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53. Kapitel: Offenbarung

Ich zwang mich zu einem unverbindlichen Lächeln, von dem ich hoffte, es war überzeugend genug. »Klar. Alles für die gute Sache, nicht wahr?« Dabei rasten meine Gedanken mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf eine unerwartete und ebenso unmarkierte Kreuzung zu: War ich in akuter Gefahr oder Elions Warnung eher allgemeiner Natur? Langsam erhob ich mich, während Hieronymus die letzten Stufen überwand. Er hatte Elion das Leben gerettet und trotzdem sollte er der böse Onkel sein? Wie passte das zusammen? Was würde geschehen, wenn ich die falsche Abzweigung wählte und krachend gegen eine Wand donnerte, vor der mich kein Airback schützen konnte? Verdammt, Simon hätte wenigstens andeuten können, ab wann ich zumindest den Sicherheitsgurt hätte umlegen sollen.

»Dein Verständnis erfreut mich wirklich außerordentlich, Marika.« Hieronymus legte sich eine Hand aufs Herz, aus schlüge es vor lauter Glück kleine Purzelbäumchen. »Ich habe dich in eine mehr als unangenehme Situation gebracht und konnte letzte Nacht kaum schlafen bei der Vorstellung, wie du dich deshalb fühlen musstest. Und das Geständnis meines Neffen ...« Bekümmert schüttelte er den Kopf. »Er versucht stets, das Richtige zu tun, aber so mit dir zu spielen ...«

»Ich werde es verkraften«, fiel ich ihm barsch ins Wort. Ich blieb bewusst vage dabei, was genau ich verkraften würde: Meine Zurschaustellung im Ekur oder Elions Lügen. Auch ohne Simons – oder Elions? – Botschaft hätte ich Hieronymus seine Betroffenheit nicht abgekauft. Er hatte mich gestern ohne mit der Wimper zu zucken ins offene Messer laufen lassen und keine Sekunde lang so gewirkt, als müsse er dabei über seinen moralischen Schatten springen. Eher, als hätte er eine Menge Spaß dabei gehabt, als einziger bereits die Pointe eines großartigen Witzes zu kennen, während alle anderen noch glaubten, einer Tragödie zuzuschauen.

»Das hoffe ich, Marika. Das hoffe ich sogar sehr.« Seine Finger strichen über eine Stelle auf seiner Brust, als wollten sie einen Fleck entfernen. »Nach all dem Leid, dass du bereits erfahren musstest, hast du Besseres verdient als so ... benutzt zu werden.«

Ach komm, spar dir den Scheiß. Den Schmerz in meinen Schultern ignorierend, verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Bin ich deshalb hier? Damit du dein Gewissen erleichtern kannst?« Und mir unter die Nase zu reiben, was für ein Riesenarsch Elion ist? Als bräuchte ich jemanden, der mir für diese Erkenntnis behilflich war. Danke für nichts. Das war ja von Anfang an so klar wie Wodka gewesen. Und ebenso toxisch.

Hieronymus' Lächeln bekam Risse. »Ich fürchte, dafür braucht es mehr als eine ungeschickte Entschuldigung, oder?«

Ich zuckte nachlässig mit der rechten Schulter. Anfängerfehler. Genauso gut hätte ich mir ein stumpfes Messer in den Muskel rammen können. Weniger bewegen und mehr darauf konzentrieren, Hieronymus Absichten zu durchschauen, ehe das nächste Messer in meiner Brust steckte. »Es ist dein Gewissen, also sag du es mir.«

Hieronymus stand weiterhin am Fuße der Treppe, als wahrte er bewusst Abstand zwischen uns beiden. Fürchtete er etwa, ich würde mich auf ihn stürzen und ihm die Augen für das auskratzen, was er im Ekur abgezogen hatte? »Nein, eine Entschuldigung würde niemals ausreichen. Sie würde nichts ändern. Und das ist es doch, was du willst, Marika: Dass sich die Dinge ändern. Dass du nicht mehr hilflos deiner außergewöhnlichen Gabe ausgeliefert bist, sondern etwas tun kannst.« Er trat einen Schritt zur Seite, gab die Treppe frei und deutete eine knappe Verbeugung an. »Wenn du es willst, helfe ich dir dabei. Allerdings nicht hier, sondern dort, wo wir diesmal ungestört sind. Ohne Publikum.« Er wirkte tatsächlich schuldbewusst. Blöder Pisser.

»Und ganz zufällig bist du der Richtige dafür?«, fragte ich reserviert. Wenn er wirklich der böse Onkel war, führte er etwas im Schilde. Nur was? Dafür sorgen, dass der Orden mich als Waffe einsetzen konnte, ohne dass ich dabei durchdrehte? Das war ja wohl kaum ein fieser, hinterhältiger Plan. Im Grunde war es dasselbe, was Elion vorgehabt hatte. Also schon ein fieser, hinterhältiger Plan, aber doch irgendwie anders. Ach verflucht, was wusste ich schon? War mir auch egal, welche Absichten Elion hatte. Nur nicht, ob Sullivan seiner Nähe war. Der hatte definitiv fiese, hinterhältige Absichten. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange. Scheiße, Marika, konzentrier dich aufs Wesentliche!

