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Kapitel 1

Kapitel 1

In meinem dunkelblonden Pferdeschwanz haben genau sieben Haare aufgespaltene Enden. Das weiß ich so genau, weil ich sämtliche Haare - und das sind wirklich viele - seit etwa 55 Minuten systematisch sortiere.

Genauer genommen sind es sogar ungefähr 150.000. Abhängig von der Dicke der Haare mal mehr, mal weniger. Das weiß ich allerdings nicht auf Grund meiner in der letzten Stunde durchgeführten Fallstudie, sondern deswegen, weil mein bester Freund Tony - seit heute auch bekannt als "der Verräter" - eine komplette Enzyklopädie für unnützes Wissen in seinem Kopf verborgen hat und es dabei nie versäumt, mich daran teilhaben zu lassen. In meinem Kopf findet sich anstelle eines Lexikons zwar wohl eher ein Sieb, aber wie das nun einmal so ist, bleiben natürlich besonders solche dicken, unnützen Klumpen, die man in den meisten Fällen weder wissen will, noch braucht, darin hängen, während so Dinge wie Mathe und Französisch so kleine, komplexe Fäden sind, dass sie einfach durchrutschen. Mir zumindest.

Prozentrechnung? Dreisatz? Französische Verben? Habe ich irgendwann mal gehört, aber leider direkt wieder vergessen. Die Tatsache, dass ich es jetzt dennoch in die 11. Klasse geschafft habe verdanke ich einzig und allein Tony dem Verräter und dem Umstand, dass er neben seinem fotografischen Gedächtnis auch noch so eine schöne, saubere Schrift hat, von der man so gut abschreiben kann.

Aber zurück zum Wesentlichen: Von meinen ca. 150.000 Haaren haben also genau sieben Stück Spliss. Beziehungsweise aktuell nur noch eins. Ich greife nach meiner Schere und lasse auch das Ende des letzten Verbliebenen zu seinen sechs Leidensgenossen auf meine leere Französischklausur segeln. Dann klappe ich sie mäßig zufrieden zusammen. Diese Überbleibsel meiner DNA sind zusammen mit dem in meiner krakeligen Schrift geschriebenen "Laurel Pierce" der einzige Inhalt, den mein Französischlehrer dort von mir zu Gesicht bekommen wird.

Aber immerhin habe ich guten Willen gezeigt und die vollen 60 Minuten Tortur durchgestanden. Auch ohne Tony. Da sieht er dann ja, was er davon hat - oder besser gesagt, ich. Ein Seufzen entweicht meinen Lippen beinahe simultan zum nervösen Klirren der Schulklingel. Geschafft. Für heute und die folgenden zwei Wochen bin ich in die Herbstferien entlassen. Endlich.

Während ein paar meiner Mitschüler weiterhin um ihr Leben schreiben und unseren Französischlehrer um "nur noch 5 Minuten, bitte bitte bitte" anflehen, schultere ich meine verwaschen-blaue Tasche und husche, an ihr herumnestelnd, aus dem Raum. Kaum habe ich das Gebäude verlassen fällt dieser Druck, der mich in der Schule immer überkommt, von mir ab. Ich bin froh, wenn ich damit fertig bin und mich wichtigeren Dingen widmen kann. Solchen, die man greifen kann. Im Moment nämlich ist das einzige, wonach ich greife, mein kleines, rotes Uraltklapphandy, auf das ich ungeduldig mit den Fingern trippele, während es hochfährt und eine verpixelte Startgrafik zeigt. Kurz, bevor es an ist, spielt es sogar noch eine Art triumphierende Tonfolge; fast so, als ob es stolz wäre, diese Meisterleistung mit der prähistorische Technik, die in ihm steckt, noch geschafft zu haben.

"Hab es überlebt, du Verräter!", schreibe ich Tony, "Ich hoffe, mittlerweile bist du an deiner Mandelentzündung erstickt."

Innerhalb von Millisekunden kommt die Antwort.

