Kapitel 18
„Scheiße". Wie gelähmt starrte ich auf die hell gestrichene Wand hinter Maura. Kein anderes Wort beschrieb die Lage so gut wie dieser eine Fluch. Nein, das konnte doch nicht sein. Sie konnten Niall nicht geschnappt haben, das hätte ich Jo heute in der Schule doch anmerken müssen, oder?
Maura weinte leise. „Was sollen wir nur tun? Wenn jetzt auch noch Niall ...". Sie wurde von einem weiteren Schluchzer unterbrochen. „ ... da sterbe ich lieber selbst".
Bevor ich etwas erwidern konnte, stürmte jemand ins Zimmer. „Ist er nach Hause gekommen?". Bei unserem Anblick fiel die ganze Hoffnung in Bobbys Gesicht in sich zusammen. Schlaff ließ er sich in den dritten Stuhl sinken, platzierte die Stirn auf der Tischkante und ließ einen tiefen Seufzer hören. „Zwei Jahre", murmelte er undeutlich in die Tischdecke. „Zwei Jahre lang haben wir es geschafft, ihn zu beschützen".
Ich schluckte die sich anbahnenden Tränen hinunter und biss mir auf die Zunge, bis ich den metallischen Geschmack von Blut schmeckte. Es hatte wenig Sinn, wenn alle sich hemmungslos ihren Gefühlen hingaben. „Was wollt ihr nun unternehmen?", presste ich hervor. Es fühlte sich noch immer seltsam an, die beiden zu duzen.
Keiner antwortete.
Fassungslos sah ich zwischen ihnen hin und her und spürte, wie langsam aber sicher leichte Wut in in mir aufstieg. „Wir müssen doch etwas unternehmen! Wir können nicht einfach hier sitzen und abwarten!". Aufgebracht sprang ich auf.
„Was denkst du, was wir bei Greg damals gemacht haben?", murmelte Maura hoffnunglos. „Wir haben die ganze Polizeizentrale auf den Kopf gestellt, alles versucht. Zwecklos". Müde blickte sie zu ihrem Mann hinüber, der sich wie in einem Wahn ununterbrochen die Schläfen rieb. „Wir haben diesen Zettel nicht. Es wird nie aufhören".
Ich war schon dabei, das Zimmer zu verlassen, da wurde ich hellhörig. „Zettel?".
Die Horans sahen sich an und trafen eine stille Übereinkunft. „Jetzt ist es auch schon egal". Bobby holte tief Luft. „Als wir diese ganzen Typen überrascht haben, ging es wohl gerade um ziemlich viel Geld. Die Beute, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Offenbar hatte Fred Sanders einen Plan angelegt, wie man sie finden konnte. In dem ganzen unübersichtlichen Gerangel ist der Plan zerrissen worden – so stand es zumindest immer in den Nachrichten. Eine Hälfte haben die verbliebenen Sanders, die andere ist verschollen. Sie sind aber der festen Überzeugung, dass ich sie habe mitgehen lassen. Frag mich nicht, wie sie auf die Theorie gekommen sind, aber ich hab diesen Zettel verdammt noch mal nicht. Wenn ich ihn hätte, hätte ich ihn ihnen schon lange ausgehändigt, noch vor Gregs Verschwinden, das kann ich dir garantieren".
„Wer könnte ihn denn mitgehen haben lassen?".
Bobby zuckte hilflos die Schultern. „Keiner der Einsatzkräfte. Wir wussten nicht einmal, dass ein solcher Plan überhaupt exisitert!".
Ich hatte genug gehört. Noch mehr Einzelheiten würden mich um den Verstand bringen und dafür sorgen, dass ich mich wie ein verängstigtes Kaninchen vor Angst schlotternd in einer Ecke zusammenrollte und mich nie wieder vom Fleck bewegte. „Ich muss los".
Maura und Bobby fuhren fast gleichzeitig hoch; Bobby verstellte mir sogar den Weg zur Tür. „Wo willst du hin?". Argwöhnisch musterte er mein entschlossenes Gesicht. „Du willst zu Polizei, nicht wahr?".
Kaum hatte das Wort Polizei seinen Mund verlassen, stand sogleich seine Frau neben ihm. „Bitte, Rikki. Keine Polizei", flehte sie mich regelrecht an. „Sonst tun sie Niall was an. Ich weiß mittlerweile, wie es läuft. Heute Abend oder Morgen wird ein weiterer Brief kommen, in dem sie nach diesem gottverdammten Zettel verlangen".
