Kapitel 1
„Willst du auch?". Jo hielt mir die Zigarettenschachtel hin.
„Später vielleicht", winkte ich ab, in dem Wissen, dass er sowieso nicht mehr daran denken würde. Jo war ein hirnloser Vollidiot. Für ihn gab es am Tag nichts anders als Alkohol, Nikotin und irgendwelche Pillen, über deren Wirkung ich lieber uninformiert blieb.
Wie jeden Morgen vor dem Unterricht stand unsere kleine Gruppe hinter dem Schulhaus auf den Betonstufen der Kellertreppe, die vor Jahren mal jemand zur Raucherecke erklärt hatte. Rauchen war auf dem Schulgelände strengstens verboten, doch entweder wussten weder der Schulleiter noch die Lehrer etwas von der Ecke, oder sie erachteten es als sinnlos, sich deswegen ein Bein auszureißen. Ich tippte eher auf Letzteres. Immerhin waren wir die gefürchtetste Bande in dem Stadtviertel und somit auch in der Schule. Wer sich mit uns anlegte, wurde fertiggemacht. Das ging von kleinen täglichen Sticheleien bis zu für das Opfer übel ausgehende Schlägereien. Mit wir meine ich Jo, Zayn, Rob, Vanny und mich. Natürlich gab es noch etliche Leute, die ebenfalls dazugehörten und allerlei dreckige Jobs erledigten, doch die waren meistens eher nebensächlich.
Jo war der Anführer. Er war derjenige, der entschied, wann wer wo zusammengeschlagen wurde, wer den Stoff besorgte und wer in die Gruppe aufgenommen wurde. Nicht immer waren alle seiner Meinung, doch hier existierte so etwas wie Demokratie nicht. Jos Wort war Gesetz. Wer sich widersetzte, musste damit rechnen, in der nächsten Zeit von seinen persönlichen Kumpels in die Mangel genommen zu werden und das endete so gut wie immer im Krankenhaus oder bei der Polizei. Jo - beziehungsweise sein Vater - hatte Kontakte zu den miesesten Leuten in der Stadt, für die es eine Leichtigkeit war, jemandem ein Verbrechen in die Schuhe zu schieben oder ihm sonstige Sachen dieser Art anzuhängen.
Zayn war der Ruhige von uns. Er sprach so gut wie nie, außer es musste sein. Er beteiligte sich auch nie an den Schlägereien oder den Stoffgeschäften, was für mich schon lange die Frage aufwarf, wozu Jo ihn überhaupt in der Gang haben wollte. Er stand nur dabei, rauchte ab und an eine Zigarette mit und verschwand nach der Schule spurlos.
Rob hatte sich bereits den Ehrentitel Robinson Cruel eingehandelt, was daran lag, dass er der alle Schlägereien leitete und derjenige war, der jemanden ohne zu zögern - und damit MEINE ich auch ohne zu zögern - für eine nichtige Sache umbringen würde. Neben Jo war Rob der zweitgefürchtetste Mann. Selbst, wenn man noch nichts von ihm gehört hatte - und das hatte man meistens - würde man nachts einen großen Bogen um ihn schlagen. Er beherrschte allerlei Kampfsportarten, war muskelbepackt und hatte durch diese bullige Statur eine Ausstrahlung, die Komm mir zu nahe und ich zerquetsch' dich mit bloßen Händen schrie.
Vanny war neben mir das einzige weitere Mädchen der gesamten Gruppe, alle Nebenmitglieder mitgezählt. Woran das lag? Tja, Jo hielt nicht viel von Mädchen. Für ihn waren sie alle schwach und brav, nur in Vanny und mir schien er eine Ausnahme zu sehen. Bei Vanny musste man das nicht weiter in Frage stellen. Sie war hinterhältig, gerissen, gewalttätig (ihr Vorstrafenregister war bereits mit 18 schon ziemlich lang) und sie konnte sich hervorragend aus kniffligen Lagen herauswinden, ohne irgendeinen Schaden abzubekommen. Ihr fehlten zwei Zähne, ein Schneidezahn und ein Eckzahn, die verbliebenen wiesen bereits in ihrem jungen Alter graue Stellen von dem Rauchen auf und sie trug zerrissene Kleidung und Springerstiefel, die sich perfekt mit ihren unzähligen Piercings im Gesicht ergänzten.