"Deine Fürsorge rührt mich. Mit so einem starken Rückhalt steht meiner baldigen Genesung ja nichts mehr im Wege ;)"

Ich grinse, sehe aber davon ab, zu antworten. Im Gegensatz zu Tony kann ich meine Textnachrichten nämlich nicht innerhalb eines Wimpernschlages schreiben, sondern eher so innerhalb von fünfzehn, also, unnützes, tonygeschuldetes Wissen incoming, statistisch gesehen einer Minute.

Froh darüber, dass mein bester Freund seinen Sinn für Humor noch nicht verloren hat, verstaue ich das kleine Handy wieder in meiner Tasche und biege um die nächste Straßenecke.

Wenn ich mit dem Bus fahren würde, wäre ich etwa zwanzig Minuten früher zu Hause. Aber heute scheint die Sonne so schön auf meine Schultern und ich mag es, alles um mich herum in der Zeit betrachten zu können, in der ich möchte. Das Gras, das sich zwischen den Pflastersteinen auf dem Gehweg hervorschlängelt, die schlecht lackierten Zäune vor den Häusern, die Mutter, die vor mir hektisch versucht, ihr kleines Kind, das wegen irgendetwas weint, zu beruhigen, die Blätter an den Bäumen, die mittlerweile in allen Farben des Herbstes erstrahlen und die Vorgärten, in denen bereits erste Halloween-Dekoration aufgebaut ist.

Man kann es wahrscheinlich seltsam oder störrisch nennen, aber ich mag es, den Dingen um mich herum mit meinem eigenen Rhythmus zu begegnen. Und wenn ich dafür zwanzig Minuten länger an der frischen Luft bin, dann schadet das ganz sicher auch nicht. Sollte Tony vielleicht auch mal probieren, dann wäre seine Immunabwehr vielleicht stärker gewesen und er wäre jetzt nicht wegen einer Mandelentzündung zu Hause geblieben.

Er fehlt mir. Schule ohne Tony ist wie Essen ohne Salz, wie eine Blume ohne Blütenblätter oder ein Laptop ohne Tastatur - irgendwie nutzlos und fad. 

Ich entscheide mich dafür, eine Abkürzung durch ein kleines Waldstück zu nehmen. Der Weg führt an einem schmalen, beruhigend plätschernden Bach entlang, dessen moosig grünes Wasser im Sonnenlicht fast wie tausend Edelsteine funkelt, wenn man die Augen leicht zusammenkneift. Wenn das Wetter zu schlecht ist, dann versackt man schnell im Matsch oder rutscht auf dem schlackigen Boden aus, aber an Tagen wie heute, da ist dieser Weg ideal. Ich weiß nicht, wann das Wetter hier umschlagen wird und der milde Herbst sich von einem stechenden Winter vertreiben lässt, wer bin ich da also, mir eine solche Chance entgehen zu lassen? Sofort umfängt mich der sanfte, erdige Waldgeruch, meine Schritte beginnen, auf dem weichen Boden angenehm entschlossen zu klingen und irgendwo in meiner Nähe raschelt ein kleines Tier im Gebüsch. Tony kann ich für solche Wanderungen nicht begeistern, aber ich selbst mache sie gerne. Manchmal habe ich das Gefühl, dass das hier die echte Welt ist, während die, die mir jetzt hinter dichtem Geäst verborgen bleibt nur eine Farce ist, eine Show, die alle spielen aber die niemanden wirklich glücklich macht. Mich zumindest. Ich schüttele den Kopf. Das wird mir jetzt echt zu tiefgründig.

Viel zu schnell erreiche ich das Ende des Waldstückes, durch das ich gegangen bin und schlurfe durch die kleine Siedlung, in der ich schon mein ganzes Leben gewohnt habe. Als ich an Tonys Haus vorbeigehe, werfe ich ihm einen sehnsüchtigen Blick zu. Gerne würde ich jetzt mit ihm über die Französischklausur lästern und über unseren Lehrer und die üble Art, wie er versucht, sich das wenige, verbleibende Deckhaar über die Stirn zu kämmen, aber dann denke ich wieder an seine Mandelentzündung und wie theatralisch Tony manchmal sein kann, wenn er krank ist, wie überfürsorglich seine Mutter. Außerdem beginnt mein Magen langsam zu knurren. Also: Erst essen, dann Tony der Verräter.