»Das kommt darauf an, wen du fragst. Diejenigen unter uns, die sich der Lehre verschrieben haben, würden mich einen dilettantischen Aufschneider schimpfen, der nichts als große Töne spukt«, gestand Hieronymus geradeheraus. Ich widersprach nicht. Diese Beschreibung traf sein Wesen eigentlich recht gut. »Doch im Gegensatz zu ihnen sehe ich in dir nicht nur ein Mittel, sondern stets auch den Zweck an sich. Sicher, deine Gabe könnte sich als sehr nützlich erweisen, sobald du sie unter Kontrolle hast, und ich will gar nicht erst so tun, als hätte ich kein Interesse daran, sie für den Orden nutzbar zu machen. Aber«, er hob mahnend einen Zeigefinger, »vor allem geht es mir darum, dich begreifen zu lassen, dass du deiner Gabe nicht hilflos ausgeliefert bist. Dass du etwas bewirken kannst. Etwas Gutes. Du ganz allein.«

Ungerührt erwiderte ich seinen Blick. »Klingt wie das Motto eines drittklassigen Ratgebers für Lebenskrisen aus der Grabbelkiste. Vollgekotzt, nachdem jemand den schwülstigen Klappentext gelesen hat.«

Ergeben senkte Hieronymus den Kopf. »Es ist deine Entscheidung, ob du meine drittklassigen Ratschläge annehmen möchtest oder nicht. Niemand wird dich zwingen, dich von mir unterrichten zu lassen.«

»Aber von anderen?«, fragte ich herausfordernd. »Und wenn das nicht klappt, hackt ihr mir die Hand ab?«

Hieronymus räusperte sich. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich davon wusste. »Die Amputation gabenleitender Gliedmaße war und ist stets das äußerste Mittel, zu dem wir greifen – und gemäß unseren Gesetzen nur nach dem dezidiert geäußerten Wunsch der Betroffenen. Es ist ... eine Erleichterung für sie.«

Weil sie nicht mehr befürchten mussten, unbeabsichtigt Menschen in ihrer Umgebung zu schaden. So grausig die Vorstellung auch war: Ein paar Tote mehr auf meiner Liste und ich wäre vermutlich selbst bereit dazu, mir eigenhändig die Hand abzuhacken. Gut, Punkt für Hieronymus und seinen fiesen Orden, aber noch längst kein Sieg.

»Um deine erste Frage zu beantworten: Ja, du wirst so oder so Unterricht erhalten, ob du willst oder nicht«, fuhr er fort. »Aber was du daraus machst, bleibt dir überlassen. Niemand wird dich zwingen können, deine Gabe beherrschen zu wollen. Das kannst nur du.«

Mühsam unterdrückte ich den Würgereiz, den Hieronymus pseudophilosophischen Worte auslösten. Fehlte nur noch, dass er mir tief in die Augen sah und versicherte, ich allein würde mein Schicksal bestimmten. Was natürlich absoluter Bullshit war. Mein verfluchtes Schicksal wurde von so vielen Faktoren beeinflusst, dass ich schon längst den Überblick über sie verloren hatten. Doch dass es das verfluchte Ding in mir war, das mein Schicksal maßgeblich lenkte, lag auf der Hand. Und ich würde ihm keine Gelegenheit geben, es noch mehr zu lenken, nur weil ein aufgeblasener Naphil mit fragwürdigem Modegeschmack meinte, so sein Gewissen erleichtern zu können. Noch dazu ein Naphil, vor dem ich gewarnt worden war. Warum auch immer.

»Na, wenn mich niemand zwingen kann, verzichte ich gleich.« Und würde stattdessen Simon einen Besuch abstatten und seine seltsame Obsession für den König der Löwen klären. Ich rang mir ein höfliches Nicken ab. »Man sieht sich.«

Bevor ich nur einen Schritt in Richtung Fahrstuhl tat, war Nabor schon direkt neben mir. Fluchend taumelte ich zur Seite. Diese Nephilim hatten ein ernsthaftes Problem mit dem Einhalten der persönlichen Komfortzone – die umso größer wurde, sobald man erstmal wusste, welches prinzipielle Gewaltpotenzial in ihnen steckte.

Beschwichtigend hob Nabor die Hände. Ihre Innenflächen waren rosig, als würde er sie penibel hegen und pflegen. »Bevor du gehst, möchte ich dir etwas zeigen.«

»Ach ja?«, presste ich mit pochenden Herzen hervor. Hatte Hieronymus auch nur den Hauch einer Ahnung, wie abartig gruselig sein Angebot klang? Genauso gut hätte er versuchen können, mich mit Bonbons in seinen weißen Van zu locken. Ungefähr ein Dutzend Kindheitstraumata reichten aber offensichtlich nicht aus, mich vorsichtig werden zu lassen, denn ich fragte trotzdem: »Und was genau soll das sein?«

»Einen Grund, den Kampf gegen dich selbst aufzunehmen.«

Beinahe hätte ich aufgelacht. Noch mehr Bullshitphrasen. Hatte er einen Taschenkalender mit klugen Sprüchen, die er für beschissenen Smalltalk wie diesen hier auswendig lernte? »Lass mich raten: Dafür soll ich dir irgendwohin folgen, wo uns niemand sehen oder hören kann.«

Irritiert runzelte Hieronymus die Stirn. »In der Tat. Je weniger davon wissen, desto besser.«

Seine Worte waren kaum geeignet, Hieronymus Gruselfaktor abzumildern. Gleichzeitig musste ich widerwillig eingestehen, dass sie meine Neugierde weckten. Dennoch zögerte ich weiterhin. Simons Böser-Onkel-Metapher war in ihrer Eindeutigkeit frustrierend uneindeutig. Hieronymus hatte mich bereits zweimal hinters Licht geführt – beide Male in der Absicht, Elions Leben zu retten. Das klang nicht sonderlich Scar-mäßig. Der hätte seinem Neffen vor dem Tribunal wohl eher noch ein schreckliches Verbrechen angedichtet, um das Todesurteil zu zementieren. War es eventuell möglich, dass ich Simons Nachricht maßlos überinterpretierte? Dass er tatsächlich einfach nur eine unerwartete Vorliebe für Disney-Klassiker hatte? Verdammt noch mal, Simon!

»Schön«, gab ich zähneknirschend nach, »ich guck mir an, was du mir zeigen willst. Aber ich warne dich: Sobald du eine Lakritzstange aus deiner Hose ziehst, bin ich weg!«

Aus Hieronymus' Irritation wurde waschechte Verwirrung. »Ich trage für gewöhnlich keine Süßigkeiten bei mir.«

»Besser ist das auch!«, schoss ich zurück und nahm die Wendeltreppe in Angriff. Je schneller wir das hier hinter uns brachten, desto besser. Oder vielleicht nicht ganz so schnell, so lange ich die Treppe hinaufstieg. Kadis Aufwärmübung und Jaros Rachefeldzug hatten mir mehr als genug abverlangt. Dennoch: Ich wollte wissen, was Hieronymus Geheimnisvolles versteckte – wer wusste schon, wozu es womöglich nützlich war? Das bedeutete aber noch lange nicht, dass Hieronymus mit mir Club der toten Dichter spielen konnte. Das Ding in mir war gefährlich und ich würde den Teufel tun, es durch irgendwelche Möchtegernlektionen zu wecken. Wenn Hieronymus glaubte, mich umstimmen zu können, nach all dem, was ich erlebt, was ich getan hatte, hatte er eindeutig ein paar Mal zu oft an den falschen Lakritzstangen geleckt.

