesichtsausdruck hielt ich an und baute mich unauffällig vor ihm auf. "Sag mal... kann es sein, dass du Angst hast, dir würde dank mir diese Cassandra durch die Finger rutschen? So mir nichts dir nichts durch die Lappen gleiten?", fragte ich gewitzt weiter nach.
Düster blickten mir seine steingrauen Augen entgegen. "Adrael. Ich sage es nur ein einziges Mal. Vermassel mir nicht die Tour bei ihr", fauchte er sauer, dabei schritt er näher auf mich zu. Trotzdem wich ich nicht zurück, darauf konnte er lange warten.
"Welche Tour denn?" Ich grinste ihn erneut breit an. "Denkst du nicht, dass die Tour bald endet? Vielleicht ist der Zug ja auch schon abgefahren-"
Damit hatte ich ihn wohl etwas zu sehr aus der Reserve gelockt, denn bitterböse vergruben sich seine Finger in meinen Kragen, sodass er mich mit Schwung wegschubsen könnte. Doch wie jedesmal unterschätzte er mich deutlich.
Reflexartig drehte ich mich einmal, schnappte dann nach seinen Armen, um sie hinter seinen Rücken zu kreuzen und presste ihn mit meinem ganzen Gewicht bäuchlings gegen die nächste Wand. "Wag es ja nicht, mich so anzufassen. Und lass mich mit deinen ganzen Weibergeschichten in Ruhe, sie interessieren mich nicht. Das einzige, was sie tun, ist zu nerven. Hast du gehört? Such dir woanders deine unschuldigen und erfahrenen Lämmer, mich kotzt dieses Schauspielgehabe von dir so an", raunte ich ihm wütend ins Ohr, bevor ich ihn los ließ, meine Haare richtete und weiterlief.
"Ich kann das machen, was ich will. Du bestimmt rein gar nichts über mich!", bellte er mir hinterher, immer noch darauf bedacht, nicht allzu laut zu sein.
Wie gestern zeigte ich meine Hand nachhinten mit meinen ausgestreckten Mittelfinger.
Der konnte mir dreimal den Buckel herunterrutschen, war doch klar, dass er nie etwas beherzigte.
Wenn ich nur daran dachte, wie seine dreckigen Pfoten über die Haut von Cassandra wanderten, stieg mir schon die bittere Galle hoch.
Widerlich.
Ich schulterte gestresst ausatmend meinen Rucksack, um mich endlich zu meiner ersten Unterrichtsstunde aufzumachen.
Technik mit Mr Kale.
Das, was man sich an einem Mittwochmorgen sehnlichst herbeiwünscht. Trotzdem immer noch besser, als sich mit gewissen anderen Problemen herumzuschlagen.
Als ich den Raum betrat, natürlich ohne anzuklopfen, Höflichkeit kam mir heute nicht in den Sinn, würdigte mir Mr Kale, der mit der Kreide an der Tafel irgendeinen Motor an der Tafel kreierte, keinen Blick.
Er kannte es nicht anders von mir, es wäre für ihn ein weiteres Weltwunder, sollte ich mal pünktlich in seinem Unterricht aufkreuzen.
Da ich schon am Anfang des Schuljahres nicht pünktlich gewesen bin, wie ich es mir eigentlich für einen perfekten Platz in der hinteren Reihe zum Dösen vorgenommen hatte, musste ich mich seit Wochen nun schon in die erste Reihe, links, neben Sandy Parker quetschen.
Sandy war... Sandy war vollkommen okay. Vielleicht ein bisschen zu füllig in ihrem Alter und sie musste aufpassen, dass sie später nicht noch Probleme mit den Knochen bekam, aber rein menschlich war sie absolut cool drauf und von Technik hatte sie wirklich Ahnung.
Ich wusste, dass viele Mädchen darauf eifersüchtig waren, dass ich mich gerade neben sie gesetzt hatte, auch wenn noch mindestens drei andere Plätze frei gewesen wären, aber ich brauchte ab und zu mal bodenständige und keine abgehobenen Menschen um mich herum.
Außerdem war mir auch bewusst, dass Sandy, seit ich mich bei ihr niedergelassen habe und ab und zu mit ihr in den Pausen auf den Gängen kurz ein paar Worte austauschte, mit Mobbingattacken in Ruhe gelassen wurde.
