Kapitel 17
Tja, jetzt kannte ich Niall seit knapp drei Tagen und an jedem dieser drei Tage war ich mindestens einmal bei ihm zu Hause aufgetaucht ... unter anderen Umständen würde man mich als nervige Klette bezeichnen, aber jetzt handelte es sich eindeutig um einen Notfall, da konnte ich nicht darauf achten, was andere von mir dachten. Ganz abgesehen davon hatten Nialls Eltern mit Sicherheit anderes im Kopf, als sich über meine häufigen Besuche zu wundern.
Vor der Ladentür angekommen fiel mir auf, dass ich noch kein einziges Mal die Klingel benutzen hatte müssen, wofür ich jetzt die Rechnung bekam, da ich keine Ahnung hatte, wo sie sich befand – der Laden war offenbar so frisch eingerichtet und eröffnet, dass noch nicht einmal eine Klingel angebracht worden war ...
Na wunderbar. Ich konnte mich ja wohl kaum hinstellen, wie ein besoffener Räuber aus dem Mittelalter an die Tür trommeln und mir dabei die Seele aus dem Leib brüllen. Hilflos versuchte ich, durch das Schaufenster zu spähen, doch das war geschickt mit Kartonplatten verdeckt worden, sodass man nicht einen Quadratzentimeter vom Innenleben erhaschen konnte.
Frustriert ließ ich die Schultern hängen. Mir würde nichts anderes übrigbleiben, als die Methode des besoffenen Mittelaltertypen anzuwenden, also betrat ich seufzend die beiden breiten Treppenstufen, die zur Tür hinaufführten, und klopfte vorsichtig dreimal an das Glas. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass es viel zu leise war, dass ich minutenlang hier stehen und klopfen würde und irgendwann erfolglos heimkehren müsste. Demnach hätte ich auf der Stelle eine akrobatische Meisterleistung vollbringen können, als vier Sekunden später (ja, ich habe genau mitgezählt) in einem Luftzug die Tür aufflog. „Bist du das, ...?!" Bei meinem Anblick verstummte Maura auf der Stelle. „Oh" Ihrem enttäuschten – oder eher bis aufs Tiefste verzweifelten – Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte sie sich einen anderen Besucher gewünscht. Schon wollte ich anfangen, mich für meine ewige aufdringliche Nerverei zu entschuldigen, doch sie ließ mich wie immer nicht zu Wort kommen. Kaum hatte sie wirklich realisiert, wer vor der Tür stand, begann sie, mich mit Fragen zu löchern. „Hast du Niall irgendwo gesehen? Hat er dir eine Nachricht geschrieben oder dich angerufen, wo er ist? Habt ihr eine Verabredung? Weißt du, wo er ..."
„Halt, halt, halt!", unterbrach ich verwirrt ihren Redefluss, wobei ich mir wie eine Mama vorkam, die sich bemühte, das Gebrabbel ihres Kleinkindes zu verstehen. „Was ist los?"
Maura warf verstohlen einen Blick auf die Straße, bevor sie von der Tür zurücktrat, um mich eintreten zu lassen. „Komm doch erst mal rein" Ihre Stimme klang verschnupft, als ob sie lange und viel geweint hätte. Ich hoffte inständig, dass sie es jetzt nicht tun würde. Ich bin wirklich kein gefühlloser Tölpel, aber bei weinenden Erwachsenen war ich einfach nur hilflos und wenn ich doch in eine solche Situation kam, war mein einziger Wunsch, auf der Stelle in einen Crash Test Dummy verwandelt zu werden, der sich um nichts Sorgen machen musste und über den niemand den Kopf schüttelte, wenn er völlig emotionslos blieb.
