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67. Kapitel: Dunkelheit und Licht

Es gibt eine Dunkelheit in jedem von uns, die tiefer und schwärzer ist als eine sternenlose Nacht.

Es ist die Dunkelheit des Schlafs, bevor der unruhige Geist erwacht und Traumgebilde erschafft, in denen die Illusion des denkenden, wahrnehmenden, seienden Ichs aufrecht erhalten wird; surreale Zufluchtsorte vor der absoluten Leere, die in der Dunkelheit lauert und so furchterregend ist, dass der menschliche Verstand sich seiner selbst versichern muss, indem er gottgleich Traumwelten erschafft.

Es ist die Dunkelheit des tiefen Schlafs und der Ohnmacht, Zustände, den kein Verstand fassen kann; in denen das Ich ausgelöscht wird, bevor ein neuronales Feuerwerk beginnt und sich erinnert, dass es so etwas wie ein Ich jemals gab.

Es ist die Dunkelheit des Todes, aus dem es kein Erwachen gibt und die Illusion des Seins sich auflöst in eine willkürliche Ansammlung von Molekülen, Atomen, Neutronen und Protonen: Sternenstaub, der sich für einen winzigen Moment gefunden hat, um einen Blick aufs Universum zu werfen und über die Unendlichkeit zu staunen, ehe er erneut zu Staub zerfällt.

Es ist unmöglich zu verstehen, in welcher Art der Dunkelheit man gefangen ist; ob sie der Vorbote eines Traums oder des Todes ist. Denn in dieser Dunkelheit gibt es kein erkennendes Bewusstsein, kein sich Bewusst-sein, kein bewusstes Sein, das sich in Raum und Zeit verorten kann. Da ist nur Stille und Finsternis und Nicht-Sein. Keine Erinnerungen. Keine Furcht. Keine Hoffnungen. Kein Ich. Es ist ein Zustand der Vollkommenheit, den kein noch zu kleiner Gedankenfetzen stört; den kein Ich verderben kann mit seiner natürlichen Selbstsucht und seinen kleinlichen Ängsten und schwindenden Hoffnungen. Diese Dunkelheit ist alles und nichts zugleich, der Anfang und das Ende, die negierende Antwort auf alle Fragen.

Es gibt eine Dunkelheit in jedem von uns, die ein Versprechen in sich trägt: das Versprechen eines in seiner endgültigen Absolutheit grauenerregenden Friedens.

*******

Der Schmerz durchzuckte die Dunkelheit wie ein strahlender Blitz, schlug mit vernichtender Präzision in die Fetzen meines Ichs und schleuderten es zurück in eine Welt voll Chaos und Lärm und Leid.

Die Knochen meiner linken Hand standen in Flammen; sengende Glut floss in meinen Adern den Arm hinauf, direkt in mein mühsam stolperndes Herz, von wo aus sie durch den Rest meines Körpers gepumpt wurde wie alles verzehrendes Gift und mich beinahe zurück in die Dunkelheit katapultierte.

Ich rang nach Luft, sog sie pfeifend durch meine verengte Luftröhre, schmeckte Fäulnis und Blut, während ich mich in Agonie wand wie die Schlange, die zurück in meine Brust gekrochen war und dort zornig um sich schnappend ihre Fangzähne in meine Rippen grub. Der Schmerz war so durchdringend, dass ich weder wusste wer, noch wo ich war; meine gesamte Existenz war reine, unverfälschte Qual; sie war dafür geschaffen, den Verstand an seiner zarten Wurzel zu packen und auszureißen, nur um dann wuchernden Wahnsinn zu pflanzen; es war so viel leichter, sich diesem wilden Wahnsinn hinzugeben, statt mit schwindender Kraft zu versuchen, die grausame Wirklichkeit Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. Sie würde eh erneut zerbrechen, kaum dass man die Augen aufschlug. Also kapitulierte ich und der Wahnsinn beschloss, dass es in der identitätslosen Dunkelheit viel angenehmer gewesen war als hier und kehrte um, um dort zu bleiben: dieses Mal für die Ewigkeit.

Aber dann entzündete sich in einer fernen Galaxie eine junge Sonne, zunächst kaum mehr als ein stecknadelkopfgroßer Punkt, der jedoch rasch anwuchs, sich ausdehnte und die Dunkelheit mit brutaler Macht zurückdrängte. Der Wahnsinn murrte gereizt und verkroch sich in den flackernden Resten der Dunkelheit, das Unausweichliche nicht aufhaltend, aber wenigstens aufschiebend, denn er kannte dieses sich ausbreitende, aufdringliche Licht nur zu gut und wusste, es würde nicht aufhören sich zu widersetzen, niemals. Doch letzten Endes unterlag der Wahnsinn.

Das goldene Licht war warm, umhüllte mich und setzte die Fetzen meines zerrissenen Ichs zusammen, ehe es mich der Dunkelheit mit einem wütenden Brüllen entriss. Nur ein winziges Stückchen von mir blieb zurück, sich unbemerkt an die Dunkelheit klammernd, die so viel sicherer war als die Welt, welche der Verstand Realität nannte. Ich spürte, wie sich dieses unscheinbare Stückchen rasend schnell entfernte, während der Rest meines Selbst zurückkatapultiert wurde an einen Ort, den Raum und Zeit schmiedeten und meiner Existenz einen vergänglichen Platz aus Atomen, Zellen, Gewebe, Blut, Fleisch und Knochen zuwiesen: Eine Hülle, in die sich mein Bewusstsein nur widerwillig fügen wollte, bis es das Unvermeidliche akzeptierte und vorsichtig begann, die Scherben meines Seins zu überblicken.