Nicht weit von Tonys Haus entfernt befindet sich auch das, in dem ich mit meiner Tante Leigh-Anne lebe seit ich denken kann. Es ist von allem, was die anderen Häuser haben, ein kleines bisschen weniger. Ein kleines bisschen weniger groß, ein kleines (okay, ein großes) bisschen weniger gepflegt, ein kleines bisschen weniger leblos. Die eigentlich mal rote, durch die Sonne aber eher schmodderorangene Farbe platzt und blättert an der Holzverkleidung ab, während der winzige Vorgarten auf den ersten Blick geradezu wüst aussieht. Was zunächst den Eindruck macht, als würde dieses Haus seit Jahren in Vergessenheit geraten sein, entpuppt sich, kaum dass man hindurch geht und einem der Geruch verschiedener Heilpflanzen und Kräuter in die Nase steigt - im Sommer mehr, als jetzt in meiner Herbsterinnerung ... - als kurzsichtiger Trugschluss. Durch langes Gras, das einem an Regentagen die Hosenbeine durchnässt, schlängeln sich fast schon verborgen ein paar abgerundete Pflastersteine, die je nach Wetterlage in einem anderen Grauton schimmern und einem jedes Mal wieder bewusst machen, über was für ein großes Schattierungsspektrum die Farbe verfügt. Ich erklimme die knarrenden Holzstufen, die auf die Veranda führen, ducke mich unter einem Spinnennetz hindurch, während ich gedankenverloren mit einer Hand in meiner Tasche nach dem Haustürschlüssel wühle und bin angenehm überrascht, als mir bereits in der Tür der Geruch nach Kürbissuppe in die Nase steigt. Das meiste, was Leigh-Anne kocht, stammt aus dem Garten hinter dem Haus, der, auch wenn man es kaum glaubt, noch viel verwilderter aussieht, als der davor. Sie hat ein paar Hühner, die es sich dort gemütlich gemacht haben, pflanzt selbst Gemüse an und ist auch, dank ein paar Regenwassertonnen und einem in die Jahre gekommenen Brunnen im Garten was die Wasserversorgung angeht relativ autark. Wohlwollend könnte man sagen, dass sie eine Art Selbstversorgerin ist - böse Zungen würden sie auch als Einsiedlerin mit verschwörungstheoretischen Tendenzen beschreiben. Ich schätze, sie ist irgendwas dazwischen - und außerdem noch alles, was ich habe, seit meine Mom sich kurz nach meiner Geburt das Leben genommen hat. Sie war wohl, genau so, wie Leigh-Anne, ein ziemlicher Freigeist; bloß dass sie im kompletten Kontrast zu ihr den Männern (und Frauen) nicht abgeschworen hat, sondern so viel zwischenmenschliche Beziehungen gesucht hat, wie nur möglich - sodass ich heute keine Ahnung habe, wer die andere Hälfte zu dem Gencocktail beigetragen hat, aus dem ich bestehe.

"Ich bin wieder zu Hause", rufe ich in den Flur, hänge meinen Anorak an den Garderobenhaken und schlüpfe aus den ausgelatschten Turnschuhen, die ich ordentlich neben die Tür stelle. Der Geruch im Haus ist immer ein wenig eigenwillig; eine Mischung aus Patchouli, Weihrauch, verschiedenen Kräutersalben und Tinkturen, von denen immer mindestens eine in Arbeit ist und die meine Tante immer Samstags und Sonntags auf den Wochenmärkten der umliegenden Städte verkauft.

In der Küche steht Tante Leigh-Anne. Sie beugt sich gerade über den Gasherd, auf dem über jeder Flamme eine andere Flüssigkeit in einem Kupfertopf blubbert.

"Laurel", begrüßt sie mich und zieht mich in eine herzliche Umarmung, wie sie es schon mein ganzes Leben lang tut.

"Kann ich dir mit irgendetwas helfen?", möchte ich wissen.

Leigh-Anne bläst sich eine dichte, kastanienrote Haarsträhne aus der Stirn und schenkt mir ein Lächeln, dass ein Labyrinth aus leisen Falten um ihre goldbraunen Augen erscheinen lässt.

