Kapitel 2
— Rayan —
September
Nichts war ekstatischer als der Geschmack von einem 5.000 Dollar Mitcher's Celebration Sour Mash Whisky auf Rayans Zunge. Dies war etwas, was er an den Amerikanern sehr mochte: Diese genüßliche Zusammensetzung eines Whiskys. Nichts war ansehnlicher als die im Sonnenlicht orangen strahlende, fast schon goldene Flüssigkeit, die ihn zwar nicht an etwas malerisch-poetisches wie den Himmel in seiner Heimat Dubai denken ließ, dafür aber an die daher stammenden 100er Scheine der Währung Dirham. Kein Gold war ihm lieber als die goldene Umfassung des Flaschenhalses und dies mag was heißen, aus dem Munde des Erben eines Juwelierimperiums. Er war, um es simpel zu fassen, ein Liebhaber des gehobenen Alkohols und würde sich gerne ein Künstler der Spirituosen nennen lassen, selbst wenn man ihn als einen Hedonisten abtun würde. Außerdem, was war schon so dramatisch an dieser Betitlung? Ein wenig Carpe Diem würde niemandem schaden und Rayan half es stattdessen sein Genie zu inspirieren. Er hatte definitiv die Seele eines Künstlers, wie er stets zu sagen pflegte, doch im Kontrast dazu hatte Gott – wo auch immer er war – ihn mit der Brillanz eines Quantenphysikers gesegnet. Daher war die Materie des Rayan Malak Nassars aus genau zwei Komponenten gebildet worden: Dem Alkohol und dem Durst danach, das ganze Universum auf Grundlage der Quantenphysik neu zu formen.
Nun, er hörte tatsächlich oft, dass er größenwahnsinnig war, aber am Ende des Tages war Rayan nicht der Schuldige, sondern das Universum selbst, dass es Rayan mit so vielen Fragen zurückließ.
Er hatte mit seinen zwanzig Jahren auf dieser Welt gelernt, dass die Erleuchtung, die er stets insgeheim suchen, aber in keinem Lehrbuch finden würde, in dieser physischen Welt wohl nie für ihn erreichbar sein würde. Dass sein Durst, ultimativ, nie gestillt sein würde und er sich im Anschluss dieser Metapher noch nicht mal als ein verdurstender Mensch verstand, sondern als ein kleiner Fisch, gestrandet, ohne Kraft zurück in das Meer zu kommen, um zu überleben.
Dies war zumindest der Fall bis Rayan seine ganz persönliche Supernova traf, ein kurzzeitiges, helles Aufleuchten eines massereichen Sternes – und dies in dem Gehirn von Marigold Williams.
Oh ja, Rayan liebte Alkohol, doch er lebte von der Physik und er hasste den Winter in Vermont, doch er brauchte das Wissen hier, und er war ein Genie, doch er wusste, sein Repertoire, um die Quantenphysik zu revolutionieren, sei erst mit dem Köpfchen von Marigold vollständig ergänzt. Diese Erkenntnis traf er im zweiten Semester, als Marigold vor ihm in einem Seminar über den Werdegang von Stephen Hawking – möge er in Frieden Ruhen – saß. Hawking selbst war ein Alumni der Universität gewesen und hatte kurz vor seinem Tod noch eine Arbeit als finale Hingabe für die privaten Archive Memoria geschrieben. Marigold Williams, das Mädchen, oder wohl eher die junge Frau, die ihm noch nie zuvor aufgefallen ist und die er unter den wenigen Schülern seiner Physik Vorlesung des ersten Semesters noch nie gesehen hatte – dies war wahrscheinlich seine eigene Schuld – saß nun plötzlich vor ihm, in diesem Seminar, und zeichnete auf eine Serviette ein mögliches Strukturmodell von dunkler Materie.
Um die Tragweite dieses Erlebnis zu verdeutlichen, sollte gesagt sein, dass dunkle Materie sehr spärlich erforscht ist und womöglich größtenteils innerhalb der Räumlichkeiten dieser Institution, versteckt vor den Augen der Welt. Nun, auf das Thema der geheimen Forschung, die die Universität in den Tiefen des Landes durchführte, solle Rayan womöglich auch noch zu sprechen kommen, doch er hatte es nicht so mit Kleinigkeiten – und besonders nicht mit denen, die ihn in einen moralischen Engpass brachten. Einen anderen Engpass seiner Wenigkeit, dieser einer seiner Gedanken, neuer Ansätze, wenn er an einer höchst komplizierten Stelle festsaß und verzweifelte, und der Muse, war gelöst, als er Marigold Williams erblickte.