Und ich? Das war die große Frage. Ich war weder gewalttätig, noch nahm ich Drogen oder rauchte (was aus der Band keiner wusste). Nach außen hin gab ich mich wie das typische Bad-Girl, hatte Lehrern und insgesamt anderen Leuten gegenüber ein freches Mundwerk und schwänzte die Schule. Normalerweise wären diese Eigenschaften kein Grund für Jo, ein Mädchen hochzuschätzen, doch irgendetwas an mir schien ihn zu faszinieren, wenn ich auch nicht wusste, was. Dabei war ich eigentlich nicht mal so übel. Wie gesagt, ich hatte nichts am Hut mit Drogen und dem ganzen Zeug, ich zog mich aus der Affäre, wenn es um Schlägereien ging, und hatte immer eine Ausrede parat, wenn die anderen in einen Laden einbrechen oder das Büro des Direktors verwüsten wollten. Außerdem war ich fast ausnahmslos Einserschülerin (was wiederum niemand aus der Band wissen durfte, da dort Nerds aller Art verachtet wurden). Wieso ich mich dann überhaupt mit denen abgab? Große Frage Nummer zwei. Ich ging erst seit einem Jahr auf diese Schule, da wir umgezogen waren. In der davor war ich keine besondere Persönlichkeit gewesen: Unauffällig, brav, langweilig. Aus irgendeinem Grund hatte ich den Wunsch verspürt, diese Eintönigkeit aus meinem Leben verschwinden zu lassen. Dieser Wunsch wurde mir sogleich am ersten Schultag an der neuen Schule erfüllt, als ich mich auf dem Weg ins Sekretariat in eine Ecke im Keller verirrte, in der ich zum ersten mal Jo antraf. Zuerst war er unfreundlich und grob wie zu jedem anderen auch, doch als er feststellte, dass ich mich nicht davor scheute, ihm patzig zu antworten (immerhin hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nichts von ihm und seiner Gang gehört) stellte er mich einige Tage später gleich seinen Leuten vor. Die Tatsache, dass ich mit Jo abhing, verschaffte mir nicht gerade Freunde. Und da ich das Unglück hatte (auch wenn ich es anfangs als „großes Glück" bezeichnet hatte), als allerersten Menschen an dieser Schule ausgerechnet Jo zu begegnen und mich auch noch mit ihm anzufreunden (wie ich das gemacht hatte, ist mir heute noch rätselhaft), wollte so gut wie keiner etwas mit mir zu tun haben. Vom ersten Tag an wurde ich als ein Bad-Girl bezeichnet, das mit Jo, dem Dealer, und mit Robinson Cruel raubend und kiffend durch die Straßen zog.
Aber das Schlimmste war: Ich konnte mich nicht mehr von ihnen lösen. Erst einmal war es umöglich, einfach so auszusteigen. Zu sagen „Ciao, Leute, ich mach nicht mehr mit, lebt wohl", auch wenn ich es liebend gerne gemacht hätte. Ich hing da drin und kam nicht mehr raus. Stieg ich aus, würden mir Jos zwielichtige Kumpel einen blutigen Besuch abstatten, die Gang würde mir jeden Tag, ob in der Schule oder während der Freizeit, zur Hölle machen und außerdem ... hatte ich sonst niemanden. Durch die Mitgliedschaft in Jos Gang schreckte ich jeden von mir ab, wodurch die übrigen Mitglieder die einzigen waren, mit denen ich was zu tun hatte.