Unauffällig lehnte ich mich neben der Treppe gegen das Geländer und streckte meine Waden durch, bis Hieronymus mich eingeholt hatte und vorausging. Meine Hüfte knirschte unheilvoll, als ich ihm folgte.

»Deine Einschätzung, Jaro Irgendwer würde sich schon wieder einkriegen, lag übrigens voll daneben.« Eindrücklich schilderte ich Hieronymus, wie knapp ich dem Tod entronnen war. »Der Typ ist vollkommen durchgedreht, wenn er glaubt, ich hätte irgendetwas mit dem Sturm zu tun.«

»Da es für diesen seltsamen Sturm keine zufriedenstellende Erklärung gibt, ist es naheliegend, die nächstbeste zu glauben – so unwahrscheinlich sie auch sein mag«, erwiderte Hieronymus. Wir passierten mehrere Bronzetüren und bogen in einen breiten Flur mit holzvertäfelten Wänden ein. »Du und Elion stecktet ebenfalls in dem Sturm fest. Stundenlang, und das, ohne nennenswerte Verletzungen davonzutragen. Theta-538 hingegen wurde so gut wie ausgelöscht.« Hieronymus hielt vor einer Bronzetür, auf der Keilschriftzeichen wie auf einer gespiegelten Buchseite in akkuraten Zeilen von rechts nach links verliefen. »Laikat wird sich fragen, was ihn und seine Leute von euch unterschied.« Mit flinken Fingern berührte Hieronymus einzelne Schriftzeichen. »Und er wird schlussfolgern, dass der Unterschied im Zweck des Sturms lag.«

Die Tür schwang auf und offenbarte blankes Chaos. Türme, gebaut aus ledergebundenen Büchern und zerfledderten Akten schossen überall wie Stalagmiten aus Papier aus dem Boden, stützen sich gegenseitig vor den unerbittlichen Zwängen der Statik und Schwerkraft und bildeten hier und dort schmale schummrige Durchgänge, die weniger vertrauenswürdig aussahen als die orkverseuchten Stollen Morias. Über all dem Durcheinander wachte ein gewaltiges ausgestopftes Krokodil, das an unsichtbaren Fäden von der Decke hing und jeden Eintretenden mit einem weit geöffneten Maul voller gelber spitzer Zähne begrüßte. Aus einem Loch in seinem Bauch baumelte ein dunkelgrüner Samtlampenschirm, dessen Licht giftgrüne Schatten warf.

Reizend.

»Sowohl aus Elions als auch Midjords Berichten geht hervor, der Sturm sei plötzlich und ohne Vorwarnung aufgezogen, nachdem du dich von Theta-1 entferntest – und das, obwohl ihr von beiden Seiten eingekesselt worden wart.« Hieronymus schloss lautlos hinter uns die Tür und bahnte sich mit schlafwandlerischer Sicherheit einen Weg durch die Büchercanyons.

Mit beiden Armen fest gegen meinen Körper gepresst, um nicht aus Versehen eine staubige Buchlawine auszulösen, folgte ich ihm. »Die Idrin waren hinter mir her, nicht hinter den anderen«, verteidigte ich mein Vorgehen, das aus Hieronymus Mund absolut irrational klang. »Mich vom Team zu entfernen war in meinen Augen die einzige Chance, ihnen das Leben zu retten.«

»Und das war sehr mutig von dir.« Im Vorbeigehen zog Hieronymus einen pinken Post-it von einem Buchrücken, zerknüllte ihn und warf ihn achtlos auf den dunklen Dielenboden. »Auch wenn dir klar gewesen sein muss, das mein Neffe mit deinem Vorhaben nicht einverstanden sein und es durchkreuzen würde.« Das Bücherlabyrinth lichtete sich etwas, nicht aber das Chaos. Statt vertikal verteilten Bücher und Akten sich nun horizontal. Anhand ihrer Anordnung und Höhe konnte ich nur vermuten, dass sie die gesamte Fläche eines Eckschreibtisches in beschlagnahmen. »Elions und Midjords Berichte stimmen darin überein, dass der Sturm just in dem Moment losbrach, als du zu Boden gingst.« Scheinbar wahllos griff Hieronymus nach einem Aktenstapel, sah sich kurz um und platzierte ihn mit einem resignierten Seufzer auf einen anderen Aktenstapel. Seine Umdekorierung hatte einen gepolsterten Holzstuhl zum Vorschein gebracht, den er mir auffordernd hinschob. »Es wirkt beinahe so, als wäre der Sturm erschaffen worden, um dich vor einem weiteren Angriff zu schützen, indem er dich verbarg.«

»Mich?« Ich setzte mich und rieb über meine brennenden Oberschenkel. »Wohl kaum. Hat Elion dir etwa nicht erzählt, was passierte, nachdem er mir in den Sturm gefolgt war?«

»Bedauerlicherweise hat mein Neffe mir rein gar nichts erzählt.« Hieronymus wühlte sich durch den nächsten Stapel, diesmal Bücher, bis er einen zweiten Stuhl unter ihnen befreit hatte. Staub wirbelte durch das grünliche Licht. »Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als die Berichte von Theta-1 zu studieren und mir einen eigenen Reim auf die Geschehnisse und ihre Zusammenhänge zu machen. Glücklicherweise«, er setzte sich und überschlug etwas geziert die Beine, wobei seine purpurnen Socken unter den Hosenbeinen hervorblitzten, »bin ich darin äußerst geschickt.« Oh Wunder, Hieronymus war ebenfalls ein Naphil, dem das Konzept Bescheidenheit fremd war. War das so eine Halbott-Gen-Sache? Oder erzog man kleinen Nephilim-Babys ein übergroßes Ego an? »In Elions Bericht wird ein nicht identifizierbarer Angreifer erwähnt. Einer, der euch schon seit Delta-Drei verfolgte, aber sich verborgen hielt. Ein Mithra, so Elions Vermutung. Erst mitten im Sturm seid ihr ihm begegnet.«