"Das wäre super", erklärt sie. "Mason hat angerufen und ich muss dringend los, um da etwas mit ihm zu klären - allerdings kann ich das hier auch nicht einfach so stehen lassen; hier in diesem Topf", sie deutet auf einen kleineren Kupferkessel, in dem etwas schwimmt, das mich entfernt an Ringelblumen denken lässt, "das muss noch 15 Minuten ziehen, bevor du es mit dem Trägerfett vermengen kannst. Allerdings klang Mase, als wär'es dringlich. Wenn es dir also nichts ausmacht?"

Ich schüttele den Kopf, "Natürlich nicht, fahr du ruhig. Ich hab's im Griff."

"Danke", sagt meine Tante, rührt noch einmal nachdenklich im Topf, bevor sie mir einen Kuss auf die Wange drückt und im Flur klappernd nach irgendetwas sucht.

"Leigh-Anne?", rufe ich noch einmal; obwohl wir hier im Prinzip nur zu weit sind, ist es trotzdem nie ruhig im Haus.

"Ja?"

"Wo soll ich es denn reinfüllen?"

Zwischen Tür und Angel erklärt zeigt sie mir die ausgewaschenen Marmeladengläser, die von durchscheinendem Lila sind, dann verschwindet meine Tante auch schon durch die Tür und lässt mich mit der Tinktur, die langsam anfängt zu blubbern, alleine. Hastig drehe ich den Herd wenig herunter. Seit ich denken kann stellt Leigh-Anne diverse Seifen, Salben und Naturkosmetika her, die das gesamte Haus stets mit einem intensiven Geruch erfüllen. Da ich ihr ab und an helfe, weiß ich auch ein bisschen was darüber - aber mein Wissen kann nicht in Ansätzen mit ihrem mithalten.

Vieles davon stellt Leigh-Anne auf Bestellung her und füllt es in ausgewaschene Marmeladegläser und Flaschen, die die Leute vorher bei ihr abgeben. Einiges verkauft sie aber auch auf den lokalen Wochenmärkten. Dort hat sie vor etwa zwei Jahren auch Mason getroffen. Ihm gehört ein Buchladen in der nächstgelegenen Stadt und er war so begeistert von ihrer Arbeit, dass er dort seit einer Weile einiges in einer kleinen Ecke ausstellt. Die Sachen laufen gut, so gut, dass Mase mittlerweile zu einem von Leigh-Annes Hauptabnehmern geworden ist und auch eigene Ideen für neue Erzeugnisse miteinbringt. Er empfindet die gleiche Liebe fürs Detail wie Leigh Anne und wenn er erst einmal Feuer für eine neue Idee gefangen hat, dann kann er meistens kaum damit warten, sie Leigh Anne zu zeigen.

Als ich alle Salben in die kleinen Tiegel gefüllt habe und alle Utensilien wieder abgewaschen und sorgsam verstaut sind, mache ich mir endlich die Kürbissuppe warm und besänftige meinen knurrenden Magen damit. Sie schmeckt noch köstlicher, als sie duftet. Ich beschließe, dass es gleich an der Zeit ist, Tony einen Besuch abzustatten und dass ich ihm etwas davon umfüllen werde. So eine warme, herzhafte Suppe ist schließlich das beste, was man bei Erkältungen machen kann.Ich beschließe, ihm auch noch ein paar getrocknete Salbeiblätter, die er sich zu einem Tee aufkochen kann und etwas von Leigh Annes Kräuterrieb mitzubringen, falls noch etwas davon da ist. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen - da kann er ja gar nicht anders, als bald gesund zu werden. Es wäre ja auch echt zu blöd, wenn er die Herbstferien so vor sich hinvegetiert und mich deswegen gleich mit zu langweiliger Ödnis verdammt - die hatte ich in den letzten Wochen nämlich zu Genüge.

„Ich möchte endlich mal wieder etwas Erleben", flüstere ich, als ich auch meinen leeren Krübissuppenteller ausspüle. Vielleicht mal mit Tony ans Meer fahren und Bernsteine suchen, jetzt, wo der Wind rauer wird und das Wasser gewaltsam gegen die felsigen Klippen peitscht und alle möglichen Schätze ans Ufer trägt.