Es gab eine einzige Ausnahme: Liam Payne. Er war der einzige außerhalb der Clique, der mich wie einen normalen Menschen behandelte, mit mir redete und Schulprojekte mit mir machte. Er war damit auch der einzige, der über mein wahres Ich Bescheid wusste. Jetzt könnten alle sagen: Ja, was ist dein Problem? Zeig doch allen, wie du wirklich bist!
Gut, neben den davor bereits genannten Gründen gab es einen weiteren entscheidenden Punkt. Fakt war: Irgendwie gefiel mir dieses Bad-Girl Dasein. Es ... hatte etwas, das ich nicht erklären konnte. Ich war kein Niemand, ich hatte einen Namen an dieser Schule. Man respektierte mich und kam mir nicht einfach blöd. Ich besaß Macht. Ich schämte mich dafür, dass ich an so etwas überhaupt dachte, aber es war nun mal so. Liam versuchte jeden Tag aufs Neue, mich davon zu überzeugen, dass das, was ich abzog, ganz und gar nicht cool war, was ich ja selbst wusste, aber ... ich konnte nicht anders.
So ganz allgemein also: Ich war ein Weichei.
„Du nimmst nie eine", schnaubte Rob gehässig, der beobachtet hatte, wie ich die Zigarette ablehnte. „Egal, ob jetzt oder später. Bist du etwa auch so ein braves Töchterchen, das um acht Uhr zu Hause sein muss?".
Ehe ich schnippisch etwas entgegnen konnte, hatte sich schon Jo eingeschaltet. „Jetzt lass Rikki doch in Frieden. Ihre Sache, wann sie eine Kippe will und wann nicht".
Rob verzog verächtlich die Mundwinkel und murmelte im Weggehen etwas, das sich verdächtig nach „ blöde Schlampe" anhörte.
Jo sah ihm mit eisernem Blick nach, während er einen letzten tiefen Zug von seiner Zigarette nahm, bevor er sie achtlos zu Boden fallen ließ und sich nicht mal die Mühe machte, sie auszutreten. In solchen Momenten musste ich mir auf die Lippe beißen. Ich war engagiert im Umweltschutz. Der beste Weg damit anzufangen, wäre, Jo beizubringen, seine scheiß Zigaretten anständig zu entsorgen. Fehlanzeige. Nicht mal dazu hatte ich den Mut.
„Weißt du ...", begann Jo zu sprechen. „Ich habe das Gefühl, dass es Rob nicht passt, nicht an erster Stelle zu stehen".
Ich wich seinen Augen aus, die meine suchten. „Wieso denkst du das?". Dabei war es so offensichtlich. Dass Rob die Stelle als Anführer anstrebte. Er hatte es satt, Befehle befolgen zu müssen. Außerdem ärgerte es ihn gewaltig, dass ich Jos engste Vertrauensperson war, nicht er, obwohl er schon seit Jahren zur Gang gehörte und ich nicht mal ein einziges. Ich verstand es ja selbst nicht. Merkte Jo nicht, dass ich nicht durch und durch zu der Gang hielt? Dass es fast ausschließlich die Angst war, die mich bei ihnen hielt? Offensichtlich nicht.
Jo grinste; seine schiefen, aber überraschenderweise weißen Zähne blitzten hervor. Er sah wirklich gut aus, das musste man ihm lassen. Tiefschwarzes Haar, grüne Augen, hohe Wangenknochen, volle Lippen. Dafür war sein Charakter in manchen Momenten dreckig genug, um das wieder auszugleichen. Zu meinem Unwohlsein rückte er näher an mich heran. „Ihm gefällt es nicht, dass du wichtiger bist", hauchte er mir seinen nach Rauch stinkenden Atem ins Gesicht.
Ich hielt die Luft an, um nicht lauthals loszuhusten. „Wieso wirfst du ihn dann nicht einfach raus", würgte ich hervor.
Zum Glück lehnte Jo sich wieder ein wenig von mir weg und seufzte. „Er ist ein wichtiger Mann".
