Kapitel 1
— Henry —
Der 1. Januar
Der menschlichen Seele liegt ein immanentes Leiden, ein Weltschmerz, inne, von dem Henry Godwin Grey schlichtweg nicht betroffen war. Dies war der Grund, warum man ihn leicht mit einem Gott verwechseln konnte. Er war unberührt von Saudade, Defätismus, Eskapismus. Diese tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt? Der Schmerz über die Vergänglichkeit irdischer Herrlichkeit? Diese Lebenswehmut nach Thomas Mann? Der Earl Henry Godwin Grey und zukünftiger Duke of Astor könnte sich nicht weniger darum sorgen.
Und während er dies nicht tat, schien er wie ein Gott. Von der Art, wie er sich kleidete, bis zu der Weise, wie er sprach. Er sah so aus, definitiv; Das dunkle Haar und der noch dunklere Blick, Augen grün wie die einer Schlange. In selbst dem trivialsten Moment, wenn seine Hand nachdenklich über seinen maskulinen Kiefer streifte. Er hatte ein Dasein, das man mit Omnipräsenz vergleichen konnte. Eine Rederhetorik, die schwer zu schlagen war. Er war kalt und berechnend, ein britischer Gentleman, wenn einer benötigt wurde und verpflegte über die perfekte Etikette. Er war – anders konnte man es nicht sagen – ein Meister der Philosophie, des Schachs und des Jagdkalibers.
An manchen nebeligen Morgenen, wenn er gerade sein Hemd zuknöpfte, angeschienen von dem kalten Zwielicht durch das Fenster, fragte er sich mit abgeklärtem Blick auf die Wälder Vermonts tatsächlich: Was braucht es, ein Gott zu sein?
Nun war klar, der Mord an seinem Freund Graf Augustus van Foreest hatte nichts mit einem Gott zu tun, sondern viel mehr mit einem Menschen, der versuchte, ein Gott zu sein.
„Lord Grey, wir sind bereit für Sie.", erklang die Stimme des Polizisten der lokalen Wache dieses kleinen verborgenen Ortes am Ende des Korridors. Henry ließ sich Zeit aufzustehen, ehe er im kalten Winterlicht den Korridor anmutigen Schrittes hinabging, ohne seine sitzenden Kommilitonen Azadeh Zare, Marigold Williams, Rayan Nassar und Sergej Morosow auch nur einen Blick zuzuwerfen.
Als er durch die Tür des Raumes schritt, bohrte sich das Augenpaar des Polizisten in sein Profil, der einen Hass zu pflegen schien, seine Zeit mit einem Aristokraten verbringen zu müssen. Wie gut, dass das hier dann nicht lange dauern wird, dachte Henry und widmete ihm keines Blickes. In diesem Raum der Universität, der anscheinend zu einem Befragungsraum umfunktioniert wurde, erwartete ein weiterer Polizist Henry, jünger als der erste. Der erste Fünfizig, der Zweite Mitte Dreizig. Bad Coop, Good Coop. Der Earl setzte sich mit dem jüngeren Polizisten an den Tisch, während der andere grimmig vor den Fenstern stand und ihn berechnend beobachtete.
„Guten Mittag, Lord Grey. Mein Name ist Rhodes. Ich werde Sie zu Beginn der Investigation Ihrer Rechte informieren.", sagte der Mann vor ihm scheinend neutral, aber mit einem leichten Zittern am Ende seiner Stimme, das Henry ohne viel Mühe schnell ausmachte, und einem dünnen Schweißfilm auf seiner Stirn, obwohl es bei diesen Temperaturen selbst in den Räumlichkeiten kühl war. In der Tat nahm Henry noch viel mehr wahr und ließ die Mandela Rechte, die Rhodes auflistete, an sich hinab prasseln, da er das US-amerikanische Rechtswesen bereits in seiner Jugend studiert hatte.