Als ich Suppe, Kräuter und tatsächlich auch etwas von dem Kräuterrieb, den ich lange suchen musste, in einem Beutel verstaut habe gehe ich zur Hintertür raus, um an an einem winzigen Wald, der sich hinter unserem Haus erstreckt und den Feldern, die hinter der ganzen Wohnsiedlung liegen entlang zu Tonys Haus zu gehen. Kaum, dass ich draußen bin, schlägt mir eine Kälte entgegen, die mir eine Gänsehaut macht und die ich eben so noch nicht bemerkt habe. Ich wundere mich über den Wetterumschwung, aber auch am Himmel wird gerade ein Vorhang aus grauen, dichten Wolken zugezogen, der die Temperatur gefühlt direkt noch einmal um ein paar Grade fallen lässt. Eilig ziehe ich mir den Reißverschluss meines Anoraks bis zum Hals hoch.

Selbst die Hühner spüren diesen merkwürdigen Druck, der die Welt plötzlich erfüllt. Als ob zischender Dampf aus einem Schnellkochtopf entweicht. Sie gackern und schlagen hektisch mit den Flügeln, als ich auf sie zuhusche und lassen sich auch dann nicht beruhigen, als ich den alten Damen ein paar besänftigende Worte zuraune.

„Seltsam", murmele ich zu mir selbst, aber jetzt habe ich schon alles eingepackt und bin durch den halben Garten gelaufen, außerdem brauche ich meine tägliche Tony-Dosis und die Fortsetzung eines Abenteuerromans, den er mir letzte Woche ausgeliehen hat. Der hat nämlich mit so einem fiesen Cliffhanger aufgehört, dass ich jetzt wirklich wie auf heißen Kohlen sitze.

Hinter unserem Haus ist ein winziger Wald. Wirklich winzig. Er reicht bis zu dem Grundstück des benachbarten Bauern, dem auch die umliegenden Felder gehören und wenn die Bäume erst einmal anfangen, ihre Blätterkleider zu verlieren, dann kann man von dem Dachfenster meines Zimmers aus bis auf sein Haus sehen - so klein ist der Wald. Jetzt aber meine ich, unwirsche Stimmen daraus hervordringen zu hören.

Wie merkwürdig, normalerweise wildert das kleine Waldstück so vor sich hin. Leigh Anne und ich dürfen eigentlich nicht hineingehen, weil es noch zum Grundstück des Landwirts gehört und er mir und meiner Tante nicht recht traut - wie so viele Leute im Dorf.

Sie halten uns, beziehungsweise vor allem Leigh Anne und mich dann eben gleich mit, für sonderbar. Leigh Anne gibt wenig darauf, hat auch gar kein Interesse, wirklichen Kontakt mit den Leuten aufzubauen. Ganz selten, in besonders dunklen Nächten, da klopft es allerdings an unsere Haustür und eine fremde Stimme flüstert so leise, dass das einzige, was man von ihr versteht, wie sehr man auch lauscht, der flehende, ja, bittende Ton ist, mit dem sie spricht.

Sie bitten Leigh Anne um Hilfe, aber ich bin nicht eingeweiht, worum genau es geht. Aber ich glaube, auch das trägt seinen Teil dazu bei, dass die meisten Dorfbewohner leise den Kopf schütteln, kaum merklich die Nase rümpfen und die Straßenseite wechseln, sobald sie uns sehen.

Außer Tony. Tony und seiner Familie ist das schon immer egal gewesen - sie sind neu hierher gezogen, aus der Stadt, weil Tonys kleine Schwester Tamara starke Lungenprobleme hatte und die Ärzte hofften, die Landluft würde eine Besserung hervorrufen. Ich weiß nicht, woher Leigh Anne von Tamara wusste, da sie kaum mit anderen Dorfbewohnern spricht, aber zwei Tage nachdem die Bennets hierher gezogen waren, schickte sie mich mit einem in Handtücher eingewickelten Päckchen und einem Brief zu ihnen herüber. Ich habe keine Ahnung, was meine Tante geschrieben hat, um die Bennets zu überzeugen einer Fremden, die noch dazu einen zweifelhaften Ruf genießt, zu vertrauen, aber sie taten es. Die Ärzte schieben es auf die frische Luft, aber ich weiß, dass auch meine Tante und die Päckchen, die sie mir regelmäßig zu Tony mitgibt, einen wesentlichen Teil dazu beitragen, dass Tamaras Zustand sich wie durch ein Wunder maßgeblich verbessert hat. Seitdem haben die Bennets nie ein schlechtes Wort über uns verloren - und Tony, der ganz sicher andere Freunde hätte haben können, ist mein bester Freund geworden und sitzt in der Schule zusammen mit mir an meinem Außenseiter Tisch.