Ich kam mir vor wie im Mittelalter oder in einem Kriegs-Sience-Fiction Roman. Wie hatte es so weit kommen können, dass ich hier mit einem der miesesten Jugendkriminellen der ganzen Stadt herumhing? Hätte meine Mutter das gewusst ... Meine Mutter war vor zwei Jahren gestorben, weshalb ich zu meinem Vater, den ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte, und zu seiner neuen Frau ziehen musste. Ich hielt mich so selten wie möglich in dem Haus auf, das ich nach wie vor nicht als mein Zuhause bezeichnen wollte. Mein Vater wusste von den ganzen Fehlstunden und meinem respektlosen Verhalten den Lehrern gegenüber, nahm jedoch an, dass mir der Tod meiner Mutter noch so nachhing, dass ich erst noch eine Weile brauchte, mein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Ich hätte gerne gesagt, dass Sarah, seine neue Frau, die typische Horror-Stiefmutter war, aber das war sie (leider) nicht. Sie war sogar außerordentlich fürsorglich und flippte nie aus, egal, wie unfreundlich ich zu ihr war. Ich wünschte einfach, sie würde mir einen triftigen Grund geben, sie zu hassen.
„Was habt ihr denn wieder zu tuscheln?". Vanny stampfte die Treppe herauf. Ich hatte schon vollkommen vergessen, dass sie auch noch anwesend war.
Jo schenkte ihr ein halbherziges Lächeln. Wenn er wollte, konnte er charmant und ein richtiger Gentleman sein. Auf diese Weise hatte er schon Dutzende von Mädchen herumgekriegt, hatte vermutlich mit ihnen geschlafen und sie dann angeekelt wie ein benutztes Taschentuch fallengelassen. Hätte ich nicht gewusst, dass er unmöglich auf mich stehen könnte, hätte ich gesagt, dass er mich anmachen wollte, aber da er eher auf total heiße Mädchen stand, war das wohl eher nicht der Fall, denn wenn ich etwas nicht bin, dann ein total heißes Mädchen. Ich habe schulterlange, wild gelockte braune Haare, die ich morgens meistens nur kurz kämmte (für eine Frisur, und sei es nur ein normaler Zopf, war ich zu faul), war etwas kleiner, vielleicht einen Meter fünfundsechzig und zu allem Überfluss war ich auch noch dazu verdonnert, eine feste Zahnspange (er)tragen zu müssen.
Vanny stierte mich so feindselig an, dass ich zusammenzuckte. Wieso hasste sie mich so? „Ach, nur Privates", kam es wie automatisch aus meinem Mund geschossen. Na toll, Rike! Pluspunkt!
Vanny fletschte die Zähne, warf mir ihre Kippe vor die Füße und dampfte ab, wobei sie nur den Geruch ihres ekelhaften Deos hinterließ.
Jo lachte leise in sich hinein. „Es ist eine echte Bereicherung, dich in der Gang zu haben".
Das brachte mich dann doch zum Lächeln. Ich wusste nicht, was ich wollte. Einerseits verstand ich mich mit Jo tatsächlich sehr gut, auch wenn er ein Volltrottel war und irgendwie ... irgendwie konnte er manchmal ein echter Freund sein, der für mich da war. Doch andererseits ... er war ein Krimineller. Er machte Schwächere fertig, verachtete Menschen, die anders waren und schikanierte jeden, der ihm zufällig über den Weg lief.
„Damit bist du aber auch der einzige, der so denkt". Zum ersten mal an diesem Tag sah ich ihm in die Augen. Trotz allem schaffte er es immer wieder, mich ihn mögen zu lassen. Seltsam. Ich sollte dringend meine Prioritäten klären, bevor es zu spät war.
„Ach, das sind doch nur Rob und Vanny", winkte Jo ab, legte mir einen Arm um die Schultern und führte mich um das Schulhaus herum auf den Haupteingang zu. „Die sind nur neidisch".