Da war ein warmes Pulsieren in meiner linken Hand, ein zweiter Herzschlag, ruhiger und stärker als mein eigener, aus dem Takt geratener, der sich in meinem schmerzenden Hinterkopf spiegelte; ein glitschiger Untergrund, über den meine tastenden Finger glitten; scharfkantige Splitter, vor denen meine Finger zurückzuckten; Feuchtigkeit, die schwer an mir hing; perlende Tropfen auf meiner Haut wie tausend Nadelstiche, mich an etwas erinnernd, das ich vergessen wollte.

Die dumpfe Stille in meinen Ohren wich den hohen Klängen ferner Glocken, und dann, viel näher, dem steten, sanften Tropfen von Wasser, dessen Rhythmus sich meine wiederkehrenden Erinnerungen anpassten.

Tropf

Hieronymus hatte mich gefunden

Tropf

und ins Gewächshaus geführt

Tropf

zu einem Brunnen

Tropf

und dann hatte er mich hineingestoßen und etwas geweckt

Tropf

das nicht geweckt werden durfte.

Tropf.

Ein Wimmern, lauter als das Tropfen und die Glocke.

Nein, nicht lauter. Viel dichter.

Es war mein Wimmern, kläglich und schwächlich.

Vertraut.

Und verhasst.

Blut netzte meine Lippe, als ich auf die Innenseite meiner Wange biss. Zu gut kannte ich dieses Wimmern. Zu gut erinnerte ich mich daran, mir einst geschworen zu haben, es nie wieder zu hören. Also biss ich kräftiger zu, bis aus dem Wimmern ein kaum unterdrückter Schmerzschrei wurde, der sich an meinen fest zusammengepressten Lippen brach. Genauso hatte ich es vor etwa einem Jahr getan. Und genauso wie damals wusste ich, was mich erwartete, sobald ich die Augen öffnete.

Zuerst sah ich ein verschwommenes, goldenes Schimmern direkt vor meiner Nase, schwach pulsierend im Takt meines eigenen Herzschlags. Ich blinzelte, bis sich mein Blick scharf stellte und ich den warm glühenden Stein inmitten des Drahtgeflechts auf meinem Handrücken erkannte. Dass ich hier war, dass ich wieder ich war und der Stein glühte, als befände sich in seinem Innersten eine winzige Sonne, bedeutete, dass die Samadu reagiert hatte.

Ich lag zusammengekauert in einer modrigen Pfütze, inmitten scharfkantiger, von glitschigen braunen Algen überzogener Splitter. Der Brunnen war Geschichte, seine Steinmauer weggesprengt und als schwarz schimmernde Trümmer auf dem Rondeau verteilt, das von einer hauchdünnen rötlichbraunen Lache überzogen war wie von wässrigem Blut. Es perlte von den zerrupften Farnen und Sträuchern und den wenigen noch aufrecht stehenden Blumen am Rande des Rondeaus, als wäre ein Taifun über sie hinweggefegt.

Die Nephilim nannten Ulfi einen Meister, doch sein Werk hatte zu spät reagiert und weder Zerstörung noch Tod verhindern können.

Dort, wo einst die Brunnenmauer gewesen war, ragte nun kaum mehr als ein scharfkantiges Fundament wie ein schauriges Maul voller scharfer Reißzähne aus dem Boden. Gleich dahinter lag regungslos ein unförmiges, gelb und malvenfarbendes Bündel.

Mich auf meinem Arm aufstützend erkannte ich ein blondes Haarbüschel.

Hieronymus.

Eine zugleich eisige als auch glühend heiße Welle der Furcht und des Abscheus ließ mich den Blick abwenden. Eisige Furcht davor, Hieronymus würde erneut die Worte sprechen, die das Ding geweckt hatten. Glühender Abscheu, weil ich mir bei seinem Anblick innigst wünschte, er sei tot, verreckt an dem unaussprechlichen Grauen, das er selbst herbeigerufen hatte.

Dann entdecke ich Kadi und vergaß Hieronymus.

Sie saß zwischen zerrupften Farnen, die Beine von sich gestreckt, den Oberkörper so weit vorgebeugt, dass ihr nasses Haar ihr Gesicht verbarg.

»Kadi!« In meiner Stimme schwang noch ein Rest des verhassten Wimmers, doch dieses Mal achtete ich nicht darauf.

Die Staffelführerin rührte sich nicht.

Nein. Nein nein nein.

Meine Füße rutschten auf dem glitschigen Untergrund weg, als ich zu schnell aufspringen und zu ihr eilen wollte. Splitter gruben sich in mein Knie und meine Handballen und ich schrie vor Wut und Schmerz und Angst und versuchte sofort, wieder auf die Beine zu kommen. Erneut geriet ich ins Rutschen, doch diesmal stemmte ich die Füße schnell genug auf den tückischen Untergrund und balancierte mein Gewicht aus. Mehr schlurfend als laufend, mit den Stahlkappen der Stiefel die faustgroßen Steinbrocken zur Seite schiebend, bahnte ich mir den Weg durch die Trümmer des Brunnens, vorbei an Hieronymus, den Blick unverwandt auf Kadi gerichtet.

Wenn sie ...

Wenn ich sie ...

Wasser tropfte unablässig auf mich herab und ich versperrte mich der Vorstellung, mit welcher vernichtenden Wucht das Wasser in alle Richtungen geschossen sein musste, wenn es selbst die dunkle Glaskuppel weit über mir getroffen hatte.

Schlitternd überquerte ich das Rondeau und mein Herz stolperte, als ich neben Kadi auf die Knie ging und sie im selben Moment den Kopf hob.

Sie lebte. Ihr kalkweißes Gesicht war von unzähligen, blutigroten Kratzern übersäht, aber sie lebte.