Ich nickte und dachte unbehaglich an das Auge des Sturms, in dem ich mich so trügerisch geborgen gefühlt hatte. »Elion und ich haben zeitgleich auf ihn geschossen. Dann brach die Hölle los.«

Schwungvoll klatschten Hieronymus Hände auf seine Knie. »Und genau dieser Umstand, liebe Marika, hat mir gehörige Kopfschmerzen bereitet – neben ein paar anderen kleinen Details, die einfach kein rundes Ganzes ergaben.«

»Willkommen in meiner Welt«, murmelte ich verdrossen. Im Gegensatz zu Hieronymus hatte ich es schon lange aufgegeben, irgendetwas überblicken zu wollen. Ich glaubte nicht einmal, dass es ein rundes Ganzes gab. Eher so ein abstraktes Gebilde mit einer Menge scharfer Kanten, Ecken und Spitzen, von dem man unmöglich sagen konnte, was es eigentlich darstellen sollte.

Verständnisvoll lächelte Hieronymus mich an. »Mit deiner Hilfe, Maria, können wir die Dinge womöglich ordnen.« Aha. Also war Hieronymus schlicht und ergreifend ein idiotischer Optimist. Er lehnte sich zurück und strich mit seinen Fingern über die Brusttasche seines Sakkos. »Zunächst ging ich davon aus, euer mysteriöser Angreifer sei so wie du ein Naphil, der über eine Gabe besitzt, die es eigentlich nicht geben soll.«

»Die des Windes«, erkannte ich sofort. »So wie bei mir Wasser Serienmörder spielt, kann er einen Sturm heraufbeschwören.« Das ergab Sinn. Tat es doch, oder? Warum hatte Hieronymus es dann so formuliert, als hätte er den Gedanken schon längst wieder verworfen?

»Und als ihr auf ihn geschossen habt, hat er die Kontrolle über ihn verloren«, bestätigte Hieronymus. »Auch wenn es allem widerspricht, was wir für möglich gehalten haben: Du allein bist schon der Beweis dafür, dass es möglich ist, ein Element zu manipulieren. Warum also sollte es nicht noch jemanden wie dich geben? Die Mithrae wüssten nicht nur von dir und deiner Gabe, sondern hätten auch mindestens einen weiteren Naphil, den es eigentlich nicht geben sollte – weil unsere Gaben das Erbe der Idrin sind, und uns keine Idrin bekannt sind, die über Elemente gebieten.«

»Es sei denn, ihr habt von ihrer Existenz einfach nichts mitbekommen.« Ich rieb mir die kribbelnde Nasenspitze. Hier musste wirklich dringend mal staubgewischt werden.

Hieronymus Fingerspitzen klopften auf das Revers seines Sakkos. »Idrin, die Fluten und Stürme beherrschen können ... Es wäre schwer, solche Wesen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie würden über Kräfte verfügen wie die Alten Götter. Kreaturen, die so ursprünglich sind, dass wir Zeugnisse von ihnen an bemalten Höhlenwänden finden, die zu Zeiten entstanden, als es uns Halbgötter noch nicht einmal gab. Gesichtslose, riesenhafte Götter, Herrscher über die Natur und Despoten, die sich nicht scheuten, in ihrer unstillbaren Gier nach Seelen ganze Völker zu vernichten. Im Krieg der Götter kämpften die geeinten Nephilim und Idrin noch Seite an Seite, um diese Geißel der Menschheit zu vernichten. Ein Gemetzel, das sowohl ihre als auch unsere Spezies beinahe ausrottete. Hätte es Idrin gegeben, deren Fähigkeiten denen der Alten Götter ebenbürtig gewesen wären – warum hätten sie diese nicht einsetzen sollen?«

»Klar«, schnaubte ich. »Feuer mit Feuer bekämpfen ergibt Sinn – aber Wasser mit Wasser wird nur noch mehr Wasser.«

»Und deshalb bekämpft man Feuer auch besser mit Wasser«, entgegnete Hieronymus schmunzelnd, als sei ich hier die Idiotin und nicht er. »Nur ist das nie passiert.«

»Oder die Idrin haben dafür gesorgt, dass ihr nichts davon mitbekommt.«

»Aber warum sollten sie das tun?«, fragte Hieronymus zurück, als wäre ich nicht mehr die Idiotin, sondern die Expertin in Fragen Götterstrategien und -heimlichtuerei. »Idrin schöpfen ihre Kraft aus dem Glauben der Menschen. Einem wankelmütigen Glauben, der ständig daran erinnert werden musste, wem er die Treue schwor: Alten Göttern oder Idrin. Und falls Letzteren: Welchem Idrin? Dem Gott des Ackerbaus? Des Krieges? Der Schrift? Göttern, die lokale Wunder vollbringen können oder Dörfer vor gefräßigen Löwen retten? Oder einem Gott, der die Fluten jedes beliebigen Flusses beherrschen kann? Der einen reißenden Strom über die Ufer treten lassen kann, um Ernten zu vernichten – oder um für fruchtbaren Schlamm für die nächste Aussaat zu sorgen. Einen solchen Gott hätten die Menschen sowohl verehrt als auch gefürchtet. Sie hätten alles dafür getan, um ihn gewogen zu stimmen.«

»Mit Gebeten und mit Opfergaben.« Unruhig rutschte ich auf dem Stuhl hin und her. »So ein Idrin wäre verdammt mächtig gewesen, stimmt's?«

»Er hätte ein König unter den Idrin sein können«, bestätigte Hieronymus. »Und er wäre nicht unbemerkt geblieben. Es hätte Altäre und Tempel für ihn gegeben, Priester und Priesterinnen, Dichtungen und Legenden über ihn, ob wahr oder erfunden, die sich die Menschen über ihn erzählt hätten.«