Ich warf ihm einen zweifelnden Blick zu. „Vanny und neidisch?".
„Eifersüchtig", verbesserte sich Jo und zwinkerte mir anzüglich zu. „Sie steht auf mich".
Innerlich verdrehte ich die Augen. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm definitiv nicht. Erschreckend ging mir auf, was das bedeutete: Vanny dachte, Jo und ich wären ein Paar! Was, wenn sie nicht die einzige mit diesem Verdacht war? Vielleicht war schon die ganze Schule davon überzeugt!
Na wenn schon! flüsterte eine Stimme in mir. Bad-Boy und Bad-Girl. Perfekt.
NEIN!
„Oh". Ich lachte atemlos und wand mich ungeschickt aus seinem Arm, damit der Eindruck eines Paares nicht auch noch verstärkt wurde.
Ein Schatten der Verärgerung huschte über Jos Gesicht, den er jedoch sogleich mit einem strahlendem Lächeln überspielte. „Angeblich macht gerade das Gerücht, wir beide seien zusammen, die Runde".
Shit. Damit waren meine Befürchtungen bestätigt. Ein weiteres mal gab ich ein gekünsteltes Lachen von mir, das viel zu schrill war. „Wirklich? Das ist ja lächerlich".
Jo runzelte die Stirn. „Findest du?". Er begann, mit zwei Zigarettenschachteln zu jonglieren. „Ich fände es nicht allzu abwegig".
Rike, mach, dass du wegkommst ...
Zum Glück erhaschte ich genau in diesem Moment einen Blick auf Liam, der dreißig Meter vor uns gerade das Schulhaus betrat. „Tut mir leid, ich muss los". Ich klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
Jo ließ seinen Blick eilig über die Leute wandern, bis er auf Liam fiel. „Du hängst also immer noch mit diesem Streber ab? Was willst du eigentlich mit diesem Trottel? Der passt doch gar nicht in dein Schema!".
Diese Worte gingen mitten durchs Herz. Ich gehörte schließlich auch zu den sogenannten Strebern. Außerdem könnte ich niemals etwas Romantisches mit Liam anfangen, er war für mich wie ein Bruder, der über meine gravierende dunkle Seite hinwegsehen konnte und dafür sorgte, dass der gute, freundliche Teil nicht gänzlich verschwand.
Ehe ich mich versah, blitzte ich Jo wütend an, was man normalerweise nur bedingt wagen sollte. „Falls du damit andeuten willst, dass ich was mit Liam hab, kannst du dir das sonst wohinschieben. Ich muss, äh, Schulkram mit ihm besprechen". Mit diesen Worten trabte ich ihm voraus, bevor er mich am Arm packen konnte.
„Dein Ernst, Rikki?", rief er mir zornig nach. „Seit wann interessierst du dich für die scheiß Schule? Du willst doch nicht zu diesem schwachen Pack gehören, die keine eigene Meinung haben?".
Ich ignorierte ihn und knallte den Flügel der gläsernen Doppeltür hinter mir zu. „Liam!".
Der junge Mann mit den kurzen, an der Stirn leicht aufgestellten Haaren, drehte sich sofort um und lächelte bei meinem Anblick. „Hey, Rike".
„Hey". Zum ersten mal an diesem Tag kam mein ehrliches, ungezwungenes Lachen zum Vorschein. „Den ersten Kurs haben wir ja zusammen, oder?".
Liam nickte und musterte mich prüfend mit seinen treuherzigen haselnussbraunen Augen. „Du bist ja ganz schön durch den Wind. Lass mich raten". Er seufzte. „Du flüchtest vor Jo, dem Arschloch?". „Er ist kein Arschloch", verbesserte ich ihn automatisch. „Du kennst ihn nur nicht richtig. Okay, die meiste Zeit ist er eines, aber er kann auch anders".