Ein wohliges Gefühl erfüllt mich, denn seit ich Tony an meiner Seite habe, ist die Schule nur noch halb so langweilig und Leigh Anne nicht mehr die einzige Freundin, die ich habe.

Dieses Gefühl verschwindet allerdings recht bald wieder, denn die Stimmen aus dem Wald reißen meine Aufmerksamkeit abrupt wieder ins Hier und Jetzt. Sie klingen jetzt näher, aber immer noch zu dumpf, um ein Wort von dem, was sie sagen, zu verstehen. Es sind zwei tiefe dabei, die offenbar Männer sind und eine hohe, nasale, von der ich denke, dass sie zu einer Frau gehört. Sicher kann ich mir allerdings nicht sein, denn in dem Dickicht erkenne ich allerhöchstens schemenhafte Umrisse, die auch meiner Einbildung geschuldet sein können.

Eine der Hennen flattert auf einmal in mein Bickfeld. Mit weit ausgebreiteten Flügeln kommt sie mir entgegen und treibt mich zurück in Richtung Haus. Ich runzele die Stirn. Offenbar sind die Stimmen nicht nur mir, sondern auch den alten Damen unheimlich. Allerdings kann ich nicht genau sagen, warum. Denn natürlich ist es etwas seltsam, dass dort Menschen im Wald sind - und das bei diesem Wetter - aber das sollte doch nicht dafür sorgen, dass sich meine Arme mit einer frostigen Gänsehaut überziehen, oder? Seit wann bin ich denn so ein Angsthase geworden. Ich ärgere mich darüber, dass Leigh Annes Einsiedlerargwohn offenbar auf mich abfärbt, hebe die Henne behutsam hoch und setze sie ein Stück zur Seite. Ihre klugen, tiefen Augen starren mich missmutig an, bevor sie ein letztes Mal nach mir piekt und wieder zu ihren Freundinnen stakst.

Etwas in mir zieht mich Richtung Wald. Da breitet sich eine Neugierde in mir aus, vermischt sich pulsierend mit meinem Blut und beginnt, durch alle Adern meines Körpers zu rauschen bis jeder Quadratzentimeter meiner Haut kribbelt. Sie scheinen irgendetwas zu rufen, aber sie sind zu fern. Die Stimmen klingen mittlerweile, als ob sie gegen eine dicke Glasscheibe reden, die jedes ihrer Worte bis zur Unkenntlichkeit dämpft. Bis auf eines.

„Laurel", rufen sie. Flüstern sie. Der Name geht fast unter, als ob ich mich mitten in einem Ozean befinde. Aber die Art, wie der Laut in der Luft vibriert - sie erreicht mich. Ich nehme ihn wahr. Und alle feinen Nackenhaare, die ich besitze, stellen sich ruckartig auf.

„Laurel." Da ist es wieder. Geradezu deutlich. Flehentlich. Närrisch. Mein Herz schlägt schneller. Warum rufen die Leute im Wald mich? Woher kennen sie meinen Namen und warum zeigen sie sich nicht zwischen dem Dickicht?

Ich will antworten, die Fragen, die mir auf der Zunge brennen, aussprechen, aber es ist, als ob mich etwas zurückhält. Ich öffne den Mund aber meine Stimmbänder scheinen wie verklebt, mein Mundraum gefüllt mit Blei, der keinem einzigen Ton Ausgang gewährt.

„Laurel." Dieses Mal ist es eindeutig die Frauenstimme. Sie klingt dichter und so süß, dass ich unbedingt wissen will, wem sie gehört. Welches Gesicht verbirgt sich hinter so einer liebenswürdigen Stimme?