„Den ihr aber nicht habt!", rief ich wütend. „Und dann ist Niall sowieso dran!". Ich wusste nicht, wie diese gefühllosen Worte aus mir hervorkommen konnten, vor allem, wenn man bedachte, dass „drankommen" in diesem Fall so viel wie „sterben" bedeutete. „Aber nein, ich gehe nicht zu Polizei". Beinahe hätte ich noch ein „Ich habe andere Pläne" hinzugesetzt, aber ich bezweifelte, dass diese Bemerkung auf fruchtbaren Boden fallen würde.
„Du willst etwas auf eigene Faust unternehmen", stellte Bobby trotzdem fest. „Ich weiß, ich kann dich nicht einsperren, um es zu verhindern. Aber ich gebe dir einen lebenswichtigen Rat: Lass es. Du kennst die Grausamkeit dieser Leute nicht".
Meine Augen bohrten sich förmlich in seine. „Doch. Mehr als genug." Ich ignorierte ihre verwirrten Blicke und drückte mich an ihnen vorbei.
Ich musste Jo finden. Und ihm ein paar Fragen stellen.
Während ich die Straßen entlangsprintete, verärgerten Fußgängern auswich und hin und wieder gerade noch eine Kollision mit von Einkaufstüten bepackten Leuten verhindern konnte, überlegte ich fieberhaft, wo sich Jo in seiner Freizeit wohl aufhielt. Wobei man wohl kaum von einzelnen Zeitabschnitten sprechen konnte – Jos ganzes Leben war vermutlich eine einzige Freizeit. In der Schule tat er sowieso nichts, ebenso wenig wie er Hausaufgaben macht oder lernte (weiß der Geier, wie er seinen Führerschein geschafft hatte, wahrscheinlich hatte sein obertoller Vater ein wenig nachgeholfen). Wie auch immer, als erste Möglichkeit fiel mir unser alter Treffpunkt ein – das alte Krankenhaus, jedoch hatte ich zu befürchten dass dort mit Sicherheit andere Gangmitglieder herumlungern und mich ohne mit der Wimper zu zucken zusammenschlagen würden, da ich ihnen die letzte Mission verpatzt hatte. Ich biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Ich durfte jetzt nicht so feige sein. Wer wusste, wo sich Niall gerade befand; ob es ihm gut ging. Was, wenn sie ihn schon ... umgebrach hatten? Schwer atmend rang ich nach Fassung. Nein. Sonst hätten sie kein Druckmittel mehr. Ach scheiße! Die Angst um Niall ließ mich noch schneller laufen, schneller, als für einen durchschnittlich sportlichen Menschen wie mich gut sein konnte, doch ich hielt es durch, bis ich nach zehn Minuten unsere Schule erreicht hatte. Meine Lungen schmerzten und schrien förmlich nach einer Pause, die ich mir nicht gönnen wollte, doch als ich einen Blick auf jemanden in schwarzen Klamotten erhaschte, der auf dem Schulgelände Richtung Raucherecke ging, kam ich schleudernd zum Stehen und beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Wenn mich nicht alles täuschte, war das Zayn, der an seinem Handy hing und so angeregt telefonierte, dass ich den Klang seiner Stimme sogar aus dieser Entfernung hören konnte, auch wenn ich kein Wort verstand. Vielleicht traf er sich ja mit Jo? Ich überlegte schnell. Zayn hatte noch nie jemandem eine reingehauen, geschweige denn gedroht. Bei ihm konnte ich das Risiko, ihm zu folgen, allemal eingehen, umbringen würde er mich mit Sicherheit nicht, wenn er mich entdeckte. Bevor mir ein Gegenargument einfallen konnte, lief ich im Schatten der Sträucher auf Zayn zu, der drohte, aus meinem Blickfeld zu verschwinden. Wie ich vermutet hatte, steuerte er auf die Raucherecke zu, sprang alle Stufen auf einmal nach unten, um sich dort an die Wand zu lehnen, und sprach weiter in sein Handy. Ich setzte mich direkt über ihm hinter das Geländer, die Ohren gespitzt; auf keinen Fall wollte ich gegebenenfalls wichtige Informationen verpassen.
„ ... dass es jetzt schon so lange her ist!", schnauzte Zayn die Person am anderen Ende der Leitung gerade verärgert an. „Trotzdem darf ich jetzt nicht aufgeben, ich bin so nahe dran!"
Worüber zum Teufel sprach der da? Ich drehte den Kopf in alle erdenkliche Richtungen und lauschte angestrengt, doch an manchen Stellen redete er so leise, dass ich nur Gemurmel verstehen konnte.
„Sie haben WAS?", schrie er plötzlich buchstäblich so laut, dass ich erschrocken von meinem Posten zurückzuckte und instinktiv fast die Flucht ergriffen hätte. Zayn schien selbst bemerkt zu haben, dass er einen Ticken zu laut geworden war, denn er sprach den gleichen Satz im Flüsterton ein weiteres Mal, bevor er der anderen Person lauschte. „Wieso ist er so überzeugt davon, dass er ..." Kurze Unterbrechung. „Jo ist das geringste Problem. Das Problem ist sein Vater. Der ist immer noch so wütend, dass er eine ganze Stadt umbringen würde, nur um seine heiß ersehnte Rache üben zu können."