Nun, bezüglich seiner Auffassungsgabe; Er befand sich in einem zwölf Quadratmeter großen Raum im Westflügel, mit zwei Fenstern, die auf den Wald und einen Teil des Studentenwohnhauses blickten. Es schwebte eine Zigarettennote in der Luft, ausgehend von dem mürrischen Polizisten und daneben lag noch, wenn er das erwähnen durfte, eine Spur Unprofessionalität in der Luft, denn wirklich? Diese zwei Beamten hatten noch nie an einem Mordfall oder etwas nur derartigem gearbeitet. Rhodes knibbelte an seiner Nagelhaut, sichtlich gestresst. Der andere Polizist, nun, während seine hasserfüllte Agenda zu erkennen war, war es nicht die Weise, wie er mit diesem Fall umgehen würde, aber Henry wusste, beide Polizisten würden noch heute von diesem Fall abgezogen werden. Es war schon ein Wunder, dass sie es überhaupt bis hierhin geschafft hatten, aber nun gut, der ganze Norden Vermonts, eingeschlossen der Universität, befand sich schon seit drei Tagen in einem tobenden Schneesturm von alarmierender Stufe und selbst das FBI konnte es in der Mitte eines Schneesturmes nicht in wenigen Stunden hierhin schaffen. Es gab keinen Hubschrauberplatz, alle Straßen waren zu und nur diese zwei erbärmlichen Polizisten hatten es von der Polizeiwache drei Kilometer entfernt mit einem Motorschlitten und viel Willenskraft hierher geschafft. Wurde die Leiche von Augustus in Mitte der von Schnee verwüsteten Wälder überhaupt schon erfolgreich geborgt?
All das lief innerhalb 3.1 Sekunden in Henrys Kopf ab, aber er würde dem Ganzen und dem Leid seines Gegenübers schon gleich ein Ende setzen. Nur für einen kurzen Moment lehnte sich Henry in seinem Stuhl zurück und genoss das weiße Rauschen, die Ruhe vor dem Sturm, vielleicht vor dem echten Spaß. Er saß dort – ordentliches schwarzes Haar, makelloses weißes Hemd – als ein griechischer Gott, aber oh, wie sie nicht wussten, dass sich eine ganz bestimmte Schlange aus dem Garten Eden vor ihnen befand. Alles an seinem Aussehen war perfekt wie immer, außer einer Kleinigkeit. Einem Störfaktor, der an Henrys Wahrnehmung kratzte und seinem Abbild etwas der Göttlichkeit wegnahm. m
Um all diese Lethargie zu beenden, fügte er Rhodes Auflistung seiner Rechte an: „Wie Sie bereits vorschlugen, möchte ich meinen Anwalt hinzuziehen." Er schenkte einen Blick auf seine vererbte Patek Philippe Armbanduhr, ehe er wieder aufsah und beschloss: „Sir Alfred Laurier, den Kronanwalt der Queen." Henry stand bereits auf und lockerte die Knöpfe seiner Hemdärmel, während Rhodes verunsichert zu seinem Kollegen zurücksah. Seine Verunsicherung war berechtigt. Schließlich würde Henrys Anwalt erst in, was? Unter Berücksichtigung seines Fluges von London in die USA, seines Weges nach Vermont und schließlich durch einen Schneesturm bis zur Universität, in maximal vier Tagen als frühsten Zeitpunkt hier angelangen? Bis zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Beamten schon längst vom Fall abgezogen und selbst die Arbeit des FBIs würde noch in Verzögerung kommen. Mit einem letzten überlegenen Blick und einer angehobenen Augenbraue nickte er den Polizisten zu und verließ ohne Widerspruch den Raum.
Das kalte Winterlicht strahlte ihn von der Seite an und es war sicher; Diese Investigation war ihm wie so vieles unterlegen. Er hatte all dies angefangen, hatte er das nicht? Selbst wenn er nach der sozialen Norm kein überaus guter Mann war, war er doch ein nobler und als dieser würde er sicherstellen, dass alles makellos und schmerzfrei über die Bühne lief. Sobald er aus dem Blickfeld der Polizisten verschwunden war, wischte Henry sich den Makel, jenen Störfaktor, der zuvor so an seiner Wahrnehmung genagt hatte, von dem teuren italienischen Leder seiner Oxford Schuhe. Ein purer Tropfen roten Blutes, nicht mehr.
Mit einem für ihn unnatürlichen Lächeln richtete er sich auf. Diese Mordinvestigation bedurfte mit einer präzisen Hand, seiner Hand, auf den richtigen, oder wohl viel mehr den falschen Weg geführt zu werden.
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