10 - Der Familientisch
Für meinen Geschmack standen wir viel zu schnell vor der Haustür dieser Holzhütte.
Ein riesiger Kranz aus Tannen und Tannenzapfen hing an der Eingangstür. Ich zog meine Augenbrauen nach oben und mein Onkel tat es mir zeitgleich nach. "Wieso hängt denn dieser Kranz eigentlich immer noch hier? Weihnachten ist doch schon lange vorbei, ist mir letztens schon aufgefallen."
Jona seufzte. "Du kennst doch Cassie. Sie liebt Weihnachten und sie liebt Tanne. Sie tauscht diesen Kranz wahrscheinnlich regelmäßig aus, ehe er anfängt zu nadeln."
"Sie weiß aber schon, dass Ostern eigentlich vor der Tür steht?", hakte Ace nach.
"Ja, auch das weiß sie. Wahrscheinlich wird sie bald einen Türkranz aus geflochtenen Weidenzweigen statt der Tanne anhängen. Ich denke, dass wir nächste Woche uns ganz persönlich davon überzeugen können."
"Nächste Woche?", schnappte ich auf.
Mein Onkel sah zu mir herüber. "Wir essen regelmäßig zusammen Abendbrot."
Regelmäßig?
Ich hätte am liebsten laut frustriert aufgeschrien.
Das kann doch nicht wahr sein...
Jona klopfte gar nicht erst, sondern zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervor, steckte ihn in das Schloss, drehte ihn und zog dann die Tür auf. "Hereinspaziert", grinste er uns an.
"Warum hast du einen Schlüssel?", blinzelte ich ihn an.
Er zog die Schultern hoch. "Warum nicht? Sowas nennt man VIP-Sonderstatus."
Das entlockte mir dann doch ein Lächeln, auch wenn es mir nicht so recht passte. Mein Onkel legte mir einen Arm über die Schultern und führte mich in das Innere des Holzhauses. Es roch hier schön, unter anderem nach Nadelwald, nach gebackenem Käse und nach... Seife. Nach herber Seife.
Der Flur bestand nur aus Holzmöbeln - ähnlich wie bei meinem Onkel im Haus - und es war mindestens genauso leicht chaotisch. Das Schlüsselbrett quoll halb über, das Schuhregal ging nur noch zur Hälfte zu und an etwas wie einem Notizbrett waren die Zette wild durcheinander geordnet - als Sahnehäubchen saß eine Katze auf der Garberobe direkt neben mir.
Jona, der gerade die Tür hinter sich schloss, folgte meinen Blick, der direkt auf die schneeweiße Katze gerichtet war. "Das ist Robin. Robin Hood."
"Robin Hood?", wiederholte ich ungläubig. "Was ein... sonderbarer Name für eine Katze. Aber auf jeden Fall ein schöner Name."
"Das freut mich, wenn dir der Name gefällt", erklang eine tiefe Stimme irgendwo vor mir.
Ich drehte den Kopf in die Richtung und erblickte einen Mann, der niemals seinen Sohn verleugnen könnte. Die gleichen wilden schwarzen Locken, die exakt selben hellen Augen und dieselben kantigen Gesichtszüge. Als er nun einen Mundwinkel anhob, war ich mir sicher, dass Charon in der Vergangenheit geklont sein musste.
Wie bitte sonst konnten sich Vater und Sohn eins zu eins gleichen?
"Du bist also Lavender, die Nichte von Ace und Jona", begrüßte er mich und streckte mir dann seine Hand hin, die ich artig ergriff. "Ich bin Adrael. Der Mann von Jonas Cousine und der Besitzer von Robin Hood. Herzlich Willkommen in der Einöde Brokenville."
Bei seiner Begrüßungsrede konnte ich nicht anders als zu lächeln. "Freut mich auch." Charon konnte sich defintiv so Einiges von seinem Vater abschauen, was Sachen wie Höflichkeit betraf.
"Wenn dir die Einöde so langweilig ist, warum bist du dann nicht weggezogen?", konterte Ace belustigt, um Adreal dann mit einem Handschlag zu grüßen.
"Ganz einfach", Adrael schlug darauf bei Jona ein, ehe er sich mit der Hüfte an den Schuhschrank lehnte. "Es gibt keine bessere Einöde für Cassie."
Jona verdrehte die Augen. "Natürlich."