„Ja, er könnte. Tut er aber nicht. Gestern haben er und Robinson Cruel einen Fünftklässler zusammengeschlagen. Weil er die Verkehrsregeln beachtet und einen Fahrradhelm getragen hat. Der arme Kerl war hinterher krankenhausreif. Und vor zwei Tagen haben sie einem aus unserem Jahrgang den Arm gebrochen, nur, weil er sich als schwul geoutet hat", informierte mich Liam. Seine Stimme zitterte leicht, was darauf hinwies, wie entzürnt er über diese Ereignisse war. „Ich sag's dir nochmal, Rike. Steig da aus!". Er sah mich durchdringend an. „Bitte. Du schadest dir selbst".
Ich schüttelte betrübt den Kopf. „Li, ich kann nicht einfach aussteigen. Ich hätte es schon lange getan. Aber glaub mir, wenn einem sein Leben lieb ist, steigt man da nicht aus. Ich bin da am Anfang reingerutscht und jetzt muss ich die Konsequenzen tragen".
„Du machst doch keinen Scheiß, oder?".
„Nein, Liam, mache ich nicht. Ich habe mich bis jetzt noch in keine einzige kriminelle Aktivität hineinziehen lassen".
„Gut". Die Erleichterung in Liams Stimme sprach Bände. „So. Und jetzt sagst du mir, was er dir getan hast, dass du so verwirrt bist".
Ich kickte einen imaginären Stein weg. „Ich glaube, der Typ will was von mir", murmelte ich dann gedämpft, damit es auch wirklich nur Liam hören konnte.
Liams Kopf schoss nach oben. „WAS?", schrie er nahezu.
Ich zuckte zusammen. Mit so einer heftigen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. „K-keine Panik, Li. Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit".
„Das will ich auch hoffen", brummte er. „Wenn er sich dir aufdrängt, schlag ich ihn windelweich". Trotz allem kicherte ich. „Das kannst du ja mal versuchen. Davor musst du mir aber noch sagen, welche Blumen du lieber auf deinem Sarg hättest".
In dem Moment rauschte jemand an uns vorbei und rempelte Liam dabei so grob an, dass dieser mit einem überraschten Japsen zu Boden ging und sich der Inhalt seiner Büchertasche auf den Boden entleerte. „Tut mir ja schrecklich leid", zischte Jo, zog Liam am Kragen seiner Lederjacke hoch und rammte ihn gegen die Wand.
„Jo!", brüllte ich stocksauer. „Lass das verdammt nochmal!". Ich stürzte auf die beiden zu und versuchte, Jo von meinem Kumpel, der von diesem um etliche Zentimeter überragt wurde, wegzuzerren, doch Jo bewegte sich kein bisschen.
„Ich sag's dir nur einmal, Streber", flüsterte er Liam ins Ohr, dessen Hände bebten, als ob er mit dem Gedanken spielen würde, sie seinem Angreifer in den Magen zu rammen, doch er war klug genug, es nicht zu tun. Die Folgen wären fatal. „Sehe ich einmal, wie du dich an meine Freundin ranmachst, und du bist tot. Mausetot". Er versetzte ihm einen letzten Stoß und ließ dann von ihm ab.
„Spinnst du?", schrie ich ihn an. „Was fällt dir ein? Ich bin nicht deine Freundin!".
Jo sah mich verblüfft an; offensichtlich war ich wirklich der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der es wagte, seine Stimme gegen ihn zu erheben. „Du gehörst zu mir, Rikki, vergiss das nicht".
„Erstens gehöre ich nicht zu dir. Ich gehöre nur zu mir selbst. Und zweitens ist Liam mein Kumpel und kein fester Freund. Also hör auf, einen Aufstand zu machen". Ich schob mich zwischen die beiden Jungs, um weitere Handgreiflichkeiten zu verhindern.
Jo fletschte die Zähne. „Du weißt schon, dass du dir hier ganz schön was erlaubst?".