Wie Niall gestern drehte sie den Schlüssel im Schloss und prüfte, ob auch wirklich abgeschlossen war, bevor sie mich durch den Laden auf die Treppe zur Wohnung führte. Überall standen Kartons herum, die Sachen aus dem Laden waren allesamt weggeräumt, ebenso die persönlichen Utensilien aus dem Hinterraum. Sie würden also wirklich spätestens in ein paar Tagen weg sein. Diese Tatsache traf mich härter, als ich erwartet hatte. In der kurzen Zeit hatte ich Niall wirklich ins Herz geschlossen, auch wenn ich nicht allzu viel über ihn wusste. Ich verlor kein Wort über all die gepackten Sachen, die in der Wohnung herumstanden, sondern folgte einfach Nialls Mutter, die mich weiter ins Wohnzimmer geleitete und mir bedeutete, mich auf einen der drei noch verbliebenen Stühle zu setzen, die um einen einsamen Tisch herumstanden.
Maura setzte sich mir gegenüber, das Kinn in die Hände gestützt, während ihr Blick nervös durchs Zimmer irrte. Nur das leise Ticken der Uhr war zu hören.
Irgendwann konnte ich die bedrückende Stille nicht mehr ertragen. „Wo ist Niall denn?" Das war zwar die hirnrissigste Frage überhaupt, aber zumindest begann Maura nun endlich zu sprechen.
„Du weißt es also auch nicht", murmelte sie mehr zu sich selbst, als an mich gerichtet und fuhr sich über die verquollenen Augen, bevor sie mir einen undefinierbaren Blick zuwarf. „Hat er dich ... über unsere Situation aufgeklärt?".
Ich schüttelte den Kopf. „Ich schätze ... ich hab es, äh, selbst herausgefunden" Mehr wollte ich nicht preisgeben.
„Natürlich" Maura ließ ein bitteres Lachen hören. „Man braucht ja nur ein paar Stichworte bei Google eingeben und schon weiß man den gesamten Hintergrund."
Ich schwieg. Was sollte ich darauf auch erwidern? Dass es nicht so war? Das wäre Blödsinn gewesen. Zum Glück sprach sie auch so weiter. „Du fragst dich bestimmt, warum wir so dumm sind und keine Polizei einschalten."Sie holte zitternd Atem. „Nicht lange nach diesem misslungenen Einsatz kam die erste Drohung, die keiner von uns so richtig verstanden hat. Sie wollten, dass Bobby ihnen etwas übergibt, was er bei dem Einsatz angeblich hat mitgehen lassen. Das ist natürlich kompletter Schwachsinn, wieso sollte er das tun! Wir dachten, es bliebe bei diesem einen Drohbrief, doch als wir nicht darauf antworteten, sondern ihn einfach in den Müll wandern ließen, erreichten uns verschiedenste anonyme Mails, dass wir besser tun sollten, was sie verlangten, bevor einem unserer Söhne das gleiche zustieße, was Bobby einem ihrer Familienmitglieder 'angetan' hätte."
Ich nickte verstehend, doch dann erstarrte ich in der Bewegung. Moment mal. Söhne? Plural?