"Und außerdem", Adrael erhob seinen Finger. "Ihr seid ebenfalls hergezogen - also kann die Einöde vielleicht doch nicht so schlecht sein. Oder werden." Er lachte über seinen eigenen Witz, ehe er sich umdrehte. "Und bevor ihr hier noch im Flur Wurzeln schlagt, gehen wir am besten zum Tisch. Die Lasagne ist fertig."
"Uhhh", Jona rieb sich die Hände. "Ich hoffe, Cassie hat nicht nur eine Lasagne gemacht."
Adrael lachte erneut. "Na sag mal... wo denkst du denn hin. Mein Sohn isst doch schon fast alleine eine Lasagne auf, da bleibt ja dann gar nichts mehr für uns."
"Er ist so ein Vielfraß", brummte Ace, musste aber grinsen.
Ich ließ die Männer vorlaufen und nutzte sie als Art Schutzschild auf. Aus meinen Augenwinkeln erkannte ich einen weißen Schatten, der mir folgte. Als ich stehen blieb, blieb dieser Schatten auch stehen. Als ich weiterlief, folgte mir der weiße Schatten. Lächelnd guckte ich herunter zu Robin, der mit seinen großen süßen Augen gleich darauf zu mir hochschaute. "Wie süß bist du denn?"
"Er denkt, dass du Leckerlis hast."
Mein Kopf ruckte hoch.
Zu meiner rechten stand eine zierliche Frau, vielleicht sogar einen halben Kopf kleiner als ich - hieß jedoch nicht, dass sie klein war, ich war einfach sehr groß - und lächelte mich breit an. Sie hatte platinblonde Haare, genau wie Jona und dunkelblaue Augen. Wie Jona.
Auch ihre Verwandschaft konnten sie also nicht verleugnen.
"Ahc ähm.. hallo", stammelte ich und ärgerte mich gleich, dass ich so unsicher klang. Aber bei Leuten in dem Alter wusste ich irgendwie immer nicht, wie ich reagieren sollte und sie hatte mich auch ziemlich erschreckt.
Beherzt trat sie dennoch auf mich zu. "Hallo Lavender, ich bin Cassie. Die Cousine von Jona. Ich hoffe, du hattest eine gute Anreise. Ach und ich hoffe, dass du Lasagne magst."
Nun bogen sich doch meine Mudnwinkel nach oben. "Ich liebe Lasagne."
Sie schien noch mehr zu strahlen. "Dann passt du schonmal perfekt an unseren Familientisch. Geh ruhig schon zu den anderen, ich bin gleich da - ach und Robin kannst du gern nachher mal ein Leckerchen geben. So schließt man am besten Freundschaft mit ihm."
Ich gluckste. "Alles klar, dann merke ich mir das mal für später."
Cassie betrachtete mich noch kurz lächelnd, ehe sie herumwirbelte und aus meinem Sichtfeld verschwand. Ich hingegen folgte den Stimmen am Ende des Flures und wurde zunehmend nervöser.
Wie soll ich mich verhalten, wenn Charon gleich auftauchte? Soll ich normal sein? Soll ich so tun, als würde ich ihn nicht kennen? Oder soll ich mich nochmal vorstellen? Soll ich ihn knapp begrüßen und den Rest des Abendes ignorieren? Wie wird er sich verhalten?
Fragen über Fragen, Gedanken über Gedanken.
Schließich kam ich, bevor ich den nächsten Raum betrat, zum Schluss, dass ich eh nichts unter Kontrolle hatte. Die Kontrolle hatte sich mir schon entzogen, als mein Mini auf der Herfahrt stehen geblieben ist.
Also schritt ich über die Türschwelle - sogleich tat sich ein großer Raum vor mir auf.
Zu meiner rechten Seite befand sich eine riesige Couchlandschaft in einer U-Form, direkt ausgerichtet auf einen Fernseher, der größer als eine Tischplatte war.
Zu meiner Linken stand ein Familientisch, den man ohne Zweifel als Rittertafel bezeichnen könnte. Er war sehr lang gezogen und es standen viele Stühle um ihn herum, was wohl darauf hindeutete, dass hier öfter in größeren Kreisen gegessen wird. Direkt hinter dem Tisch waren mehrere bodentiefe Fenster in die Wände eingelassen, die wohl einen Blick nach draußen in den Garten garantierten - allerdings jetzt durch die spiegelnde Innenbeleuchtung verwehrt wurde.