Die Gefahr, dass sie sich dann mit mir anlegen mussten, war anderen zu groß und ein Grund mehr für mich, Sandy zu unterstützen.
Selbst wenn viele dachten, dass ich sie mit ihren Erklärungen zum Unterrichtsstoff nur ausnutzte. Das war mir tausendmal lieber, als das sie die anderen Gründe wüssten.
"Na? Auch mal geschafft?", begrüßte sie mich von einem Ohr zum anderen strahlend, als ich mich auf meinen Stuhl sinken ließ. "Bevor ich es vergesse. Wir schreiben nächste Woche einen Test, das hat er gerade angekündigt."
"Oh, okay, danke." Ich werde mir das eh nicht merken, aber nett von ihr, mir das zu sagen.
Die nächsten Minuten vergingen recht schnell. Ich musste wie so oft zugeben, dass ich die Technikstunden trotz langweiligen Stoffs ein wenig mochte, alleine, weil Sandy neben mir hockte und jegliche Familiendramen erzählte, die mich immer wieder zum Lachen brachten. Der Unterrichtsschluss der beiden Stunden kam schneller als erwartet und so befand ich mich wieder auf den Weg zum Geschichtsraum, weil Ace und Adam sich dort mit Adrian, Leandro und mir treffen wollten.
Hoffentlich gingen wir in die Mensa, ich hatte jetzt schon wieder einen Bärenhunger.
Fast hatte ich vergessen, warum ich heute Morgen nochmal so wütend auf meinen Bruder gewesen bin, doch als ich ihn wieder dicht an Cassandra vor dem Raum stehen sah, fiel es mir wieder ein.
Keine Ahnung, wie oft ich an diesem noch nicht lange andauernden Tag meine Augen verdreht hatte. Fakt war, ich tat es schon wieder.
"Ich will keinen Vortrag machen", hörte ich Cassandra schon von Weitem maulen.
Vortrag?
Adrian grinste sie breit an, er erinnerte mich an einen kleinen Jungen, der sein Lieblingsspielzeug wieder entdeckt hatte. "Wir müssen ja nicht nur Fakten von Martin Luther King kopieren, sondern können ja auch noch etwas anderes machen."
Etwas anderes machen?
Etwas überrascht schaute sie zu ihm hoch.
Da haben wir es, das unschuldige, verträumte Lämmchen, fast schon fest in den Fängen des lechzenden Wolfes geraten.
"Nur, wenn du natürlich willst", bearbeitete mein Bruder sie weiter und beugte sich vor, um - um ihr auch noch eine Haarsträhne hinter ihr Ohr zu streichen.
Meine Güte, jetzt ging er aber auf das Ganze.
"Vielleicht können wir danach ins Kino gehen - oder wir schauen uns Filme bei mir an, kochen könnte ich auch." Er lächelte sie wieder in seiner ekligen flirty Art an. "Du musst mir nur sagen, was du willst, Lovely."
Würg.
Der kann nichtmal kochen. Oder will er ihr angebrannten Milchreis servieren?
Ich schmiss mir einen Kaugummi in den Mund und kramte mein Handy heraus, ehe ich für sie antwortete.
"Ich will, dass es aufhört, Lovely", äffte ich ihn nach, dabei kaute ich nun auf meinem Kaugummi herum und sah auf mein Handy. Irgendwann musste ich ja mal diese ganzen unbekannten Nummern und angefangenen Chats von bitter verzweifelten Mädchen löschen.
Vielleicht war ich ja doch ein größerer Arsch als mein Bruder.
Ignoranz tat manchmal genauso weh wie mit jemanden rücksichtslos herumzuspielen, in dem Sinne war ich eventuell auch nicht besser als er.
"Bist du Lovely?", fragte mich Adrian entnervt, ich wette, er kotzte im Innern schon wieder über meine Anwesenheit und dass ich Cassandras Aufmerksamkeit auf mich zog. Ich bekam genau mit, wie sie mich durchdringend begutachtete.
"Nein, Adraela", antwortete ich nur monoton zurück. "Können wir dann jetzt zur Mensa? Ich hab Hunger auf ein Hähnchenschnitzel."
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