„Somit wussten wir schon mal, dass es sich bei den Verfassern um die Sanders handeln musste. Wir haben sofort die Polizei alarmiert, worauf ein paar Tage später ein Handlanger festgenommen wurde." Ihr Blick war leer, ihre Stimme monoton, als ob sie alles nur aufzählen würde. „Wir dachten, jetzt wären sie abgeschreckt und alles vorbei. Doch damit ging es erst wirklich los. Niall ging es ohnehin schon schrecklich in der Schule, weil ein paar hirnrissige Arschlöcher auf die Idee gekommen sind, ihn als Mördersohn und Sonstiges zu bezeichnen, es grenzte schon an Mobbing. Deshalb wollten wir auch unbedingt verhindern, dass man uns hier sofort erkennt und sein Leben noch mehr zur Hölle wird. Einen Monat später verschwand Greg nach einer abendlichen Party und kam nie wieder heim." Eine einzelne Träne lief über ihre Wange, bis sie auf den Tisch tropfte und dort auf dem weichen Material der Tischdecke einen kreisförmigen Fleck hinterließ. „Natürlich hat man nach ihm gesucht, doch alle Hinweise deuteten darauf hin, dass er mit dem Zug die Stadt verlassen und einen Flug ins Ausland gebucht hat. Sie hatten handfeste Belege dafür, gegen die wir nichts ausrichten konnten, obwohl uns allen klar war, dass Greg so etwas nie tun würde. Die nächste Mail ließ nicht lange auf sich warten. Sie fragten uns, wie es sich so anfühlt, ein Familienmitglied weniger zu haben und ob wir Wert darauf legen, auch noch unseren zweiten Sohn zu verlieren." Sie schluchzte auf. „Da haben wir in aller Eile unsere Sachen gepackt und sind abgehauen. Immer wieder haben sie uns gekriegt, und immer wieder sind wir umgezogen. Irgendwann hatte Bobby die Idee, direkt ins Sanders-Viertel zu ziehen, denn da würden sie uns am allerwenigsten vermuten. Wie falsch wir doch lagen. Und das alles macht keinen Sinn!" Mittlerweile war aus dem einen dunklen Kreis auf der Tischdecke ein großer Felck geworden. „Wir wissen nicht, wonach sie suchen, wir haben nichts! Sonst hätten wir es ihnen schon lange gegeben!" Flehentlich schaute sich mich an. „Und gestern ... nachdem du gegangen warst, hatte ich einen fürchterlichen Streit mit Niall. Er erträgt es nicht mehr. Er will nicht mehr umziehen, sondern endlich wieder Freunde finden und ein normales Leben führen." Maura umklammerte mit beiden Händen ihr durchnässtes Taschentuch. „Und er hat recht. Kein junger Mensch soll sein Leben auf diese schreckliche Weise verbringen müssen. Aber es geht nicht anders. Schalten wir die Polizei ein ... verlieren wir auch noch Niall!" Nun war es endgültig vorbei mit ihrer Fassung. Haltlos begann sie zu schluchzen, sodass ihr ganzer Körper wie unter Krämpfen bebte. Doch seltsamerweise fühlte ich mich diesmal kein bisschen befangen, sondern schloss sie ohne nachzudenken in die Arme, redete beruhigend auf sie ein und wiegte uns dabei hin und her, wie man es bei Kindern normalerweise macht. Sie war einfach ein Mensch, der vom Leben hart für etwas bestraft wurde, das er nicht getan hatte und trotzdem allen erdenklichen Schmerz zu spüren bekam.
Als sie sich irgendwann zitternd zurückzog, murmelte sie: „Ich kann schon verstehen, warum Niall hier nicht weg möchte. Mit einer solchen Freundin ..."
Ich erstarrte. Niall wollte wegen mir nicht wegziehen?
Maura nickte geistesabwesend. „Ja ja ... er hatte nie die Chance, Freundschaften zu schließen. Schon alleine deswegen, weil niemand mit einem Mördersohn befreundet sein wollte. Umso mehr hängt er an dir." Ohne meinen Schockzustand zu bemerken, fuhr sie fort. „Wie gesagt, wir haben uns gestritten. So schlimm wie noch nie. Natürlich gibt es immer mal wieder Meinungsverschiedenheiten, aber das gestern ... so etwas hab ich mein ganzes Leben lang noch nicht mitgemacht. Er war völlig außer sich. Wir haben einander wirklich schlimme Dinge an den Kopf geworfen, bis er komplett aufgelöst nach draußen gestürmt ist. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass er spätestens heute morgen wieder heimkommen würde, aber ... er ist nicht zurückgekehrt." Ihre Augen begannen wieder zu glänzen. „Wie Greg damals."
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YEAH, Cliffhanger :D Ich weiß, der ganze Kram ist ziemlich verwirrend, aber ich hoffe, das Kapitel hat euch trotzdem gefallen ;)
Ich weiß, ich habe schon wieder ewig mit dem Update auf mich warten lassen, sorryyy -.-
Whatever, bis zum nächsten Kapitel! <3
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