»Vielleicht wollte er seine Ruhe haben«, warf ich ein. »Oder war schüchtern.«

»Oder«, Hieronymus wiegte nachdenklich den Kopf, »es hat ihn nie gegeben. Eine etwas einfachere Theorie, die weniger Vorannahmen bedarf.«

Er wusste, dass ich keine Naphil war. Wenn er von seinen eigenen Überlegungen überzeugt war, musste er zu diesem Schluss kommen. Unauffällig sah ich mich nach etwas aus Eisen um, mit dem Hieronymus mich hinterrücks aufspießen würde. »Und was bin ich dann? Keine Naphil, sondern ein Nachkomme der Alten Götter?«

»Ein spannender Gedanke, aber das wäre unmöglich.« Hieronymus räusperte sich erneut. Lag vielleicht an dem ganzen Staub hier. »Rein anatomisch betrachtet. Nicht nur, weil die Alten Götter riesenhaft waren. Sie waren darüber hinaus geschlechtslos.« Seine Finger waren höher gewandert und strichen verlegen über seinen Hals. »Im wortwörtlichen Sinne.«

»Aha.« Versteckte Hieronymus eine Waffe unter seinem hässlichen Sakko? Oder gleich ein ganzes Theta-Team hinter den mannshohen Bücherstapeln? Am Ende hatte er sein Büro oder wo auch immer wir hier waren mit Absicht so chaotisch präpariert, damit ich einen Hinterhalt nicht bemerkte. »Die Alten Götter hatten unten rum also Barbie-Optik. Spannend. Dann hat mich wohl der Storch gebracht und vorher bei mir das Feature Waterboarding freigeschaltet oder was?«

Hieronymus Stirn kräuselte sich. »Ich verstehe, dass du Sicherheit im Zynismus suchst, Marika. Eine Antwort auf die Frage nach deiner Herkunft wirst du von ihm jedoch nicht erhalten.«

Meine Lippen wurden schmal. Wenn der Kerl glaubte, mich durchschauen zu können ... Ach verdammt, wem machte ich hier eigentlich etwas vor? Natürlich suchte ich Sicherheit im verfickten Zynismus, was blieb mir auch anderes übrig? »Na dann«, ich verschränkte die Arme und lehnte mich zurück, »erhelle mich.« Ich versuchte derweil, die Nerven zu behalten. Sollte Hieronymus in mir eine Gefahr sehen, die vernichtet werden musste, würde er wohl kaum mit mir hier sitzen und um den heißen Brei herumlabern, oder? Es sei denn, Simons Warnung war wirklich eine Warnung gewesen und Hieronymus litt unter dem typischen Bösewichtsyndrom, alle geheimen Informationen mit dem Feind zu teilen, um ihm dann im Finale eine Kugel durch den Schädel zu jagen. Aber eigentlich war ich ja irgendwie der Bösewicht in meiner Geschichte. Ich, nicht Hieronymus hatte ein paar Wasserleichen im Keller. Er hingegen konnte Elions Rettung für sich verbuchen. Das schrie schon nach einer eindeutigen Gut-Böse-Verteilung. Machte das einen Unterschied? Weihte der Held in einer Geschichte auch den Bösewicht darin ein, wie er auf dessen furchtbar dunkles Geheimnis gestoßen war und beschlossen hatte, ihn zu vernichten? Offensichtlich, denn Hieronymus holte mit seiner Erklärung weit genug aus, um einem Bösewicht gleich beide Ohren abzukauen.

»Betrachtet man die bloßen Fakten, wird es zunächst dunkler statt heller«, griff Hieronymus meine Worte auf. »Wie gesagt: Du verfügst über eine Gabe, die es nicht geben sollte. Letzte Nacht noch habe ich dennoch zur Sicherheit unsere versiertesten Schriftgelehrten darauf angesetzt, fünftausend Jahre Aufzeichnungen nach jedem Idrin zu durchforsten, der auf irgendeine Art und Weise mit Wasser in Verbindung gebracht werden kann, und sei sie noch so vage. Bisher fanden sie nichts als eine unbedeutende Idrin, deren einziger je registrierter Schrein eine winzige, längst versiegte Bachquelle nahe der historischen Stadt Ur im heutigen Irak war. Sie wurde zwar als Quellgöttin bezeichnet, war aber ein Wesen, das man als«, er verzog abschätzig den Mund, »Liebesgöttin bezeichnen kann. Junge Frauen badeten kurz vor ihrer Hochzeit in der Quelle, um den Segen der Göttin über ihre Ehe zu erbitten. Idrin dieser Art, meist weiblicher Natur, gab und gibt es zu Tausenden in ihren Reihen: Fußsoldaten, die über keine nennenswerte Macht verfügen und sich ein mehr oder weniger anbetungswürdiges Attribut zusprechen, das keine sichtbaren Wunder erfordert: War die Ehe glücklich, schrieb man es den entsprechenden Liebesgöttern zu. War sie es nicht, hatte man die Götter eben verärgert. So oder so – es war ein einfaches Mittel, um sich ein paar flüchtige Gebete zu sichern.«

Tief durchatmen verkniff ich mir die Frage, warum er mir den ganzen längst vergangenen Scheiß überhaupt erzählte, wenn diese Liebesgöttin als Vorfahrin sowieso für mich ausschied. Offensichtlich hörte er sich einfach selbst gerne reden. Seine Finger lagen nun wieder auf seinem Sakko, als genoss er nicht nur seinen Monolog, sondern auch das Vibrieren seiner Stimme in seiner Brust.

»Die Historie wird die Frage nach deiner Herkunft also voraussichtlich ebenso wenig beantworten können wie dein Zynismus«, fuhr Hieronymus fort. »Nicht, wenn wir uns nur auf dich konzentrieren.«

»Der Typ im Sturm«, unterbrach ich seinen Monolog nun doch. Immerhin ging es hier um mich, da konnte Hieronymus ja wohl nicht erwarten, dass ich brav zuhörte und die Klappe hielt. »Ihn sollte es genauso wenig geben wie mich.«

»Vollkommen richtig, aber auf ihn wollte ich nicht hinaus – noch nicht.«

Wunderbar. Das hier würde also noch eine ganze Weile dauern. War ja nicht so, als hätte ich nichts zu tun gehabt. Möglichst unauffällig sah ich auf das Synphonon. Keine neuen Nachrichten. War mir auch egal.