»Sorry, Rookie.« Das stete Tropfen verschluckte beinahe ihre leisen Worte. »Ich habe nicht auf dich aufgepasst.«

Ich schüttelte abwehrend den Kopf. Verfluchte Nephilim und ihre Befehlshörigkeit. Kadi sah aus, als hätten sie Dutzende herumgeschleuderte Steinsplitter getroffen und das Erste, was ihr einfiel, war sich zu entschuldigen, weil sie ihrer Meinung nach Elions Befehl nicht nachgekommen war. »Das war nicht deine Schuld«, stieß ich gepresst hervor und ließ eilig meinen Blick auf der Suche nach Verletzungen über sie gleiten. An ihren Beinen und Oberarmen waren überall blutige Schnitte, doch keiner wirkte tief genug, um lebensgefährlich zu sein.

»Dieses Scheißfoto hat mich abgelenkt«, murmelte Kadi. Mit dem Kinn deutete sie zur Seite, wo in der Wasserlache das Foto schwamm, das Hieronymus ihr gereicht hatte. »Meister des Papiers ...« Kadi lachte rau auf. »Hinter seinem Rücken haben wir uns immer über seine nutzlose Gabe lustig gemacht. Dabei hätte ich es eigentlich besser wissen müssen.« Sie beugte sich zurück und offenbarte ihre Unterarme, die sie unter ihrem Oberkörper verborgen gehalten hatte.

Zischend sog ich die Luft ein.

»Immerhin hat sich ja jeder schon mal an einem Blatt Papier geschnitten, nicht wahr?« Ihre rechte Hand war nur noch ein blutiger Stumpen, aus dessen unnatürlich geradkantigen Ende weißlich Knochen- und Sehnenenden lugten, wo eigentlich Finger hätten sein müssen. Nur noch ihr Daumen war vorhanden, über dem ersten Glied scharf eingeschnitten, als hätte sie direkt in eine Messerklinge gegriffen.

»Kadi ...« Ich versuchte zu verstehen, was ich da sah. Zu verstehen, was geschehen war.

»Halb so wild, Rookie.« Sie öffnete ihre unversehrte Hand und endlich setzte sich das Bild zusammen, das sich mir bot. In ihrer Hand lagen vier blutleere Finger, säuberlich abgetrennt und dennoch kaum als etwas zu erkennen, das vor kurzem noch mühelos einen roten Flummiball hätte halten können. »Ich hab sie aufgesammelt, gleich nachdem ich meinen Arm mit einem Schnürsenkel abgebunden habe. War gar nicht so einfach, sie in diesem Durcheinander zu finden« Ihre Stimme begann zu beben. »Dachte, irgendein fähiger Heiler könne sie bestimmt wieder annähen, oder?«

Ich schluckte mein Entsetzen herunter. Trotz des Schnürsenkels, den sie fest knapp unterhalb ihres Handgelenks gebunden hatte, um die Blutzufuhr unterbrechen, sah ich die leuchtend roten Rinnsale, die aus den fünf verheerenden Wunden traten und sich zwischen ihren Beinen ausbreiteten. Kadi stand unter Schock. Ich musste jemanden holen, der ihr helfen konnte und durfte keine Zeit verlieren, indem ich all das hier zu nah an mich herankommen ließ und dadurch selbst in Schockstarre verfiel. »Auf jeden Fall«, sagte ich so fest wie möglich. »Eure Heiler sind Halbgötter, die kriegen das schon hin. Vielleicht bekommst du sogar ein Update und hast am Ende sechs Finger.«

Kadi grinste schwach. »Das wäre supercool.«

»Finde ich auch. Und jetzt erklärst du mir so einfach wie möglich, wie ich mit dem Synphonon Hilfe rufen kann, ok?«

»Habe ich das noch nicht gemacht?« Kadi runzelte die Stirn. »Wie konntest du dann Fanpost an den Primus versenden?«

»Gar nicht«, sagte ich ruhig und griff nach Kadis Schulter, als sie gefährlich Schlagseite bekam. »Und jetzt konzentrier dich und erklär mir, wie das Scheißding funktioniert!«

»Ich habe ihm geschrieben.« Ihre Worte wurden zu einem nuschelnden Lallen. »Keine Fanpost, sondern dass hier etwas nicht stimmt. Ehrlich.«

»Das weiß ich«, sagte ich rasch. Auffordernd hielt ich ihr mein Handgelenk mit dem Synphonon vor die Nase. »Komm, verrate mir einfach, wie ich meine Fanpost verschicke, ja?«

»Das wird dir noch eine Menge Ärger einbringen, Fangirl.« Ihr Grinsen erstarb, ihr Blick wurde starr. »Eine Menge, Menge Ärger.«

Fluchend schlang ich meinen Arm um sie, als ihre Augen nach hinten rollten und die abgeschnitten Finger aus ihrer kraftlosen Hand ins Wasser fielen. Panik ballte sich in meinen Bauch zusammen und drohte, an die greifbare Oberfläche meines Bewusstseins zu drängen. Doch dann hörte ich eilige platschende Schritte und ein Hoffnungsschimmer drängte die Panik zurück. Jemand kam. Womöglich Elion selbst, aber das war jetzt eigentlich egal, so lange Hilfe nahte.

Abrupt stoppten die Schritte. Ich sah auf und der Hoffnungsschimmer verblasste. Von allen verdammten Nephilim in diesem Scheißladen musste ausgerechnet der aufkreuzen, den ich gerade am allerwenigsten gebrauchen konnte.

Jaro Irgendwer stand wie angewurzelt auf dem überfluteten Pfad. Der Verband, der seine zerstörte Gesichtshälfte verbarg, war verdreckt, die andere zerschrammte Gesichtshälfte zierte ein blauviolettes Veilchen, das von seiner gebrochenen Nase bis zu seinen Wangenknochen erblühte. Den Arm, den Simon ihm gebrochen hatte, war mit Hilfe eines Gürtels als provisorische Schlinge vor seinem Bauch angewinkelt, und ja, ich hätte beinahe Mitleid mit seinem durch und durch ramponierten Anblick gehabt, hätte er in der rechten Hand nicht eine mit Grünspan überzogene Eisenstange gehalten, ähnlich denen, die aus der Gartenmauer ragten, und eindeutig dafür vorgesehen, mich damit aufzuspießen oder zu Tode zu prügeln. Der Gedanke, dies sei vielleicht nicht die schlechteste Lösung meines Problems, blitzte auf. Doch noch war Jaro Irgendwer damit beschäftigt, das sich ihm bietende Bild des Todes und der Zerstörung zu verarbeiten und die Mischung aus Angst und Irritation in seiner schwarzen Iride zeigten deutlich, dass er damit massive Probleme hatte. In diesem Moment wirkte er erstaunlich wenig furchteinflößend, eher entsetzt und verwirrt, und ich beschloss innerhalb eines Wimpernschlags, diese unerwartete Schwäche auszunutzen; nicht um mich, sondern um Kadi zu retten.

»Steh da nicht so blöd glotzend rum!«, blaffte ich ihn an. »Ruf gefälligst Hilfe, einen Heiler, oder nein, besser gleich zehn von ihnen!«

Er registrierte den zerstörten Brunnen, den leblosen Hieronymus, selbst die Glaskuppel musterte er, bis sich sein schwarzes Auge endlich auf mich richtete, nur um gleich darauf tiefer zu gleiten, dorthin, wo noch immer der Stein der Samadu leuchtete. Sein Auge weitete sich vor Überraschung.

Ich knurrte ungeduldig. »Hast du nicht gehört? Benutz dein beschissenes Synphonon und ruf Hilfe!« Ich sah auf die Eisenstange in seiner Hand. »Meinetwegen kannst du mich danach in einen Schaschlikspieß verwandeln, aber erst machst du dich gefälligst nützlich!«

Ein Ruck ging durch ihn hindurch, als müsse er sich ebenso wie ich zwingen, im Hier und Jetzt zu bleiben. »Ich trage kein Synphonon.«

Das fiel mir jetzt auch auf. »Dann sag mir, wie ich mit meinem Hilfe rufen kann!«

»Hat dir denn niemand erklärt, wie die Teile funktionieren?«, fragte er so absolut dümmlich, dass ich die Augen schließen und bis drei zählen musste, um nicht vor Wut einen Schreianfall zu bekommen.

Dann öffnete ich sie wieder und sah ihm fest in sein verbliebenes Auge. »Ich schwöre dir, Jaro Irgendwer, wenn meine Staffelführerin mir wegen dir unter den Fingern wegstirbt, ramme ich dir deine Scheißeisenstange in deinen Scheißarsch und höre erst auf, sobald sie oben wieder aus deinem Scheißmaul rauskommt!«

Seine schwarzen Wimpern zuckten kurz. Dann legte er behutsam die Eisenstange zu Boden und stieß sie mit dem Fuß beiseite. »Was fehlt ihr?«

Am liebsten hätte ich aufgeheult vor Frust. »Ihre verdammten Finger!«

»Daran stirbt ein Naphil nicht so schnell.« Er nickte in Richtung Hieronymus. »Was ist mit dem da?«

»Ist mir scheißegal!«, lautete meine nicht ganz ehrliche Antwort. Es war mir nicht egal, was mit Hieronymus war, denn ich hoffte innig, dass er tot war. Auch wenn dieser Tod ein weiterer sein würde, der auf meine Kappe ging. Langsam kam es wirklich nicht mehr drauf an. Schon gar nicht bei ihm.

Jaro Irgendwer rieb sich mit Mittel- und Zeigefinger das Kinn, auf dessen wunder Haut sich ein dunkler Bartschatten abzeichnete. »Mir aber nicht. Ein toter Ältester bedeutet Schwierigkeiten. So wie ich das überblicke, hast du davon schon ausreichend genug.« Mit langsamen, sicheren Schritten näherte er sich Hieronymus.

»Was geht dich das an?«, fauchte ich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Kadi hing schlaff in meinen Armen und drohte, mir wegzurutschen, und der elende Pisser hatte nichts Besseres zu tun, als sich in aller Seelenruhe umzusehen. Wäre da nicht eh schon die Ich-bring-dich-um-Sache zwischen uns gewesen, hätte ich ihn spätestens jetzt nicht mehr leiden können. Kurz gesagt: Dieser durch und durch nutzlose Drecksack strahlte förmlich das Bedürfnis aus, erneut verprügelt zu werden.

»Eine Menge«, antwortete Jaro Irgendwer, ging neben Hieronymus in die Knie und drückte seine Finger gegen dessen Hals. »Dein Tod gehört mir, nicht dem Orden.« Er wischte sich die Finger an seiner Hose ab und sah zu mir herüber. »Wäre der Mann hier tot, hätte ich die Dinge auf unerfreuliche Weise beschleunigen müssen.«

Ich würdigte seiner erneuten Todesdrohung keiner Antwort. Ihr Schrecken nutzte sich zunehmend ab, wie das stumpfe Blatt einer Säge, mit der man Felsen spaltete. Jaro Irgendwer wollte mich also nach wie vor umbringen, Hieronymus lebte bedauerlicherweise und Hilfe war nach wie vor nicht in Sicht – sei's drum, ich erwartete gar nicht mehr vom Leben, dass endlich mal irgendetwas glatt lief.

Aber währenddessen drohte Kadi zu verbluten und ich mit jedem eisigen Tropfen Wasser, der von der Glaskuppel hinab in meinen Nacken fiel, die Nerven zu verlieren.

Mein Blick zuckte zurück zur Eisenstange, die Jaro Irgendwer achtlos liegengelassen hatte. Sollte Hieronymus aufwachen und beschließen, einen erneuten Versuch zu starten, das Ding in mir zu wecken, würde ich Jaro Irgendwems Morddrohungen einen Strich durch die Rechnung machen und Hieronymus eigenhändig diese verfluchte Eisenstange über den Schädel ziehen, bis er sich nie wieder rührte. Sollte der Orden dann doch mit mir machen, was er wollte.

Wann genau rohe Gewalt für mich ein Mittel der Wahl geworden war, konnte ich nicht sagen. Doch lieber sah ich der Hinrichtung aufgrund eines Mordes entgegen, als erneut in eine leere Finsternis verbannt zu werden, während das Ding in mir Amok lief. Das war keine normale Bewusstlosigkeit gewesen, in der mich wiedergefunden hatte. Dafür erinnerte ich mich zu gut an die erschreckende Dunkelheit um mich herum. Das war ein Gefängnis gewesen, erbaut in meinem eigenen Verstand, und das, verdammt noch mal, jagte mir im Gegensatz zu Jaro Irgendwer tatsächlich eine Scheißangst ein.

»Ulfberths Samadu funktioniert also«, stellte Jaro Irgendwer fest, als hätte er meine Gedanken gelesen. Er hatte von Hieronymus abgelassen, hob einen Splitter des Brunnens hoch und betrachtete ihn eingehend von allen Seiten. »Nur nicht schnell genug.«

Trotz der Schwüle des Gewächshauses begann ich, in meiner nassen Kleidung zu frieren.

Wir mussten hier raus. Schnell.

Also kniff ich die Augen zusammen, während ich nach den abgetrennten Fingern griff, die wie bleiche tote Würmer zwischen Kadis Beinen lagen, und steckte sie eilig in meine Hosentasche. Dann schob ich meine Schulter unter Kadis Achseln, umfasste ihre Taille mit beiden Armen und hievte sie hoch.

Das Gewicht eines bewusstlosen Körpers zu halten war, als versuchte man, einen gut siebzig Kilogramm schweren Sandsack so behutsam wie möglich zu tragen und gleichzeitig einen eleganten Walzer mit ihm zu tanzen: Kaum trat ich ächzend einen Schritt in Richtung des Pfades, der uns aus dem Gewächshaus führen sollte, als Kadi langsam aber unaufhaltsam nach unten rutschte.

»So schaffst du es niemals mit ihr aus diesem Gewächshaus«, kommentierte Jaro Irgendwo meinen Versuch, die Staffelführerin zu retten.

»Entweder du hilfst mir«, keuchte ich über Kadis beängstigend schlaff herabhängenden Kopf hinweg und schaffte einen weiteren schleppenden Schritt, »oder du fickst dich ins Knie.«

»Da du und deine Freunde mich zum Krüppel geschlagen habt, dürfte mir sowohl das Eine als auch das Andere schwerfallen.«

»Tja, man bekommt eben, was man verdient.« Mit einem wütenden Knurren zog ich Kadi ein Stück höher, damit ihre Beine nicht in einem unnatürlichen Winkel über den nassen Boden schleiften, während ich mich Schritt für Schritt dem Pfad näherte.

»Da ist was dran«, bestätigte Jaro Irgendwer düster, nur um gleich darauf einen freundlichen Ton anzuschlagen. »Du solltest sie ziehen statt zu versuchen, sie zu tragen. So könntest du bestimmt zehn, elf Meter zurücklegen, bevor dich deine Kräfte verlassen und du unter ihrem Gewicht zusammenbrichst.«

»Was kümmert es dich?« Endlich erreichte ich den Pfad. Die dunkle Erde hatte sich in zähen Schlamm verwandelt, in die Kadis Hacken tiefe Furchen gruben. »Wenn ich am Boden liege, kannst du mich doch viel leichter umbringen.«

Jaro Irgendwer folgte uns mit wenigen Metern Abstand. »Dazu müsste ich dich nicht erst auf dem Boden haben.«

»Ach ja?« Kadis Gewicht zerrte unablässig an meinen Armen. »Das letzte Mal, als du mich zu Boden gebracht hast, habe ich dir die Nase gebrochen und deine Stimme ein paar Oktaven höher klingen lassen.«

Er schnalzte mit der Zunge. »Zugegeben, aber zu meiner Verteidigung lässt sich anführen, dass ich latent abgelenkt war.«

»Latent?«, keuchte ich. »Du hast gesabbert wie ein notgeiler Wichser.« Kadis rechter Stiefel, dessen Schnürsenkel die Blutung an ihrer Hand in Schach hielt, löste sich im tiefen Schlamm von ihrem Fuß.

»Jeder hat eine Schwachstelle«. Jaro Irgendwer bückte sich und hob den Stiefel auf. »Jetzt kennst du meine. Das macht es irgendwie fairer, findest du nicht?«

Kadi rutschte tiefer, bis ihre Arme links und rechts meines Kopfes in die Höhe ragten. Ich biss die Zähne zusammen und hievte sie erneut ein Stück höher. »Deine Schwachstelle sind also wehrlose Frauen. Hätte kaum gedacht, dass du in meiner Achtung noch weiter sinken könntest.«

»Oh, bei mir gibt es immer Luft nach unten und glaub mir, es geht ziemlich tief hinab.« Er warf den Stiefel in die Luft und fing ihn wieder auf. »Abgesehen davon bist du nicht wehrlos: Du hast mich in einem unfairen Kampf mit unfairen Mitteln geschlagen. Das macht dich zu einer weit fähigeren Kriegerin als den Rest dieser Vollidioten, die sich Nachfahren der Götter schimpfen.«

Auch Kadis Socke gab dem gierigen Schlamm nach und rollte sich nach und nach über ihren Fuß. Wenn ich nicht gerade damit beschäftigt gewesen wäre, meinen Ausflug ins Nirgendwo zu verdrängen sowie Kadis Leben zu retten, hätte ich mich über Jaro Irgendwers eigentümliche Formulierung ebenso gewundert wie darüber, mit einem meiner potenziellen Mörder einen Plausch zu halten, als befänden wir uns auf einem friedlichen Spaziergang.

»Sieh dich doch an«, fuhr Jaro Irgendwer fort, bückte sich erneut und angelte mit dem kleinen Finger nach Kadis verlorener Socke. »Du weißt, dass du diese Frau niemals bis zum Tempel schaffen kannst, weil du viel zu schwächlich dafür bist. Dennoch versuchst du es, wider aller Vernunft.«

Ein halb erstickter Wutschrei entrang meinen Lippen, als ich Kadi nicht mehr halten konnte und sie durch meine Arme rutschte, bis sie mit dem Hintern im Schlamm landete und ich erst im letzten Moment ihren Arm greifen konnte, ehe ihre verletzte Hand in einen Brutherd für eine sofortige Blutvergiftung landete.

Widerwillig gestand ich mir ein, dass Jaro Irgendwer womöglich doch Recht gehabt hatte. Also packte ich Kadi mit beiden Händen unter den Achseln und schleifte sie mehr liegend als aufrecht durch den Schlamm. »Das ist das mit Abstand beschissenste Kompliment, das ich je bekommen habe!«

»Das war kein Kompliment, sondern die offensichtliche Wahrheit.« Mit Kadis Stiefel deutete er erst auf sie und dann auf mich. »Weiß du, du könntest sie auch einfach hier liegen lassen und loslaufen, um Hilfe zu holen.«

Darauf war ich auch schon gekommen, aber das hätte bedeutet, sie mit Hieronymus alleine zu lassen. Er hatte ihr skrupellos mit Hilfe seiner Gabe die Finger amputiert. Was würde geschehen, wenn er erwachte, ich fort war und er beschloss, die Zeugin seines Angriffs zu beseitigen? »Warum läufst du nicht selbst los?«, knurrte ich Jaro Irgendwen an. »Deine Beine scheinen ja noch ganz gut zu funktionieren.«

Jaro Irgendwers schwarze Augenbraue kräuselte sich »Sollte es mich beunruhigen, dass du noch gesagt hast?«

Wie weit verflucht noch mal war es bitte schön bis zum Ausgang? Ja, das Gewächshaus war ziemlich groß, aber so wie ich schwitzte, hätte man meinen können, ich hätte Kadi bereits mehr als einen Kilometer weit mit mir geschleift. Aber wenn wir es erst einmal in den Garten geschafft hatten, wurde möglicherweise jemand auf uns aufmerksam, der hilfsbereiter war als mein zukünftiger Mörder.

»Du bist nutzlos, nervig und willst mich umbringen«, stieß ich hervor. »Du kannst also selbst schlussfolgern, welche Konsequenzen dein beschissenes Verhalten für deine Beine nach sich ziehen wird.« War es clever, jemanden zu reizen, der es sowieso schon auf mein Leben abgesehen hatte? Definitiv nicht. Aber momentan war ich viel zu beschäftigt, um mich in lebensrettender Freundlichkeit zu versuchen.

Zu meiner Überraschung lachte Jaro Irgendwer amüsiert auf, dabei wusste ich doch schon, dass er nicht zurechnungsfähig war und jede unerwartete Reaktion genau das war, was man bei ihm erwarten musste. Aber wie er selbst gesagt hatte: Bei ihm gab es eine Menge Luft nach unten.

»Ich wusste in dem Moment, als dein entzückendes Knie meine Eier zerquetschte, dass du eine erfrischend brutale Ader an dir hast. Es allerdings aus deinem reizenden Mund zu hören macht die ganze Sache noch viel, viel interessanter.«

Angewidert sah ich auf. Eine feuchte Haarsträhne hing vor meinen Augen und nervte mich beinahe mehr als Jaro Irgendwer. Beinahe. »Flirtest du etwa gerade mit mir?«

»Indem ich deinen Hang zu roher Gewalt positiv hervorhebe?« Jaro Irgendwers Mundwinkel zuckte. »Schon möglich.«

Mit der Schulter wischte ich mir die Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist absolut durchgedreht.«

»Witzig, dasselbe sagen sie im Tempel über dich«, erwiderte Jaro Irgendwer leichthin. »Ist es nicht toll, wie viele Gemeinsamkeiten wir haben? Wir sollten Partner werden. Zusammen wären wir ein unschlagbares Team.«

Das eigentümliche Gefühl eines Deja-vus nistete sich am Rande meines Bewusstseins ein, doch es verflog, als mein Rücken unter Kadis Gewicht knackte. »Wir haben genau eine Gemeinsamkeit, und mein Wahnsinn ist nicht einmal annähernd so krank und pervers wie deiner.«

»Ach, so groß ist der Unterschied gar nicht. Ich hatte einfach ein bisschen mehr Zeit, ihn zu kultivieren«, entgegnete Jaro Irgendwer. »Wart's nur ab: Zwei, drei Traumata mehr und du holst zu mir auf.«

»Und eines dieser Traumata ist der Moment, in dem du mich umbringst?«, fragte ich grimmig.

»Ich hatte eigentlich vor, deinen Tod schmerzfrei zu gestalten, aber wenn dir ein paar zusätzliche Qualen für die Persönlichkeitsentwicklung lieber sind, lasse ich gerne mit mir reden.« Er beschleunigte seine Schritte, ging an Kadi und mir vorbei und verschwand hinter meinem Rücken. Gerade als ich glaubte, jeden Moment seine kräftige Hand in meinem Nacken zu spüren, mit der er ihn brechen würde wie einen trockenen Zweig, hörte ich eine Tür quietschen.

Ich warf einen Blick über meine Schulter. Jaro Irgendwer hielt die Gewächshaustür geöffnet und deutete trotz seines gebrochenen Arms und des Stiefels und der Socke in seiner Hand eine formvollendete Verbeugung an, als hätte er mir gerade gentlemanlike die Tür zu einem noblen Bonzenrestaurant geöffnet. »Mein Glückwunsch, Marika: Du hast es weiter geschafft, als ich dir zugetraut hätte. Mein Fehler.«

Die Luft, die durch die Tür ins Gewächshaus drang, war kaum kühler, dafür aber angenehm trocken, und ich wäre vor Erleichterung fast zusammengebrochen, diese elende Todesfalle von Gewächshaus endlich verlassen zu können.

Ich schleifte Kadi hinaus und spürte sofort die brennende Sonne in meinem verschwitzten Nacken. Die Glocke, deren gedämpftes Läuten im Gewächshaus unter Jaro Irgendwers nutzlosen Worten untergegangen war, klang nun viel lauter und heller.

Krachend schlug Jaro Irgendwer die Tür hinter sich. »Jetzt musst du es nur noch durch den Garten voller Giftpflanzen schaffen, ohne dass du oder die Naphil eine von ihnen berührt, dann die Treppen hinauf zur inneren Tempelmauer überwinden und hoffen, dass dir einer der Nephilim zur Hilfe eilt, statt sich auf einen aussichtslosen Kampf mit einem Gott vorzubereiten. Anderenfalls wird dein Weg ein ganzes Stück länger.«

Ich war es bereits so gewohnt, kein Wort Jaro Irgendwers großartige Bedeutung beizumessen, dass die wesentliche Information beinahe an mir vorbeigerauscht wäre.

Schwer atmend hielt ich inne, lehnte Kadi mit dem Rücken gegen meine Beine und achtete darauf, dass ihre Hand nicht den sandigen Boden berührte, ehe ich mich mit ziehenden Muskeln im unteren Rücken aufrichtete und Jaro Irgenwen alarmiert anblinzelte. »Sie bereiten sich auf einen Kampf vor?«

Jaro Irgendwer machte eine abwertende Bewegung mit der Hand, indem er Kadis Stiefel und Socke hin und her schlenkerte. »Wie man's eben nimmt. Sie haben eine unbekannte Signatur mit außerordentlich mächtiger Energie auf dem Tempelgelände registriert und suchen jetzt wie eine Horde aufgeschreckter Erdmännchen nach ihrer Quelle.«

Ich sah hinab auf die Samadu, deren Stein selbst im gleißenden Sonnenlicht noch deutlich sichtbar leuchtete. Die Glocken hatten in dem Moment angefangen zu läuten, als Hieronymus mich in den Brunnen gestoßen und bei mir die Lichter ausgegangen waren. Oder hatte ich mir das Läuten im letzten bewussten Wimpernschlag, der mir noch geblieben war, nur eingebildet?

»Und sie glauben, die Signatur käme von einem Gott?«, fragte ich angespannt, während ich meine Schultern rollte und meine viel zu schnell schwindenden Kräfte mobilisierte, um Kadi in Sicherheit zu bringen.

»Von wem sonst?« Jaro Irgendwer legte den Kopf in den Nacken, schloss das Auge und badete sein zerfetztes Gesicht im Sonnenlicht. »Selbst der Primus könnte nicht genug Macht aufbringen, um solch einen Alarm auszulösen.« Sacht schlug er mit dem Stiefel gegen seinen Oberschenkel und sein Auge öffnete sich einen lauernden Spalt breit. »Apropos: Wo ist der Primus eigentlich? Sollte er nicht auf dich aufpassen?«

»Ich kann ganz gut alleine auf mich aufpassen!« Entschlossen packte ich Kadi erneut unter den Achseln und zog sie den staubigen Trampelpfad entlang, mich immer wieder umblickend, ob eine möglicherweise giftige Pflanze ihn kreuzte. Währenddessen versuchte ich, Ruhe zu bewahren. Es gab drei Möglichkeiten, wodurch der Alarm ausgelöst worden war.

Erstens: Ein Idrin griff den Tempel an. In dem Falle wäre ich hier draußen – schutzlos und nur in Begleitung eines Wahnsinnigen und einer bewusstlosen Staffelführerin – am Arsch.

Zweitens: Das Ding in mir war mächtig genug, um im Moment seines Hervortretens sämtliche Messinstrumente der Nephilim aufschreien zu lassen. Simon hatte bereits vermutet, dass der Schatten in mir verdammt mächtig sein musste. Wenn der Orden herausfand, dass ich der Ursprung einer Signatur war, die eigentlich nicht zu mir gehörte, würde ich schneller auffliegen als ich feststellen konnte, am Arsch zu sein.

Drittens: Der Teufel persönlich hatte es endlich geschafft, uns zu finden und sich Zugang zum Tempel verschafft. In dem Fall sah das Ergebnis genauso aus wie bei Möglichkeit eins und Möglichkeit zwei, mit nur einem kleinen Zusatz: Ich war am Arsch und meine Seele würde auf kürzestem Wege zur Hölle fahren.

Plötzlich klang das Glockenläuten wie das meiner eigenen Beerdigung.

Kein Grund, gleich in Panik zu verfallen. Nicht, bevor Kadi in Sicherheit war. Doch Jaro Irgendwer hatte einen wunden Punkt angesprochen: Wo zum verfickten Teufel steckte Elion? War er zu sehr damit beschäftigt, den Tempel auf einen Angriff vorzubereiten, um einen Blick auf sein Synphonon zu werfen? Nicht, dass ich ihm das hätte vorwerfen können, aber ein kleiner irrationaler Teil, der durch meine Angst um Kadi gefüttert wurde, spürte eine Enttäuschung, die tiefer ging, als sie sollte.

Jaro Irgendwer folgte meinem von erbärmlichen Schnaufen und peinlichem Keuchen begleiteten Schneckentempo gelassen durch die pralle Sonne, als gingen ihn weder Hitze noch das ununterbrochene Sturmläuten etwas an, sondern als fände er es weitaus spannender, meinen aussichtslosen Kampf gegen die Zeit und meine Kräfte zu beobachten.

Ich hatte es beinahe schon bis zu der Stelle geschafft, an der Kadi mir meine erste Lektion Alte Sprache versucht hatte beizubringen, als Jaro Irgendwer stehen blieb, Stiefel und Socke fallen ließ und zwei Finger zwischen seine Lippen steckte, um einen langgezogenen schrillen Pfiff auszustoßen, der selbst das Glockenläuten übertönte.

»Was soll das?«, fragte ich gereizt und mit unangenehm klingelnden Ohren.

Jaro Irgendwer sah hoch zwischen die Bäume, dorthin, wo irgendwo die innere Mauer des Tempels sein musste. »Du wolltest doch, dass ich Hilfe organisiere, oder nicht? Jetzt haben sie uns gehört. Ich schätze, in drei Minuten sind sie hier.«

Beinahe hätte ich aufgeschluchzt vor Erleichterung. Ich war am Ende meiner Kräfte – allerdings nicht meines Stolzes, also schluckte ich den Schluchzer hinunter und zog Kadi noch ein kleines Stückchen weiter, bis uns der schmale Schatten eines schlanken Nadelbaums vor der drückenden Hitze schützte.

»Sie werden Fragen stellen.« Jaro Irgendwer hatte die Hand in seine Hosentasche geschoben und wippte auf seinen Ballen auf und ab. »Fragen, die dich den Kopf kosten könnten.«

Ich streckte meinen gepeinigten Rücken durch. »Und dich damit um das Vergnügen bringen, mich umzubringen?«

»Wer hat gesagt, dass es mir Vergnügen bereiten wird?«

»Reine Intuition.«

»Mmh.« Er schürzte die Lippen. »Du meinst die Intuition, die dich am Ende hier her gebracht hat? Zu Leuten, die dich entweder benutzen, wegsperren oder tot sehen wollen?«

Ich beugte mich hinab zu Kadi und hielt meinen Handrücken unter ihre Nase. Ein leichter Atemzug strich über meine Haut. »Harte Konkurrenz für dich, was?«

»Für mich gibt es keine Konkurrenz«, sagte Jaro Irgendwer so herablassend, dass mir ein ungläubiges, ersticktes Ha rausrutschte. Der Typ war also nicht nur irre, sondern auch noch maßlos selbstverliebt.

Er räusperte sich. »Wenn du abhauen willst, wäre das jetzt die richtige Gelegenheit dafür.«

Ich richtete mich auf und rollte dabei demonstrativ mit den Augen. »Warum sollte ich? Damit du mehr Spaß haben und mich jagen kannst, bevor du mich umbringst? Bedaure, den Spaß gönne ich dir nicht.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Jaro Irgendwer, ohne auf meinen bissigen Kommentar einzugehen.

Sein eindringlicher Tonfall irritierte mich mehr als seine bloße Anwesenheit, die ich bisher trotz aller Wahrscheinlichkeit überlebt hatte. »Natürlich bin ich mir sicher.«

»Wie du willst.« Ergeben neigte er den Kopf, doch sowohl seine Worte als auch diese simple Bewegung standen im scharfen Kontrast zum bedrohlichen Aufblitzen seiner Zähne, wie das Fletschen eines Wolfes, der seine Beute nur widerwillig freigab. Ich wollte ihn gerade fragen, ob er erst seit den Ereignissen im Sturm oder schon viel länger nicht ganz richtig im Kopf war, doch da murmelte er bereits ein »Man sieht sich«, machte auf dem Absatz kehrt und ging zügig davon, als hätte er noch einen wirklich wichtigen Termin irgendwo im hinteren Teil des Gartens. Vielleicht musste er ja mal dringend aufs Klo.

»Ich hoffe, wir sehen uns nicht!«, rief ich ihm hinter, kurz bevor der von ihm eingeschlagene Pfad eine Biegung beschrieb. Er hob die Hand, als wollte er mir zuwinken, ohne mich auch nur noch eines Blickes zu würdigen, doch bevor er die Geste ausgeführt hatte, verschwand er bereits hinter eine Reihe Sträucher mit dunkelvioletten Blüten.

Meine Schultern sackten sofort kraftlos herab. Nun, da Jaro Irgendwer weg war, konnte ich es zulassen, die tödliche Bedrohung anzuerkennen, die in jeder einzelnen Sekunde von ihm ausgegangen war. Und da ich noch nicht bereit dazu war, die lähmende Furcht die Oberhand gewinnen zu lassen, die viel tiefer in meinen Knochen steckte, entschied ich mich für Wut als Alternative.

Also brüllte ich ein zorniges »Und danke für nichts, du Arsch!« in Richtung der Sträucher und verließ mich darauf, dass sein scharfes Halbgottgehör meine Worte registrierte.

Dann wischte ihr mir die Schweißtropfen von der Stirn und wartete, mich kopfschüttelnd über mich selbst wundernd, warum um alles in der Welt ich ausgerechnet Jaro Irgendwem vertraute, dass wirklich Hilfe auf dem Weg war. Vielleicht, dachte ich erschöpft, weil mir schlicht und ergreifend keine andere Wahl bleibt.


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