Dies hatte er zumindest erwartet. Alles lief jedoch anders, als er nach dem Seminar an dem Türrahmen angelehnt auf Marigold wartete, um sie abzufangen. Er lehnte dort, als läge das ganze Gewicht des Universums auf seinen Schultern und er müsste sich kurz abstützen, nur weil die Tragweite seiner Brillanz an manchen Tagen so schwer wog. Die obersten Knöpfe seines weinroten Hemdes standen offen und seine verwuschelten dunklen Locken trugen durchgehend die Erinnerung an ein Schlafzimmer mit sich. Er grüßte viele Kommilitonen noch flüchtig mit einem strahlenden Grinsen, doch eigentlich hatte er gar keine Aufmerksamkeit für diese, lediglich für das Mädchen in dem Rollkragen, karierten Rock und mit Mary Jane's an den Füßen. Sie hatte goldenes Haar wie ein Engel, doch zerwühltes wie das einer Hexe. Ein wenig Charme war alles, was er brauchte, dachte er.
Als Marigold sich die braune Cambridge Satchel Tasche umschlang und die Treppe zum Ausgang hinunterkam, schob Rayan sich ein Stück weiter in den Eingang und schenkte Marigold – deren Namen er noch gar nicht kannte – ein charismatisches Grinsen. „Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?"
Der Tag nahm eine Wendung, als dieses komische Enigma sich entschuldigend an ihm vorbeiquetschte und ihn mehr als verdutzt in dem nun leeren Raum zurückließ. Was war ihm soeben widerfahren? Seine Augenbrauen waren leicht gekraust – etwas, das er normalerweise nie tun würde, denn es führte zu Falten – und sein Mund stand einen atemlosen Spalt offen. Dies war... Gut, es war... Also dies war unerklärlich! Und nein, er war definitiv nicht gekränkt, definitiv! Aber es war doch erschütternd, wie inkonziliant Menschen heutzutage sein konnten! Nach dieser destruktiven Interferenz von Marigolds Materie mit seiner (der überlegenden, möge er hinzufügen) nahm er sich einen Moment, um Fassung zu gelangen und verließ den Raum, aber nicht ohne einen ausgefeilten Plan bereit zu haben.
3 Tage und 3 Gläser Nolet's Gin jeden Abend später, starrte Rayan Marigold über drei Sitzreihen hinweg an. Möge er sich sonst fröhlich verhalten, lag nun ein stoischer Ausdruck auf seinem Gesicht. Dazu war er verkatert, aber er war sich mit ganzem Herzen sicher, das waren Nebenwirkungen, die die Präsenz von Miss Williams auf ihn hatten. Sie war so... merkwürdig, fand er sich wieder einmal dabei zu denken. Es fing schon dabei an, wie sie auf das Ende ihres Bleistiftes biss, wenn sie nachdachte und ging weiter bei ihren Lippen. Rayan mochte es die Lippen von seinen Mitmenschen zu betrachten, aber nicht wenn sie ständig auf ihnen herumkauten und er jeden Moment Angst haben musste, gleich Blut sehen zu müssen! Sie hatte goldenes Haar wie das eines Engels, aber dieser musste aus dem Himmel gefallen und in einem Kampf mit einer Hyäne verwickelt worden sein! Wie konnten Haare sonst so schrecklich ungebändigt enden? Des Weiteren lag die Frage offen, ob sie denn wirklich einen Faltenrock in jeder Farbe besaß und ob denn auch wirklich jeder einzelne kariert war. Sie hatte eine ungesunde Obsession, er war sich sicher. Oder war er etwa derjenige, mit der ungesunden Obsession?
Das war weit hergeholt. Rayan war kein obsessiver Mensch. Er vergaß Gesichter schneller als Fliegen. Nichts war mehr Weißes Rauschen für ihn als Gespräche. Er war, alles in einem, eine Person mit einem sozialen Händchen und sicherlich auch einem daraus resultierenden kurzzeitigen Glücksgefühl, aber am Ende des Tages, war das Einzige, für das Rayan wahrlich obsessiv war, die Physik und dafür brauchte er Marigolds Gehirn. Nicht mehr und nicht weniger. Er wünschte für ein wenig wissenschaftliche Gesellschaft, Genialität und Rechnungen, die ihn bei Laune halten würden. Dies war nicht zu viel verlangt. Es war ein Grundbedürfnis. Er betrachtete sie nun eingehend und das Einzige, das ihn einigermaßen bei Laune hielt, um hier sitzen zu können, war der Gedanke, dass er Maßnahmen getroffen hatte, um seine Grundbedürfnisse erfüllt zu sehen.
Die Stimme der Professorin drang im genau richtigen Moment durch Rayans Gedanken hindurch. „Die Arbeit an dem Thema der Seele nach dem Tod in der Physik geht für den Rest des Semesters an Mr. Nassar und Miss Williams. Damit sind alle Themen zugeteilt. Kontaktieren Sie Ihren Arbeitspartner und erstellen ein Literaturverzeichnis, das Sie innerhalb der nächsten zwei Wochen an mich zur Überprüfung leiten. Gutes Gelingen."
Es war ein bezauberndes Erlebnis, als Marigolds Augen sobald ihr Name bekannt gegeben wurde weit aufgerissen zu Rayan hochschossen. Also kannte sie ihn doch!
Er begrüßte sie über die drei Sitzreihen hinweg mit einem Grinsen.
Das hier würde einfach grandios werden.
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