»Nein, ich beschloss, den Fokus zu erweitern und bei denen anzufangen, die ein Interesse an dir haben.«

»Du meinst an meiner Gabe.« Ich sprach das verfluchte Wort aus, als sei es eine Beleidigung. »Da wären die Idrin, die Mithrae und du und dein Orden.«

»Du vergisst den Wachmann.« Hieronymus Finger beschrieben kleine, kreisende Bewegungen auf seiner Brust. Dieser Spleen von ihm, nicht die Finger von sich selbst lassen zu können, reizte mich von Minute zu Minute mehr. »Elion identifizierte ihn als durch und durch menschlich. Dennoch gelang es ihm, woran Nabor scheiterte: Einen Naphil zu töten, der eine unheilvolle Symbiose mit einem Idrin eingegangen war – eine Chimäre. Wir kennen nur eine Art, so etwas zu vollbringen: Der Kopf der Chimäre muss abgetrennt und lange genug vom Rest des Körpers aufbewahrt werden, bis der Verwesungsprozess weit genug vorangeschritten ist, um es dem symbiontischen Idrin unmöglich zu machen, seinen Wirt zu heilen. Unserem mysteriösen Wachmann gelang es hingegen mit einem einzigen Schuss, Idrin und Wirt voneinander zu trennen.«

»Ein Glückstreffer?«, riet ich ins Blaue hinein.

»Unmöglich. Es muss die Munition gewesen sein, die dieses Kunststück vollbrachte. Selbst Meister Ulfberht, der Jahrhunderte Erfahrungen in der Entwicklung von Waffen und ihren Einsatz gegen die Idrin hat, ist ratlos, woraus diese Munition bestanden haben könnte.«

Ich steckte mir einen Finger ins Ohr und wackelte mit ihm hin und her. »Hast du gerade Jahrhunderte gesagt?« Klar, Ulfi sah aus, als hätte er seine besten Jahre schon lange hinter sich, aber ...

»Die Idrin vererbten uns zwar nicht ihre Unsterblichkeit, dafür aber eine Lebensspanne, welche die der Sterblichen um ein Vielfaches übersteigen kann«, klärte Hieronymus mich hilfsbereit auf.

Klar, das hatte Simon mir bereits erklärt, aber dass Nephilim wirklich so alt werden konnten ...

»Wie also kommt ein Mensch an eine Waffe, die Chimäre töten kann?«, überlegte Hieronymus laut weiter. »Nicht von uns, und sollten die Idrin und Mithrae, ihre Verbündeten, über dieses Wissen verfügen, würden sie es wohl kaum mit Sterblichen teilen. Wozu auch?«

»Es sei denn, es gibt einen Verräter unter ihnen. Jemand, der ebenfalls Interesse an meiner Gabe hat, aber nicht mit ihnen zusammenarbeiten will.«

»Und dieser Verräter überlässt es einem Menschen, diese Waffe einzusetzen, um an dich heranzukommen? Und er lässt dann auch noch die einzigen beiden Seelenseher auf Erden am Leben?« Hieronymus schüttelte den Kopf. »Das erscheint mir unwahrscheinlich.«

Frustriert rollte ich mit den Augen. »Dann sag mir doch einfach, wer der Kerl ist, wenn du die Antwort eh schon kennst.«

»Es tut mir leid, wenn ich dich langweile«, sagte Hieronymus und klang wirklich, als meinte er es ernst. »Aber ich möchte sichergehen, dass du meinen Überlegungen und Schlussfolgerungen folgen kannst, um zu verstehen, wie wichtig uns deine Kooperation ist.«

Kooperation. Nicht Tod. Das war doch mal etwas Beruhigendes. Mit einer ungeduldigen Handbewegung bedeutete ich Hieronymus, seine Lehrstunde fortzuführen. So lange ich am Ende meinen Kopf behielt, würde es mir schon gelingen, mich in zähneknirschender Geduld zu üben.

Hieronymus lächelte wohlwollend. »Ich denke, es gibt noch eine weitere Partei, die deiner habhaft werden will. Eine, von der wir annahmen, sie sei im Krieg gegen die Alten Götter vernichtet worden.« Hieronymus drückte sein Kinn gegen die Brust, als wappnete er sich für eine schwere Beichte. »Dämonen.«

Ich starrte ihn an. Wartete, dass er fortfuhr. Dass er so etwas sagte wie: Keine Sorge, Dämonen klingt nach etwas verdammt Gefährlichem, aber in Wirklichkeit sind sie gar nicht so schlimm. Nichts, womit wir nicht fertig werden. Stattdessen schwieg Hieronymus. Bedeutungsschwer. So, als wären Dämonen genau das, wonach sie klangen. Nichts Gutes.

»Dämonen.« Man, ich musste den Papagei in mir dringend den Hals umdrehen, das Vieh begann zu nerven. »Du willst mir sagen, Dämonen existieren und sie seien jetzt ebenfalls hinter mir her?« Klar, weil Zombiegötter nicht ausreichten, um mir das Leben schwerzumachen, mischten sich jetzt auch noch fucking Dämonen ein. Wo zum Teufel kamen die jetzt her ... Mein ungläubiges Lachen blieb mir in der Kehle stecken. Es lag auf der Hand, woher sie kamen. »Die Höllenhunde«, krächzte ich. »Die Viecher, die aus der Hölle gekrochen kommen und Jagd auf Menschen machen, sind nicht die Einzigen, die der Vulkanausbruch in Italien ausgespuckt hat, oder?«