Es ging also tatsächlich um den Sanders/Horan-Konflikt. Konflikt. Welch bodenlose Untertreibung. Wenn er jetzt auch noch ausplaudern könnte, wo Niall war, wäre ich wunschlos glücklich. Die nächsten Minuten hörte ich nur noch wenig beudeutungsvolle Dinge wie „Ja" und „Okay", bis eine lange Pause entstand, ohne dass Zayn einen Laut von sich gab.
Zu spät begriff ich, was das bedeutete. Es bedeutete nämlich, dass er sein Telefonat nun beendet hatte und jeden Moment die Treppe heraufkommen und mich entdecken würde.
Wie vom Blitz getroffen sprang ich auf die Beine – und beförderte dabei ein paar Steinchen in den Treppenschacht, die allesamt auf Zayns Kopf landen mussten. Shit! Als dieser die Stufen hinaufgelaufen kam, war es bereits zu spät zum abhauen, sodass wir einander wie die letzten Idioten anstarrten, ein Gesicht entsetzter als das andere.
Zayn ergriff als Erster das Wort. „Wie viel hast du gehört?" Seine Stimme glich einem Knurren.
„W-was?" Mehr fiel mir nicht ein, während ich mich langsam rückwärts gehend zurückzog.
„Spiel nicht die Unschuldige. Du hast doch gelauscht, oder?". Zu meiner Verwunderung konnte ich in seinen Augen einen Funken Angst entdecken. Ich reckte das Kinn in die Höhe und versuchte, selbstsicher zu wirken. „Und wenn?"
Wirklich klug, Rikki.
„Ich sag's dir, wenn du glaubst, mich an Jo verpfeifen zu ..."
„Ich bin fertig mit Jo", unterbrach ich ihn resolut. „Du kannst ihn vor mir aus in seine einzelnen Zellen zerlegen."
Zayn starrte mich an, das Handy noch immer in der erhobenen Hand, als ob er mitten in einer Bewegung eingefroren wäre. „Du ...", setzte er ungläubig an, wurde jedoch diesmal von einer anderen Stimme unterbrochen, die zusammenmit lauten Schritten von der Straße her kam. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich mich nach einem schnellen Versteck um. Jo. Das war Jo! Und ich saß hier – wie sagt man so schön – wie der Ochse am Berg und hatte keine Chance mehr, die Flucht zu ergreifen, als Jo um die Ecke bog und mit einem Ruck stehen blieb, als er mich erblickte. „Rikki?"
Ich biss die Zähne zusammen und sah ihn abwartend an.
Jo kam auf mich zu, die Hände beschwichtigend erhoben. „Was machst du hier?"
„Ist es verboten, hier zu sein?", schnappte ich. Bei seinem bloßen Anblick schien meine Wange wieder zu pochen anzufangen. Ich scharrte ungeschickt mit den Füßen. „Ich hab dich gesucht."
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Du? Mich gesucht? Weshalb?"
Ich musste ein Prusten unterdrücken. Wer wusste, was sich der wieder einbildete. Wahrscheinlich dachte er jetzt, ich würde ihm einen Antrag machen oder sonst was. „Aus keinem Grund, den du dir wünschst". Unschlüssig sah ich zu Zayn hinüber, der noch immer wie eine Statue dastand; allmählich bekam ich Befürchtungen, sein Arm könnte tatsächlich eingefroren sein.
Jo folgte meinem Blick. „Zayn, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir unsere Besprechung um ein paar Minuten verschieben?"
Endlich löste sich der Angesprochene aus seiner Starre, zuckte gleichgültig mit den Schultern und verschwand in Richtung Hinterhof. Was diese obercoolen Typen nur antrieb, nachmittags am uncoolsten Ort abzuhängen. Irritiert schüttelte ich den Gedanken aus dem Kopf. Ich hatte jetzt andere Probleme.
Schnell wie der Blitz war Jo zu mir hinübergeschnellt, lehnte sich lässig neben mich an die Wand und grinste weiter sein weißes Zahnpastalächeln. „Worüber sollte ich mir Gedanken machen?"
Ich schaute ihn abfällig an. „Ich mach's kurz. Wo ist er?"
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Sorry, ich hab ewig gebraucht :D Ich würde mich über Votes und Kommis freuen ;) Die Kommis vom letzten Kapitel waren echt toll, keep it up! Ich freu mich jedes Mal wieder darüber wie ein Schnitzel! <3
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