Ich gehe ein paar Schritte auf den Rand des Gartens zu, als ich plötzlich ins Straucheln gerate. Ich falle über meine eigenen Füße und lande längs im Gras, der schwere Inhalt der Tasche drückt sich unter mir schmerzhaft in meinen Brustkorb.

Irgendein Instinkt rät mir, liegen zu bleiben.

Mittlerweile ist alles still. Das einzige, was ich noch höre, sind die Stimmen im Wald, die meinen Namen nun geradezu herunterbeten. Ich weiß nicht warum, aber ich muss zu ihnen. Ich muss wissen, was sie von mir wollen. Von mir brauchen. Denn sie klingen so dringlich und so flehentlich, als wäre ich ihre einzige Chance.

Mein Herz schlägt schneller, während diese widersprüchlichen Gefühle in mir, die Angst wie auch die Sehnsucht, gegeneinander ankämpfen.

Als ich versuche, mich aufzurichten, fällt mir auf, dass sich lange Grashalme um meinen Knöchel gewickelt haben. Sie waren es, die mich zu Fall gebracht haben.

Mir wird vor Anstrengung schwindelig, als ich versuche, sie mir vom Knöchel zu reißen, fühlen sie sich doch auf einmal nicht mehr wie Grashalme an, sondern wie Tauseile.

Als ich sie schließlich gelöst habe, taumele ich weiter auf das Ende unseres Grundstückes zu.

„Lauuurel." Jetzt höre ich ihn ganz deutlich. Es ist mein Name. Ich will antworten, aber plötzlich peitscht mir so heftiger Wind ins Gesicht, dass er die Worte zurück in meinen Rachen drückt. Ich habe fast das Gefühl, als ob er „sei leise" zischt, während er mir die Haare ums Gesicht peitscht, aber das ist doch absurd. Der Wind kann nicht sprechen.

„Hilfe, Laurel." Je näher ich dem Waldstück komme, desto deutlicher höre ich die Stimmen. Die Männer, entschlossen und zuversichtlich und die Frau, wie sie fast schon weint: „Wir brauchen deine Hilfe, bitte, Laurel, komm und hilf uns."

Hilfe? Meine?

Woher kennt ihr meinen Namen?, will ich wieder fragen, aber irgendwas hält mich davon ab. Je näher ich auf die Stimmen zulaufe, desto schwerer fällt es mir. Ich habe den Eindruck, als ob das Gras immer höher wird, der Boden tiefer, matschiger. Der Himmel verdunkelt sich immer weiter, so sehr, dass man denken könnte, es wäre Nacht. Tiefschwarze, zähe, schmierige Nacht, deren klebriger Kern der Wald ist. Wer auch immer darin ist, braucht offensichtlich Hilfe. Vielleicht finden sie in dem dichten Geäst, jetzt, bei dem Wind und all der Dunkelheit, keinen Weg heraus? Ich muss ihnen helfen, denke ich, während ich mir den Schweiß aus der Stirn wische, der plötzlich droht, mir in die Augen zu laufen.

„Nein!" Höre ich dann eine Stimme. Ganz leise. Sie ist so weit weg, dass sie fast nicht zu mir herangetragen wird, aber sie ist so vertraut, dass sie mich innehalten lässt.

Leigh Anne? Will ich fragen, aber meine Stimmbänder sind nach wie vor verklebt. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und mein ganzer Körper zittert vor Anstrengung und Kälte so sehr, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann.

„NEIN!", höre ich meine Tante jetzt ganz deutlich, mit einer Bestimmtheit, die ich so noch nie bei ihr wahrgenommen habe. Ich will mich umdrehen, in ihr vertrautes Gesicht blicken, die Augen mit dem Netz aus Lachfalten sehen, die mir versichern, dass alles gut ist, dass ich nicht auf einen klaffenden Abgrund zulaufe, aber plötzlich bilden sich in meinem Blickfeld mehrere kleine, schwarze und graue Pünktchen, fast wie Wolken, die sich immer mehr verdichten, bis sie die Sonne meines Bewusstseins hinter sich begraben. Das letzte was ich bemerke, ist, wie der Boden unter mir unaufhaltsam immer näher auf mich zukommt ...



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