"Hier Lavender, setz dich", Adrael zog mir einen Stuhl hin. "Und dann hoffe ich, dass du Hunger hast."
"Ohja, großen Hunger", bestätigte ich ihm und nahm dankend Platz.
In diesem Augenblick kam Cassie in das Wohnzimmer mit einer dampfendem Form, die sie zu den anderen drei großen Lasagne-Formen stellte. "So, dann wollen wir mal essen."
"Gern", Adrael wollte sich hinsetzen - hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne. "Wo ist Charon?"
Ich biss mir auf die Lippe. Nun war es einhundert Prozent offiziell, dass er auch hier wohnte. Und dass er mit uns essen würde.
Cassie setzte sich in aller Seelenruhe an den Tisch zu Jona und Ace, die schon beide mit geriebenen Hände auf das Essen geierten. "Er ist vorhin nochmal in die Werkstatt gefahren."
Adrael zog die Augenbrauen zusammen. "So kurz vor dem Essen?"
"Er meinte, er müsse noch was holen."
Als würde Adrael sich eins und eins zusammenreimen, hellten sich seine Gesichtszüge auf. "Ah... verstehe."
"Was verstehst du?", neugierig beugte sich Jona zu ihm vor, da er genau gegenüber von Adrael Platz genommen hatte. Cassie gegenüber von meinem Onkel und ich genüber von einem... leeren Stuhl.
Verdammter Mist, musste ich wirklich gegenüber von Charon sitzen?
"Ach, er schraubt ständig an diesem einen Motorrad herum", antwortete Adrael abwinkend. "Es ist für ihn wie meditieren."
"Wenn er sagt, er müsse noch was aus der Werkstatt holen, weil er was vergessen hat, heißt das übersetzt nichts anderes, als dass er nochmal an dem Motorrad herumtüftelt", erklärte ihm Cassie. "Das ist seine neue Leidenschaft. Meist fällt ihm noch irgendwas ein und dann will er es gleich in die Tat umsetzen."
"Aber hat er jetzt nicht ganz frisch mit seinem Studiengang angefangen? Vielleicht hilft ihm die Theorie dort sehr weiter, um es gleich im Alltag und bei seiner Arbeit zu nutzen", wandte mein Onkel ein, während er sich den Auffüller für die Lasagne schnappte.
"Gut möglich", entgegenete Adrael und tat Cassie im gleichen Moment ein reisiges Stück Lasagne auf. "Aber seine aktuellste Leidenschaft ist der Unisport."
"So? Das ist mir neu", mischte sich Jona ein. "Ist er etwa in einer der Unimannschaften aufgenommen worden?"
Adrael nickte stolz. "Ja."
"Spielt er jetzt Baseball zusammen mit Easton?", fragte mein Onkel sogleich.
Cassie schüttelte den Kopf und seufzte. "Nein. Er hat sich natürlich für einen gefährlicheren Sport entschieden."
"Football", Jona grinste. "Oh ja, das passt sehr gut zu ihm. Welche Position spielt er?"
Adraels Brust schien vor lauter Stolz regelrecht zu zerplatzen. "Er ist auf so vielen Feldpositionen in der Offensive Line gut, dass man nicht weiß, welche man ihm fest gibt."
Jona wurde immer interessierter. "Welche sind in der engeren Auswahl?"
"Quarterback und Wide Receiver." Adrael hievte das nächste Stück Lasagne heraus und bedeutete mir, dass ich ihm meinen Teller reichen soll. "Entschuldige Lavender. Du hättest als Ehrengast das erste Stück hausgemachte Lasagne erhalten sollen. Dafür hast du was gut."
Ich hob die Hände und lachte verlegen. "Ach, das passt schon. Alles gut-" Ein Rumpeln im Flur und das Zuschlagen von einer Tür unterbrach mich.
Adrael ließ beinahe meinen Teller fallen. "Na sage mal... Wir haben keine Haustür aus Panzerglas!", rief er so gleich in den Flur. "Donnerwetter", murmelte er gleich hinterher. "Vielleicht passt die Defensive Line doch besser zu ihm."
Mein Hunger verflüchtigte sich schlagartig, selbst bei dem Anblick dieser leckeren Lasagne, und meine Nervösität stieg.
Mit ihm direkt vor meiner Nase wird das sicherlich kein entspanntes Abendessen, das spürte ich doch jetzt schon...
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro