
61. Kapitel: Finsternis im Herzen
»Er wird es sehen.«
»Wird er nicht!«
»Selbstverständlich wird er das, selbst wenn er Marikas Aura nicht lesen könnte!«
»Vielleicht merkt er, dass etwas anders ist, mehr aber auch nicht.« Mit verschränkten Armen lehnte sich Simon gegen die verspiegelte Fahrstuhlwand und sah auf Salma hinab. »Was uns zu der philosophischen Fragen führt, ob man erkennen kann, was man nicht kennt.«
Rasch wandte ich den Blick ab, bevor er mein eigenes Spiegelbild einfangen konnte. Ich hatte heute schon genug von mir gesehen. »Willst du damit sagen, Elion hat noch nie gekifft?«
Simons Augenbraue kräuselte sich. »Was genau lässt dich vermuten, dass dieser Mann in seinem bisherigen Leben auch nur irgendetwas getan haben könnte, das ihn entspannt?«
Eingehend betrachtete ich meine Schuhspitzen und wägte ab, ob über entspannende Schildkrötenaktivitäten nachzudenken vielleicht eine bessere Alternative war, als meine Gedanken schreiende Kreise um das Ding ziehen zu lassen, das sich in meine Seele gezwängt hatte. Doch die Schildkröten verzogen sich rasch in ihre Panzer, kaum dass ich an sie dachte. Kein Wunder – nach dem Horrortrip in der Eisenzelle hätte es weit mehr mentale Stabilität bedurft, als ich aufbringen konnte, um in die richtige Stimmung für ... nun ja, ihr wisst schon, Schildkröten zu kommen. Ich zweifelte sogar daran, ob eine von Simons Spezialzigaretten etwas daran ändern konnte.
Ebenso wie Salma. »Wir wissen überhaupt nicht, welche Wirkung THC auf diesen Schatten hat.«
»Meiner Erfahrung nach keine.« Meine Zehen drückten gegen das Innenfutter der Schuhe, bis deren Oberflächen sich wölbten. Der Druck auf meiner Haut fühlte sich beruhigend real an. »Andererseits kann ich mir dessen wohl nicht sicher sein, weil ich mir gar nichts sicher sein kann, nicht wahr?«
»Du kannst dir sicher sein, dass Elion es merkt, wenn du stoned bist!«, prophezeite Salma. »Bei Simon merkt er es jedes Mal.«
»Ja, weil ich will, dass er es merkt«, verteidigte sich Simon beleidigt. »Ich mach das doch nicht zum Vergnügen, Salma, sondern als politisches Statement gegen die tradierten vertikalen Machtstrukturen dieses beschissenen Systems!«
Salma schnaubte. »Klar. Du kiffst sozusagen für die Revolution.«
»Für nicht weniger als das!«, proklamierte Simon voller Inbrunst und schlug sich mit der Faust gegen die Brust.
»Kennst du eigentlich die Staffelführerin der Neunten?«, murmelte ich. »Ich glaube wirklich, ihr würdet euch hervorragend verstehen.«
»Meinst du?«, horchte Simon auf. »Ist das nicht diese vorlaute Theta mit dem Flummifetisch?«
»Genau die.«
Eine winzige Erschütterung ging durch den Fahrstuhl, ehe sich die Türen öffneten.
»Am Ende spielt es keine Rolle, was Elion an deiner Aura sieht oder nicht«, raunte Salma mir zu, während wir eine schummrige Säulenhalle mit niedriger Decke durchquerten, die hinaus zum fackelerleuchteten Kreuzgang führte. »Du hast allen Grund, durcheinander zu sein: Lenkaits Angriff auf dich, Hieronymus Manipulationsversuch, die Höllenhunde ... Es wäre sogar verdächtig, wenn du Elion davon berichtest und dabei nicht beunruhigt wirktest.«
Salma hatte im Prinzip ja recht. Das Problem war nur, dass ich nicht einfach nur beunruhigt war, sondern eine Scheißangst vor mir selbst hatte. Vielleicht fiel Elion der Unterschied ja gar nicht auf. Wer auf eine Frau schoss, die weglief, um ihn zu schützen, nahm es mit den vielfältig schillernden Facetten aufgewühlter Emotionen womöglich nicht allzu genau.
Im vom Kreuzgang umfassten Innenhof ragten die vier verbliebenen Scheiterhaufen für die im Sturm umgekommenen Nephilim auf. Drei Sonnenuntergänge mussten verstreichen, ehe die Halbgötter ihre Toten verbrannten und ihre Asche in alle vier Himmelsrichtungen verstreuten. Morgen war es so weit. Dort, wo Arveds Scheiterhaufen zuvor gestanden hatte, zeugten nur noch einige wenige verbliebene Holzsplitter auf dem staubigen Boden davon, dass auch er bis vor wenigen Stunden zu ihnen gezählt hatte.
Stattdessen humpelte er nun, auf beiden Seiten gestützt von uniformierten Thetas, durch das schmale Haupttor der Klosteranlage, als wäre der Tod etwas, das ihn nichts anging.
Kaum nahm mein Blick sein zerfetztes, von Blut und Asche durchtränktes Shirt wahr, das man mittig aufgeschnitten hatte, um seine grausigen Verwundungen zu versorgen, als er bereits weiter glitt und in der Dunkelheit hinter dem Tor nach jemand anderem suchte ...
Salma schnappte nach Luft. »Warum läuft er?« Sie setzte sich in Bewegung und rannte auf Arved und die Thetas zu. »Warum habt ihr keine Trage besorgt?!«
Die beiden Thetas versuchten unter Arveds Gewicht, Haltung anzunehmen, als die rothaarige Heilerin im pinken Plüschanzug mit dem gerechten Zorn eines gereizten Nashorns auf sie zustürmte.
Simons Hand stieß unauffällig gegen meine. »Nur für den Notfall.« Er schob etwas Schmales, Längliches zwischen meine Finger, die die glatte Oberfläche von Papier ertasteten. »Welchen auch immer. Die geben sich bei dir ja schließlich die Klinke in die Hand.«
Ein halbherziges »Danke« murmelnd schob ich den Joint in einen der absurd vielen – aber nun doch zugeben praktischen – Taschen meiner Hose.
Ich suchte weiterhin den dunklen Torbogen ab. Wo verflucht noch mal steckte der Primusidiot?
»Du blödes Arschloch!«, brüllte Simon plötzlich und kam Arved mit weit ausgestreckten Armen entgegen. »Wegen dir sieht meine Kriegsverletzung jetzt aus wie ein lächerlicher Kratzer!«
Salma drückte auf dem weißen Verband um Arveds Mitte herum. »Gibt es irgendwelche Anzeichen einer Sepsis?«
Einer der Thetas antwortete zögernd in der Alten Sprache. Er klang eingeschüchtert.
»Was ist mit Rupturen?«, fragte Salma stoisch weiter. »Perforierte Organe?«
»Salma«, versuchte Arved sie zu unterbrechen.
»Gebrochene Knochen? Ein Verlust seiner Essenz?«
»Salma, mir geht es-« Seine Worte wandelten sich in ein schmerzerfülltes Grunzen, als Simon Salma resolut zur Seite schob und Arved in eine rücksichtslose Umarmung riss.
Unschlüssig war ich stehen geblieben und sah zwischen Arved und dem Tor hin und her. War Elion bereits im Bunker und es zu spät, ihn über das verräterische Schweigen des Ältestenrats zu informieren? Darüber, was sein Vater und Hieronymus mir angetan hatten? Dass sie Elion benutzen wollten, um den Orden zu spalten? Wenn es mir nicht gelang, ihn zu warnen, bevor er den Bunker betrat, war unabsehbar, in welche Richtung die Katastrophe sich entwickeln würde, in der wir bereits knietief standen.
»Marika?« Arved hatte sich aus Simons Umarmung gekämpft und sah mich an, als sähe er einen Geist. »Du lebst noch?« Und genauso klang er auch. Als wäre nicht seine unvorhergesehene Rettung, sondern meine bloße Anwesenheit das Überraschendste, was dieser Tag bereit hielt. Oh, er hatte ja keine Ahnung ... Oder vielleicht doch, dem plötzlich nervös wirkenden Ausdruck auf seinem Gesicht nach zu urteilen.
Ich zuckte schwach mit den Schultern. »Schätze, wir stecken beide voller Überraschungen, was?« Nur dass meine nicht aus dem unwahrscheinlichen Glück bestand, eine Nahtoderfahrung glimpflich überstanden zu haben, sondern sich in Gestalt einer verwesenden Schattenkreatur in mir verbarg. Damit hatte Arved dann wohl eindeutig den Preis für die bessere Überraschung gewonnen, während ich die tödliche Niete war. Apropos Niete: »Du hast nicht zufällig Elion gesehen?«
»Er war eben noch direkt hinter mir.« Arved sah sich gehetzt um, jedoch nicht zum Tor, sondern zum Kreuzgang, dessen Säulen dunkle Schatten warfen. War Elion doch schon vorgegangen und wir hatten ihn verpasst? Innerlich verfluchte ich Jaro Irgendwen und seine Obsession für mein frühzeitiges Ableben, die uns wertvolle Minuten gekostet hatte. »Ich brauche eine Waffe«, sagte er unvermittelt und wandte sich an den Theta neben ihm. »Gib mir deine!«
Unsicher führte der Theta die Hand zur Waffe an seiner Hüfte.
»Alles ist gut«, versuchte Salma Arved zu beruhigen. Dabei war gar nichts gut. Absolut nichts. Aber nachdem Arved fünf Tage schwerverletzt und totgeglaubt in einer zerstörten Stadt um sein Leben gekämpft hatte und sich ganz offensichtlich immer noch im reinen Überlebensmodus befand, war es wohl angemessen, ihm etwas Zeit zu geben, bevor wir ihm erklärten, was er alles verpasst hatte. »Du bist im Tempel, die Schutzsiegel sind aktiviert und der Luftraum wird überwacht für den Fall, dass Idrin der Jolly Green folgten.« Behutsam legte Salma ihre Hand auf Arveds Unterarm. »Du bist jetzt in Sicherheit.«
»Ja, Mann, alles vollkommen sicher hier, der Tempel ist momentan quasi eine reine Wohlfühloase«, sagte Simon gedehnt. Er räusperte sich hastig, als er Salmas warnenden Blick auffing. »Du wirst es auf der Krankenstation lieben. Es ist da so ruhig. Nichts passiert dort. Absolut nichts. Der perfekte Ort, um sich zu erholen und uns ganz in Ruhe zu erzählen, wie du es geschafft hast, zu überleben. Oder«, setzte Simon unter Salmas blitzenden Blick an, »du erzählst uns gar nichts über die letzten Tage, sondern chillst einfach. Ja, das wird wohl das Beste sein«, endete er lahm.
»Deine Waffe«, knurrte Arved den Theta neben sich erneut an. »Jetzt!«
»Das ist keine gute Idee!« Simon fing die Hand des Thetas ab, bevor sie die Waffe ziehen konnte. »Und auch gar nicht notwendig, Arved, wirklich nicht.«
»Ihr versteht das nicht«, erwiderte Arved beinahe flehend. »Wir sind in großer Gefahr!«
Simon lachte aufgesetzt. »Sind wir das nicht immer? Komm schon, Kumpel, entspann dich und genieß ein paar freie Tage, ehe du die nächste Gelegenheit ergreifst, aus dir Wurmfutter machen zu lassen.«
Und diese Gelegenheit würde sich schon viel zu bald bieten, wenn wir nichts unternahmen. Und zwar schnell.
»Ich gehe dann mal Elion suchen«, sagte ich mehr zu mir selbst und wandte mich ab.
»Marika, warte!«, rief Salma mir hinterher. »Du solltest nicht alleine unterwegs sein!«
»Solltest du wirklich nicht!«, stimmte Arved angespannt zu.
Verwundert drehte ich mich zu ihm um. Arved wusste nichts von all dem, was hier geschehen war. Und er wusste nichts über mich. Rein gar nichts. Unsere durchaus sympathische Kennenlernphase hatte nach nicht einmal einer Stunde ein tragisches Ende gefunden, als er vermeintlich gestorben war. Oder hatte etwa Elion ihm auf dem Rückflug die Zusammenfassung berichtet?
Auch Simon und Salma wirkten überrascht.
Erneut scannte Arved den Kreuzgang. »Es ist, ähm, sehr dunkel außerhalb des Tempels. Marika könnte von der Klippe stürzen.«
»Das Plateau ist riesig«, sagte ich, und ja, ich klang dabei vielleicht ein kleines bisschen pikiert, weil Arved mich offenbar für eine Idiotin hielt, obwohl er mich gar nicht kannte. In ein oder zwei Tagen konnte er sich meinetwegen diese Freiheit herausnehmen, aber ausgerechnet jetzt? Es war eindeutig: Elion musste ihm erzählt, was geschehen war. Blöder Riesenidiotenarsch ... Den ich hoffentlich wohlbehalten vorm Tempel antreffen würde, aber diese Hoffnung hatte ja nichts mit ihm als Person zu tun. Also nicht direkt. Wirklich nicht.
»In der Dunkelheit kann man sich leicht verlaufen und der Gefahr nicht rechtzeitig ausweichen.« Die Art und Weise, wie Arved das sagte, jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Unheilvoll. Beinahe prophetisch.
»Okay«, sagte Simon langsam. »Das kam jetzt unerwartet, aber nicht überraschend. Du hast einiges abbekommen, Arvi, da ist es ganz normal, wenn man gruselige Dinge von sich gibt. Du hättest mich mal hören sollen, als mich die Kugel erwischt hat. Peinlich, peinlich, sag ich dir. Was hältst du also davon, Salma zur Krankenstation zu begleiten, die Beine auszustrecken und dich darüber zu freuen, dass du sie im Kampf nicht verloren hast, mmh? Währenddessen sagen Marika und ich Kommandant Grumpy Hallo und ich passe auf, dass keiner von beiden den anderen die Klippe hinab schubst.«
»Kommandant Grumpy?« Der Spitzname, den ich Elion verpasst hatte (neben diversen weiteren), irritierte Arved derart, dass er aufhörte, die Umgebung nach einem potentiellen Angreifer abzusuchen.
»Er meint Elion«, sprang Salma hilfsbereit ein. »Komm Arved, lass uns gehen.« Sie schob ihren Arm unter seinen und zog ihn sanft in Richtung Eingang, die beiden namenlosen Thetas im Schlepptau.
»Lass sie nicht aus den Augen!«, rief Arved Simon über die Schulter zu. »Keine Sekunde lang, hörst du?«
»Ja, ich höre dich und folge Marika auf Schritt und Tritt«, rief Simon unbeschwert zurück. »Oh, und du solltest unbedingt diesen himmlischen Karamellpudding probieren, den sie auf der Krankenstation vor der Kompanie verstecken! Aber heb einen für mich auf, ja?«
»Meinst du, er wird wieder?«, fragte ich, sobald Arved, Salma und die Thetas im Tempel verschwunden waren. Ich versuchte mir vorzustellen wie es war, sterbend zurückgelassen zu werden. Tagelang unter qualvollen Schmerzen zwischen Toten und Verletzten zu liegen, deren Schreie immer leiser wurden, während still die Asche auf mich niederrieselte und langsam unter sich begrub. Erneut schauderte ich. So etwas steckte man nicht einfach weg.
»Ich hoffe es«, erwiderte Simon düster. Verflogen war seine aufgesetzte Heiterkeit. Wir wussten beide, dass ich nicht seine körperliche Verletzung gemeint hatte. »Aber Arved ist zäh. Der schafft das schon.«
Ich spürte die drückende Last eines schlechten Gewissens auf meinen Schultern. Nicht nur, weil Arved wegen mir zurückgelassen worden war. Er war nicht nur ein einfaches Mitglied von Theta-1, sondern auch ein Freund, den man betrauert hatte. Statt bei ihm zu sein, musste Simon für mich Babysitterin spielen. »Ich werde schon nicht vom Plateau fallen«, versicherte ich, als wir das Tor passierten. Scheiße noch mal, dahinter war es wirklich stockfinster. »Vorher wird Elion mich bestimmt entdecken.« Oder meine Aura.
»Und dann wird er sich fragen, warum du hier draußen alleine durch die Dunkelheit stolperst«, entgegnete Simon. »Drei Mal darfst du raten, wer dann den Ärger abbekommt.«
»Ich«, sagte ich sofort. »Na gut«, gestand ich, »und im Anschluss vermutlich du. Aber Elion wird schon verstehen, dass du jetzt lieber bei Arved sein willst.«
»Mmh«, machte Simon unbestimmt, legte seine Hand an meinem Ellenbogen und dirigierte mich nach links.
Obwohl die Sterne als trübe silberne Funken am Himmel standen, konnte ich keine drei Meter weit sehen. Es war mild, beinahe warm, und ich fragte Simon, wie weit südlich von Berlin wir uns eigentlich befanden.
»Es ist besser, wenn du unseren genauen Standort nicht kennst. Nicht, weil ich dir nicht vertraue, sondern weil es Momente geben kann, in denen man mehr sagt, als man will.«
Zum Beispiel, wenn man in Gefangenschaft geriet. Ich nickte verstehend und bohrte nicht weiter nach. Auch deshalb nicht, weil ich mir nicht ausmalen wollte, was geschehen würde, falls die Idrin mich jemals in die Finger bekamen und herausfinden wollten, wo sich der Tempel der Nephilim befand.
Der Helikopter – die Jolly Green – schälte sich bald als dunkler Schatten aus der Nacht, wie ein riesiges Tier, das sich zur Rast niedergelegt hatte. Simon führte mich unter dem Heckausleger hindurch und tiefer in die Dunkelheit. Arveds Warnung flüsterte in meinen Gedanken, und ich bemerkte erst, dass meine Schritte langsamer und vorsichtiger geworden waren, als Simon sagte: »Es ist nicht mehr weit. Ich kann Lay und Elion dahinten sehen.«
Ich kniff die Augen zusammen um herauszufinden, wie weit dahinten weg war, aber es war aussichtslos: Mein menschliches Sehvermögen reichte schon am Tag nicht an das der Nephilim heran, und erst recht nicht in der Nacht.
Plötzlich flammte eine gleißend blaue Lichtkugel nur wenige Meter vor uns auf, hell genug, um mich für einen Moment zu blenden. Dann schrumpfte das Licht auf die Größe einer Grapefruit zusammen, die sich in Elions flache Hand schmiegte und ihn und Lay wie geisterhafte Erscheinungen anleuchtete.
Elions düster zusammengezogene Augenbrauen ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihm nicht gefiel, was er sah.
Er hatte ja keine Ahnung.
Hoffentlich.
»Wir haben auf euch gewartet«, begrüßte uns Lay gereizt. »Wo wart ihr so lange?«
Im Kerker des Ordens, wo ein Blick in eine Schüssel voller Wasser reichte, um mich Bekanntschaft mit meinem schlimmsten Albtraum machen zu lassen. Und dann versuchte ein durchgedrehter Naphil zum zweiten Mal an diesem Tag, mich umzubringen.
Ich presste die Lippen zusammen, atmete möglichst ruhig, und klammerte mich an die Vorstellung, so auch meine Aura kontrollieren zu können.
»Wir haben über grundlegende Übungen zur Morphologie der Alten Sprache die Zeit vergessen«, sagte Simon gelassen. »Ich würde ja gerne behaupten, Marika mache Fortschritte, aber das wäre gelogen.«
Elion glaubte ihm kein Wort. So wie er mühsam beherrscht den Unterkiefer vorschob und mich taxierte, musste meine Aura gerade effektiver arbeiten als ein Lügendetektor. Aber da Simon und ich nicht die Einzigen waren, die über grundlegende Dinge logen, straffte ich die Schultern und begegnete Elions Blick ebenso grimmig wie er es tat. Er war ja wohl der Letzte, der hier auch nur irgendeinen Grund hatte, sauer zu sein.
Aber vermutlich brauchte er den gar nicht. Vielleicht war das bei Elion einfach eine prinzipielle Frage der Einstellung.
»Die Höllentore sind offen«, fiel ich kurzerhand mit der Tür ins Haus. Es gab Wichtigeres als die Heimlichkeiten und Lügen zwischen uns: Menschenleben, die in akuter Gefahr waren. »Höllenhunde kriechen seit Tagen ungehindert daraus hervor und fressen alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Nabor wusste das. Ebenso der Ältestenrat. Sie haben es dir verschwiegen, damit du die Thetas nicht mobilisierst. Stattdessen lassen sie es zu, dass die Viecher sich an Seelen sattfressen. Die Idrin halten die Füße still und unternehmen ebenfalls nichts, nachdem die Höllenhunde ein paar hundert von ihnen verschlungen haben. Die Ältesten haben den Befehl erteilt, gegenüber den anderen Nephilim zu schweigen. Hieronymus wollte, dass ich dir das erzähle, weil er weiß, dass ich keine von euch bin. Er behauptet, du solltest gewarnt werden, aber um ehrlich zu sein glaube ich eher, dass er einen Keil zwischen dich und den Ältestenrat treiben will, um einen Bruderkrieg im Orden auszulösen.«
Innerlich klopfte ich mir selbst auf die Schulter. Ich hatte es wider Erwarten geschafft, sachlich und präzise zusammenzufassen, was wir in den letzten Stunden herausgefunden hatten. Meine Stimme hatte auch nur ein klitzekleines bisschen gezittert. Fast so, als wäre mit mir alles in Ordnung.
Was auch immer Elion aus meinem Mund erwartet hatte: das war es nicht gewesen. Er brauchte ein paar Sekunden, um das Gehörte zu verarbeiten. Dann breitete sich Fassungslosigkeit auf seinem blassen Gesicht aus. Ungläubig sah zu Lay.
Die Seherin nickte knapp. »Des Weiteren gehen wir davon aus, dass eine Kreatur der Hölle hinter Marika her ist. Ein Wesen, das den Sturm heraufbeschwor.«
»Der Teufel höchstpersönlich, hat dein Onkel zumindest behauptet«, ergänzte ich und lächelte schmal. »Meine Fanbase wird von Tag zu Tag größer.« Damit hatte Elion nun auch eine plausible Erklärung dafür, dass meine Aura ... wie auch immer aussah. Jetzt musste Elion den Köder nur noch schlucken.
Er schluckte tatsächlich. Mehrmals. Im fahlen Licht wirkte er kreidebleich. Dann fragte er heiser, aber ruhig: »Ist das alles?«
»Für's Erste«, schnaubte Simon. »Gib uns ein paar Tage Zeit und ich versichere dir, dass es noch schlimmer wird. Ich sehe da nämlich so eine gewisse Tendenz und die geht steil bergab.«
Elion stieß langsam die Luft aus, dann fuhr er sich mit der flachen Hand über Mund und Kinn.
Nein, er durfte definitiv nichts von den Geschehnissen im Kerker erfahren. Er stand ja jetzt schon kurz davor, zu explodieren.
Niemand sagte etwas. Alle, inklusive mir, warteten darauf, was Elion zu sagen hatte. Welche Entscheidung er treffen würde. Bitte, dachte ich verzweifelt, sei nicht der Riesenarsch, für den ich dich halte. Unternimm etwas.
Je mehr Zeit verstrich, desto mehr schwand meine Hoffnung. Wenn Elion seine Entscheidung gerade abwog, bedeutete das, dass er Menschen einen relativen Wert zuschrieb. Dass er ihr Leben gegen das der Nephilim aufwog.
Dass er nicht besser war als sein Vater.
»Du musst etwas dagegen unternehmen«, durchbrach ich als Erste das Schweigen und ging zum Angriff über. »Wenn du es nicht tust, werde ich allen im Tempel verraten, was der Ältestenrat verschweigt.«
»Natürlich wirst du das.« Angestrengt rieb sich Elion die Nasenwurzel. »Und dann wird der Ältestenrat wissen, dass du keine Naphil bist. Ebenso wie er es wissen wird, sobald ich interveniere, bevor eines seiner Mitglieder mir von den Höllentoren berichtet. Wer wenn nicht du kann mir von ihrem Verrat berichtet haben?«
»Das ...« Klang so logisch, dass ich mich ärgerte, nicht selbst darauf gekommen zu sein. »Du willst nichts unternehmen, weil ich sonst auffliege.« Ich stutzte. Meine Augen wurden groß. »Was Hieronymus ja auch klar gewesen sein muss.«
»Fuck«, fluchte Simon. »Warum bin ich selbst nicht darauf gekommen?«
»Weil du ein -«, setzte Lay an, doch Simon hob die Hand.
»Sag's nicht, Lay. Manches darf auch unausgesprochen bleiben.«
Lay rümpfte die Nase. »Warum fragst du dann?«
»Das macht doch keinen Sinn«, sagte ich langsam.
»Ergibt keinen Sinn«, korrigierte mich Lay.
»Hieronymus will, dass ich diese beschissene Wassergabe einsetze«, fuhr ich fort, als hätte ich die Seherin nicht gehört, »was doch gar nicht möglich ist, sobald der Ältestenrat eine Eisenstange durch meine Kehle gestoßen hat, um mich unschädlich zu machen.«
Ruckartig senkte Elion den Kopf und sah mich an. »Das werden sie nicht wagen.«
»Nicht, so lange du in der Nähe bist«, bestätigte Simon finster. »Aber es reicht, wenn sie alle wissen, dass Marika keine von uns ist, damit auch der Letzte von ihnen an deiner Loyalität gegenüber dem Orden zweifelt. Nabors Tod reichte dafür nicht aus, weshalb das Tribunal zusammentrat – der Ältestenrat war sich uneins gewesen.«
»Warum hat Hieronymus dann überhaupt versucht, sie von Elions Unschuld zu überzeugen, wenn er dann wiederum das Gegenteil bewirken will?«, fragte ich verwirrt. »Den Umweg hätte er sich doch sparen können.«
»Nicht, so lange die Theta-Kompanie Elion gegenüber loyal ist«, erklärte Lay. »Und das wird sie bleiben, so lange sie seine Führungskompetenz nicht anzweifeln.«
»Was sie werden, wenn ich sie übereilt in eine aussichtslose Schlacht führe«, ergänzte Elion verbittert. Er wandte den Blick von mir ab. »Oder etwas anderes geschieht, was auf Grund meiner Entscheidungen Soldatenleben gefährdet.«
Fröstelnd schlang ich die Arme um meine Mitte. »Du meinst, wenn ich durchdrehe und wegen mir Thetas sterben.«
Was wohl nur eine Frage der Zeit war. Marika wird keinen Fuß in den Tempel setzen. Das Mädchen ist eine tickende Zeitbombe, hatte er Arved kurz nach dem Beginn unserer Flucht erklärt. Er hatte das hier kommen sehen. »Du wusstest, dass das passieren würde. Dass man mich benutzen würde, um die Machtverhältnisse im Orden zu verschieben. Deshalb wolltest du mich so dringend vom Tempel fernhalten und lieber bis zum Nordpol schleifen, ehe ich Chaos anrichten konnte. Du wolltest den Orden vor mir beschützen.«
Elion stieß einen gequälten Laut aus, der alles Mögliche ausrücken konnte: Frustration, Erschöpfung, Wut, Resignation ... »Ich wollte nicht den Orden vor dir, sondern dich vor dem Orden beschützen, Marika.« Das Licht in seiner Hand flackerte, als er die Arme ausbreitete. Das Licht, das er entzündet hatte, als ich mich ihm genähert hatte, wie mir erst jetzt bewusst wurde. Er hatte die Dunkelheit für mich vertrieben. »Und jetzt sieh, wohin dich meine Entscheidungen gebracht haben: Ich habe dich in eine verdammte Schlangengrube geworfen und verflucht noch eins, ich bin zu-« Er brach mitten im Satz ab, schloss die Augen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
Ich wusste instinktiv, was er hatte sagen wollen, ehe er sich selbst verboten hatte.
Müde.
Er war zu müde.
Die unterschwellig in mir brodelnde Wut auf den größten aller Riesenarschlochidioten wurde zu einer unsicher flackernden Flamme. Wenn Elion meine Sicherheit wirklich über die Interessen des Ordens gestellt hatte ...
Unwirsch fuhr Elion sich durchs Haar. »Ich werde mir etwas einfallen lassen«, versprach er. Aber wem? Simon und Lay? Mir? Sich selbst? »Doch vorher ...«
Unvermittelt griff Elion nach meiner Hand, viel zu schnell, um sie wegzuziehen.
Doch vielleicht hatte ich das auch gar nicht vorgehabt.
Das weißblaue Licht in der Hand färbte sich augenblicklich in einen warmen Goldton. Sofort begann es wild zu zucken und eine zweite, pechschwarze Kugel erschien in seinem Zentrum, deren Ränder das goldene Licht zu verschlingen drohten. Mein Herz begann zu rasen. Das war mein Licht, das Elion da in seinen Händen hielt. Mein Lebenslicht. Und die Dunkelheit in seinem Herzen war ...
Elions Griff um meine Hand wurde fester. »... Verrät mir gefälligst jemand, warum Marikas Schatten zurückgekehrt ist.«
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