Kapitel 12
„HEY!". Schnelle Schritte näherten sich uns und im nächsten Moment knallte jemand von der Seite in uns hinein, den ich anhand der dunklen Locken als Harry identifizieren konnte. Alle Luft entwich aus meinen Lungen, als ich ungeschickt zu Boden plumpste, während Jo sich nahezu elegant auf den Beinen halten und weglaufen konnte, nicht ohne mir vorher ein bedeutungsvolles Grinsen zu schenken. Wenig später heulte der Motor seines Wagens auf und entfernte sich in Höchstgeschwindigkeit, begleitet von den lauten Bässen des Radios.
„Ist bei dir alles okay?". Harry half mir auf die Füße. „Wer war das? War das nicht derselbe Typ, mit dem du gestern von der Schule heimgekommen bist?".
Ich erstarrte. Mist, er konnte sich an ihn erinnern. „Mmh", murmelte ich vage.
„Jo Sanders".
Mein Kopf schnellte hoch.
Louis schlenderte langsam auf uns zu, sein Blick bohrte sich vorwurfsvoll in meine Augen. „Das war Jo Sanders". Sein Ton drückte pure Enttäuschung aus, die mir wie ein Dolch ins Herz stach. „Ich wusste gar nicht, dass du dich mit Leuten wie ihm abgibst".
„Abgegeben hast", korrigierte ich mit belegter Stimme, die sich in meinen eigenen Ohren seltsam fremd anhörte. „Ich habe nichts mehr mit ihm zu schaffen".
Louis schnaubte. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. „Einmal Kontakt mit ihm, immer Kontakt mit ihm! Von dem kommst du nicht mehr weg. Ausgerechnet du!". Er nahm Harrys Hand, der mich mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen anstarrte. „Du weißt schon, dass er sozusagen einer unserer Erzfeinde ist?".
„Ich weiß", antwortete ich tonlos. „Leute, bitte. Ich weiß, das war richtig scheiße von mir und es tut mir sowas von leid. Ich dachte, er wäre anders, als er alle glauben lässt".
„Aber du hast dich getäuscht".
„Ja", wisperte ich und sah zu Boden. „Ich hab mich getäuscht".
Ich erntete nur ein weiteres verächtliches Schnauben von Louis, der schon immer der Nachtragendere der beiden gewesen war. „Etwas zu spät".
„Lou", schaltete sich nun Harry ein, der sich endlich von seinem kleinen Schock erholt zu haben schien. „Findest du nicht, du übertreibst ein wenig?".
Louis schüttelte nur ein letztes Mal fassungslos den Kopf, bevor er wortlos auf dem Absatz kehrt machte, ins Haus verschwand und lautstark die Tür zukrachen ließ.
Ich traute mich nicht, Harry anzusehen, sondern vergrub meine Hände in den Hosentaschen. „Ich schätze, ich geh dann besser".
Anstelle einer Antwort zog er mich zu meiner Verblüffung in eine Umarmung, die ich erst nach einigen Sekunden zögernd erwiderte.
„Tut mir leid wegen Lou", sagte Harry nach einer kleinen Weile. „Er geht wegen jeder Kleinigkeit immer gleich so ab".
Fast hätte ich verzweifelt aufgelacht. „Kleinigkeit? Harry, er hat jeden Grund, stinkwütend zu sein. Ich war eine Idiotin".
„Mag sein". Wenigstens stritt er es nicht ab oder versuchte, das Geschehene in ein anderes, falsches Licht zu rücken. „Und jetzt benimmt ER sich wie der letzte Idiot".
Wäre Schuld ein riesiges, fleischfressendes Loch, wäre ich an diesem Tag schon hunderte Male verschlungen und verdaut (und möglicherweise wieder ausgekotzt) worden. Noch nie, wirklich noch nie in meinem Leben hatte ich einen solchen Groll gegen mich selbst verspürt. Ich hatte es nicht verdient, so wunderbare Freunde an meiner Seite zu haben.
Auch wenn ich froh war, dass es sie trotzdem gab.