„Na und?", gab ich bissig zurück. Woher nahm ich plötzlich den Mut, mich gegen den Anführer zu wenden?
Jo machte erst einen regelrecht geschockten Eindruck, dann verzogen sich seine Lippen zu einem zufriedenen Grinsen. „Das ist die Rike, die ich mag". Ohne ein weiteres Wort und mit einem letzten feindseligen Blick zu Liam zischte er ab, wobei bei jedem seiner Schritte die Metallkette an seiner Hose rasselte.
Liam, der ihm wütend hinterherstarrte, zog energisch seine Jacke zurecht und begann wortlos, seine Sachen in die Tasche zurückzupacken. Die Schüler, die die Auseinandersetzung mit großen Augen verfolgt hatten, zerstreuten sich tuschelnd.
Ich ging neben Liam in die Hocke, um ihm zu helfen. „Li, das tut mir furchtbar leid". Es klang so lahm.
Liam rang sich ein Lächeln ab. „Nicht deine Schuld, Rikki".
Ich suchte nach Worten. „Wenn du dich ab jetzt lieber von mir fernhalten willst, kann ich das aufrichtig verstehen. Wäre wahrscheinlich auch besser, bevor er seine Typen auf dich hetzt und ...".
„Ich werde mich nicht von dir fernhalten", unterbrach er mich.
Ich blickte ihn mit großen Augen an. „Li ...".
„Ich werde wegen diesem Arsch nicht meine beste Freundin im Stich lassen. Wer soll dich denn sonst bei Verstand halten", scherzte er, wenn auch etwas halbherziger als sonst.
Ich wusste nicht, ob es gut oder schlecht war. Natürlich rechnete ich es ihm hoch an, dass er trotz Jos Drohungen an meiner Seite blieb, doch das barg auch ein gewisses Gefahrenpotential für ihn. Je öfter Jo uns zusammen sah, desto höher wurde das Risiko, dass Liam Jos zwielichtigen Handlangern zum Opfer fiel. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ...".
Liam winkte ab. „Solange ich dich nicht küsse".
Bevor ich etwas entgegnen konnte, stieß mich jemand von hinten an. „Was?", schnappte ich aus reiner Gewohnheit, was Liam ungläubig den Kopf schütteln ließ, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
Der Junge, der mich angetippt hatte, machte erschrocken einen Satz nach hinten. „'tschuldigung. Ich dachte nur, das gehört euch". Er hielt mir eines von Liams Heften hin. Ich schaute erst das Heft an, dann ihn. Der Typ war um ein Stück größer als ich (okay, das war kein Kunststück), hatte einen blonden Wuschelkopf und so stechend elektrisch blaue Augen, dass es schon beinahe verwirrend war. Die Tatsache, dass sie im Moment nervös hin und her irrten, machten es auch nicht gerade leichter. Er war ... süß. Entsetzt verbannte ich den Gedanken aus meinem Kopf. Himmel!
„Danke, Blondie", sagte ich knapp, nahm ihm das Heft aus seiner Hand und drehte ihm den Rücken zu. Ich hörte noch, wie er verächtlich schnaubte, bevor er sich in die entgegengesetzte Richtung entfernte.
„Muss das immer sein?", fragte Liam gereizt. „Ich weiß, du tust alles, um dein tolles Image aufrecht zu erhalten, aber das hier NERVT einfach tierisch. Der Typ war nur freundlich".
Ich verdrängte stur die Schuldgefühle, worin ich allmählich richtig Übung bekam. Immerhin tat ich das so gut wie jeden Tag. „Find dich damit ab". Ich drückte ihm das Heft in die Hand und ließ ihn mitten im Gang stehen.
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So, hier ist sie also, meine Fanfiction Nummer 2 :) Ich hoffe, ihr hört nicht alle nach dem ersten Kapitel schon auf zu lesen :D Ich heiße jedes Feedback herzlich Willkommen und freue mich über Votes :)
All the love,
Andi <3
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