»Ich fürchte nicht, nein.« Hieronymus wühlte in einem Aktenstapel, aus denen lose Blätter quollen. »Dämonen nennen wir die Idrin, die einst im Dienst der Alten Götter standen und sich im Krieg gegen ihre eigene Spezies wandten. In ihrem Wesen durch und durch verdorbene Kreaturen, die sich von zerrissener Essenz der von Höllenhunden geraubten Seelen ernährten. Nach ihrer Niederlage wurden sie zusammen mit ihren Herren, den Alten Göttern, in den Tiefen der Erde begraben. Dem Ort, den man auch Hölle nennt.« Einige Akten rutschten zur Seite und Hieronymus entfuhr ein für die Situation unpassend triumphierendes »Ha!«, als er ein Tablet unter ihnen hervorzog. »Sie waren über Jahrtausende hinweg von der Essenz der Seelen abgeschnitten, hungernd und siechend und Schatten ihrer selbst. Noch sind sie gefangen. Die Frage ist nur: Wie lange noch?«

Er reichte mir das Tablet. Natürlich zitterten meine Finger, als ich es entgegennahm. Cool zu bleiben, nachdem man erfahren hatte, dass Dämonen einen jagten, war eine ganz eigene, herausfordernde Herausforderung für sich. Oder so ähnlich. Jedenfalls hatte ich gerade ganz andere von ihnen zu bewältigen. Ich sah auf das schwarze Bild eines pausierten Videos. Instinktiv tippte ich auf Play. Das Bild blieb schwarz.

»Die ersten Aufnahmen sind etwa zwei Wochen alt«, erklärte Hieronymus. »Sie wurden von einer Drohne des Istituto nazionale di geofisica e vulcanologia kurz nach dem Ausbruch des Vulkans unter Neapel aufgenommen.« Die Dunkelheit wich grauen Rauchwolken, die nach und nach einen bedrohlichen tiefroten Schimmer annahmen. »Das Institut überwacht unter anderem die vulkanischen Aktivitäten Italiens. Selbstverständlich haben wir schon lange unsere Leute in strategischen Positionen eingesetzt, sodass die Aufnahmen rechtzeitig ... nun, verschwinden konnten, bevor sie eine weltweite Massenpanik auslösten.« Die Wolken lichteten sich jäh, als hätte die Drohne einen Schlenker gemacht, um aus der Rauchwolke zu gelangen. Aus dem tiefroten Schimmern wurde ein feuriges Inferno träge brodelnder Lava in einem zerfurchten Krater, dessen gewaltige Ausmaße erst durch die winzigen, teilweise eingestürzten Gebäude am Rand des Kraters deutlich wurden. Keine Ahnung, wie viele Fußballfelder in den Krater gepasst hätten. Er hatte eine Dimension, die man besser mit der Größe einer mittleren Kleinstadt verglich.

Seltsame, golden funkelnde Punkte bewegten sich am Kraterrand über den unter grauen Steinen eingestürzten Dächern. Auch der Pilot der Drohne musste zum Zeitpunkt der Aufnahme auf sie aufmerksam geworden sein, denn nun hielt die Drohne direkt auf sie zu. Doch plötzlich geriet die Drohne ins Trudeln, das Bild begann zu flackern, immer stärker, je tiefer sie sank.

»Die Drohne wird durch elektromagnetische Interferenzen gestört.« Hieronymus stand auf und trat hinter mich. »So etwas kommt häufig vor, sobald Idrin in der Nähe sind.«

Unter anderen Umständen wäre ich von ihm weggerückt und hätte genügend Abstand zwischen uns gebracht, bis meine persönliche Wohlfühlzone wiederhergestellt gewesen wäre. Doch ich war zu beschäftig damit zu erkennen, was die Drohne entdeckt hatte. Unversehens fror das Bild ein, doch die Anzeige unter dem Video lief weiter. Die Kamera war nun auf einen Punkt hinter der zerstörten Stadt gerichtet, wo sich die rote Färbung der Wolken und die unter ihnen schwebenden goldenen Sprenkel auf einer aufgewühlten Fläche brachen. Der Ausschnitt wurde kleiner, gleichzeitig kamen die goldenen Sprenkel näher. Was ich für eine Art zerfurchtes Feld am Boden gehalten hatte, entpuppte sich rasch als die raue Oberfläche eines sturmgepeitschten Meeres. Und so, wie die hellen Schaumkronen auf den Wellenkämmen sichtbar wurden, nahmen die goldenen Punkte Konturen an, wurden größer und nahmen Menschengestalt in goldener Rüstung an, bildeten sich weiße Schwingen heraus, bis der Bildausschnitt weit genug herangezoomt war, um unzählige Idrin knapp unter der Rauchwolke zu offenbaren. Sie hielten Schwerter und Lanzen in ihren gepanzerten Fäusten, als wollten sie gegen einen Vulkan in die Schlacht ziehen. Es war wie ein mit düsteren Farben gezeichnetes Endzeitgemälde, das die Apokalypse darstellen wollte: atemberaubend und schrecklich schön.

»Die Idrin wussten, dass in Italien nicht einfach nur ein Vulkan explodiert war«, sagte Hieronymus leise, »sondern dass sich ein Höllentor geöffnet hatte.«

Wie schon beim Anblick der strahlenden Zombiegöttin über Berlin ergriff mich eine schaurige Ehrfurcht, obwohl ich wusste, was für menschenverachtende Drecksäcke die Idrin waren. Was ich hier sah, war eine göttliche Armee in ihrer ganzen, unwirklichen Herrlichkeit. Allein die Vorstellung, die Nephilim würden einen Krieg gegen sie gewinnen können, war absurd. Obwohl ich auf ein leicht verpixeltes Bild starrte, sah ich die schiere Macht, die von jedem Einzelnen dieser übernatürlichen Wesen ausging. Selbst wenn Kadi ihren Raketenwerfer auf sie richtete und sie einen von ihnen traf, würde ein einziger von ihnen reichen, der sie gleich darauf in der Luft zerriss.