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„Himmelherrgott nochmal!". Am liebsten würde ich dieses verdammte Handy an die Wand klatschen, die Einzelstücke mit Uhu zusammenkleben, um es anschließend in eine Tonne mit Säure zu werfen, damit es sich in all seine Moleküle zerlegte und ein für alle mal von dieser Welt verschwand.
Doch leider war es mein teueres, normalerweise überaus treues Mobiltelefon, das ich mir mühsam über ein Jahr hinweg erspart hatte. Außerdem waren auf dem Speicher Fotos von meiner Mum enthalten, die ich auf keinen Fall verlieren wollte.
Seit gut zwei Stunden versuchte ich nun schon, Niall zu erreichen, doch der schien entweder gestorben oder am Ende der Welt untergegangen zu sein.
Bei dem Gedanken an die erste so leichtsinnig erdachte Möglichkeit, zuckte ich zusammen und trommelte nur noch schneller mit den Fingernägeln auf dem Akkudeckel des Handys herum. Jo hatte damit gedroht, Niall zu verletzen. Ich hatte keine Ahnung, wieso weshalb warum – ich wusste nur, dass er seine Drohung tödlich ernst meinte. Jo Sanders war kein Mensch, der leichtfertig mit Worten um sich warf.
Glücklicherweise hatte ich wenigstens Liam an den Apparat kriegen können. Offenbar hatte sich sein Zustand um einiges gebessert und sein Anblick erweckte auch nicht mehr das drängende Bedürfnis, sofort nach ärztlicher Hilfe zu schreien.
Wie auch immer – Als Niall sich den ganzen Nachmittag nicht meldete, beschloss ich kurzerhand, das Geschäft aufzusuchen, nachdem ich das Bio-Projekt nun doch alleine erledigt hatte.
Sie hatten sowohl an den Schaufenstern als auch an der Tür die Jalousien heruntergelassen und auf der Glasscheibe klebte ein weißes Blatt mit der schnell hingetritzelten Aufschrift GESCHLOSSEN! Aus dem Inneren ertönte das stetige Räumen von Möbelstücken, kratzende Geräusche und leise Stimmen, die sich im gedämpften Tonfall miteinander unterhielten, als befürchteten sie, belauscht zu werden. Ich räusperte mich und klopfte an. „Hallo?".
Die Geräusche verstummten schlagartig. Knirschende Schritte näherten sich der Tür, worauf zwei Sekunden später jemand durch die Jalousie spähte. Fast sofort drehte sich der Schlüssel im Schloss. „Rikki? Was machst du denn hier?". Niall schob mich hektisch an sich vorbei in den Laden, warf einen prüfenden Blick in jede mögliche Richtung der Straße, dann machte er die Tür schnell zu und sperrte gewissenhaft wieder ab. Es sah so geübt aus, als hätte er dieses Ritual heute schon an die zwanzig mal durchgeführt. Er bemerkte meinen Blick und zuckte die Schultern. „Sicherheitsvorkehrungen".
Es war mehr als offensichtlich, dass er mir nichts Näheres verraten wollte, also beließ ich es dabei und nahm stattdessen den Laden in Augenschein. Einen Großteil des Chaos hatten sie bereits aufgeräumt, sodass es nur noch halbwegs nach Raubüberfall aussah. Die Vitrinen, die nun wie nackte Schränke völlig leer an die Wand geschoben waren, waren natürlich nicht mehr zu retten gewesen. Sofort fühlte ich mich wieder schrecklich. „Soll ich noch irgendwas helfen?", fragte ich kleinlaut.
Niall winkte mit einem kleinen, wenn auch etwas gezwungenen Lächeln ab. „Wir sind sowieso fast fertig. Wie geht's Liam?". Das klang nach eifrigem Themawechsel. Na gut.
„Laut seiner Mum deutlich besser".
Niall nickte nur. Dann standen wir wie blöde schweigend nebeneinander inmitten von ausgeräumten Schränken und zerstörten Dekoartikeln, bis sein Vater Bobby in Arbeitskleidung die Treppe herunterkam. „Hallo, Rike", begrüßte er mich, überschwänglich wie immer.
Wie immer. Als ob ich ihn schon ewig kannte. Genau genommen hatte ich ihn heute das erste mal in meinem ganzen Leben gesehen.
„Äh ... h-hi", stotterte ich. Auf meinen Wangen konnte man mit Sicherheit schon Spiegeleier braten, so heiß waren sie. War ich echt zu blöd dazu, einen vollständigen Satz von mir zu geben? Musste wohl an seinem Beruf liegen.
Bobby lachte nur. „Nur nicht so schüchtern. Ich würde dir ja gerne die Hand reichen, aber ...". Er drehte bedauernd die Handflächen nach außen, die voller Staub und sonstigem Dreck waren. „ ... ich glaube nicht, dass du so begeistert davon sein würdest". Grinsend wischte er sie an der Hose ab, was ihm jedoch nur wenig erwähnenswerten Erfolg brachte, also gab er schulterzuckend auf. „Wie du siehst, sind wir gut vorangekommen. Da wir erst vor Kurzem geöffnet haben, kann ich nicht einmal sagen, dass der Einbruch uns nützlicherweise endlich zu einem Putz motiviert hat". Er wies auf einen Haufen Scherben in der Ecke. „Zum Glück sind wir versichert".
„Kann ich helfen?", wiederholte ich meine Frage von vorhin, doch Bobby hatte dieselbe Antwort wie sein Sohn parat. „Nein nein, so lange dauert es nicht mehr. Den größten Teil haben wir ohnehin schon geschafft". Sein nächster Blick galt der Uhr. „Tut mir leid, ich würde mich auch gerne noch länger unterhalten, aber die Arbeit ruft". Er wollte mir die Hand reichen, zog sie jedoch im letzten Moment wieder zurück und schüttelte geistesabwesend den Kopf. „Das Alter schlägt zu. Bis hoffentlich bald, Rike!".
Ich brachte gerade noch ein gequetschtes „Ciao" heraus, dann war er schon wieder die Treppe hinaufgewuselt und außer Hörweite. Diese unverbesserliche Hyperaktivität musste wohl in der Familie liegen. Niall, der nervös am Saum seines T-Shirts herumzog (wie war das, Hyperaktivität?), fand nun auch seine Sprache wieder. „Weshalb bist du gekommen?".
Ich schmunzelte, wenn auch etwas enttäuscht von seiner Reaktion. Das war ja fast so, als käme ich ungelegen. „Ich wollte nur mal vorbeischauen. Und ...".
Und euch sagen, dass euch ein potenzieller Mörder im Nacken sitzt.
Wie brachte man jemandem so etwas möglichst schonend bei? Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mir noch nicht mal Gedanken gemacht hatte, WARUM Jo es auf die Horans abgesehen hatte. Lediglich an dem vermasselten Einbruch von letzter Nacht konnte es ja wohl kaum liegen.
„Rikki?", drang Nialls Stimme verschwommen in mein Bewusstsein. Er bewegte eine Hand vor meinem ausdruckslosen Gesicht auf und ab. „Erde an Gehirn".
„Hn?".
„Wo bist du nur mit deinen Gedanken?".
„Nirgends, wo ich in Wirklichkeit auch sein will. Ich ...". Ich kämpfte mit meinen Prioritäten. „Ich muss dich was fragen".
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Vielen Dank für all die lieben Kommis! ;) Hiermit auch die herzliche Widmung an _x_nameless_x_ !! <3
Wie immer freu ich mich total über jedes einzelne Vote und jegliches Feedback! :D
Auch wünsch' ich allen ein schönes neues Jahr 2016, lest immer fleißig und lasst euch die Freude daran nicht nehmen xD *schaut mit verknalltem Blick auf das Buch neben sich*
Gut, diesmal laber ich mal nicht so viel wie sonst, also nur noch Liebe Grüße und bis zum nächsten Kapiteeel! ;)
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