»Und ebenso wussten sie, was aus diesem Höllentor hervorkommen würde.«

Ich war so gefesselt von dem Anblick der Idrin, dass ich Hieronymus beinahe vergessen hatte. Seine Worte schreckten mich aus meinem benommenen Staunen heraus. »Und stellten dann ein Begrüßungskomitee zusammen oder was sehe ich hier?«

Hieronymus langte über meine Schulter und spulte das Video vor. Nun beugte ich mich doch etwas vor. Er war nahe genug, um mit seinem Oberschenkel meinen Rücken zu berühren. Ich hatte wirklich keine Lust darauf, seine Lakritzstange an meiner Schulter zu spüren. »Kein Begrüßungskomitee, sondern eine Verteidigungslinie«, korrigierte er mich. »Die italienische Drohne stürzte wenige Sekunden nach dieser Aufnahme ab und wurde vollkommen zerstört. Zwei Tage später hat eine von uns gefertigte Drohne Folgendes aufgezeichnet.«

Das Bild wechselte zu einer Aufnahme mitten in der Stadt. Asche und porös wirkende graue Steine von der Größe eines Kleinwagens bedeckten sie fast vollständig. Nur hier und dort ragten Dächer und die oberen Stockwerke höherer Gebäude aus ihnen heraus. Die Schicht musste mehrere Meter dick sein. Ich schluckte hart, als ich daran dachte, wie viele Bewohner der Stadt es wohl nicht rechtzeitig hinaus geschafft und ihr namenloses, ungekennzeichnetes Grab unter den Auswürfen des Vulkans gefunden hatten. Nichts rührte sich. Alles dort war tot.

Dann sah ich Federn und Flügel. Die Drohne flog näher. Die Flügel lagen verstreut und grau von Asche auf den Dächern, einzeln oder mit ihrem Gegenstück an etwas verbunden, das auf den ersten Blick aussah wie gewellte Rohre. Scharf sog ich die Luft ein, als die Drohne über einem Flügelpaar schwebte und ich erkannte, dass das gewellte Rohr zwischen ihnen ein Stück Rückgrat war. »Scheiße noch mal: Was ist da passiert?« Es sah aus, als hätte ein Irrer mit Vogelphobie ein Massaker unter riesigen Schwänen angerichtet und ihnen die Flügel herausgerissen. Nur dass das keine Schwanenflügel, sondern Idrinflügel waren.

»Die Höllenhunde haben sie überrannt«, antwortete Hieronymus knapp.

»Aber wie?« Ich riss meinen Blick von dem unappetitlichen Bild. »Die Idrin hätten doch einfach wegflattern können.« Eine schaurige Idee kam mir in den Sinn. »Jetzt sag mir bitte nicht, dass die Höllenhunde ebenfalls fliegen können.«

»Können sie nicht. Aber offenbar war Rückzug zunächst keine Option für die Idrin.« Hieronymus spulte weiter vor, bis die Drohne ein ganzes Feld aus Flügeln erfasste, zwischen ihnen goldene Schwerter und Lanzen, die ihren Besitzern nichts gebracht hatten. »Wir glauben, dass die Höllenhunde sie fraßen. Warum sie die Flügel übrigließen, wo sie doch selbst vor Knochen keinen Halt machten, ist uns allerdings unbekannt.«

Ich ließ das Tablet auf meinen Schoß sinken und sah blicklos auf das Bücherchaos um mich herum. Die Zombiegötter vernichtet von Kreaturen der Hölle. Das war nicht gut. Gar nichts daran war gut. Eher maximal beschissen in sämtlichen möglichen Facetten. »Die Aufnahmen sind neun Tage alt. So lange schon wisst ihr, dass ein fucking Höllentor offensteht.« Mühsam sammelte ich mich, um nicht auszuflippen. »Warum habt ihr niemanden gewarnt?« Ich erinnerte mich daran, wie blass Simon, Lay und Salma geworden waren, nachdem Elion uns von seiner Begegnung mit der Italienerin berichtet hatte, die von einem Höllenhund gebissen worden war und bei lebendigem Leib verfaulte. Das Grauen in ihren Gesichtern war echt gewesen. Auch ins Elions. »Nicht mal eure eigenen Leute.«

»Weil mein Bruder es so entschieden hat.« Hieronymus ging zurück zu seinem Stuhl, setzte sich und faltete die Hände über seinem Bauchansatz. »Er war der Primus und auch, wenn ich nur wenige Tage später schmerzhaft seinen Verrat durchschauen musste, war sein Befehl strategisch sinnvoll. Was hätten wir auch tun können? Einheiten mobilisieren und in den Kampf gegen Höllenhunde schicken, gegen die kein noch lebender Naphil je gekämpft hat? Und nicht nur das: Wir wären zwischen Höllenhunden und Idrin geraten. Selbst mit einem gemeinsamen Feind sind wir keine Verbündeten und die Idrin wären uns spätestens nach der Schlacht in den Rücken gefallen. Nabor ging davon aus, die Idrin würden die Legion, ihre gesammelte Streitmacht schicken, um die Diener ihrer Erzfeinde zu vernichten.«

»Was aber nicht geschehen ist, oder?«, äußerte ich meine naheliegende Vermutung. Warum sonst zeigte Hieronymus mir die Aufnahmen, wenn die Höllenhundkacke nicht gewaltig am Dampfen war?

»Bedauerlicherweise noch nicht. Und da sie sich weigern, Kontakt mit uns aufzunehmen, kennen wir auch nicht den Grund für ihre plötzliche Zurückhaltung. Am wahrscheinlichsten ist ein taktischer Rückzug. Die Asche in der Luft dürfte ihre Flugfähigkeit massiv einschränken, also werden sie warten, bis sich ihnen eine bessere Gelegenheit bietet, zurückzuschlagen. Wenigstens können wir aus ihrer Zurückhaltung schließen, dass es bisher nur Höllenhunde und noch keine Dämonen aus dem Höllenschlund geschafft haben.«

Wow, da hätten wir uns vor Freude ja gleich lustige Partyhütchen aufsetzen können. Nur Höllenhunde, keine Dämonen. Noch nicht. Also kein Grund zur Panik. »Und so lange passiert was?«, fragte ich ungläubig. »Die Höllenhunde fressen sich munter durch die Gegend und ihr lasst sie gewähren?«

»Die Alternative wäre unsere sichere Vernichtung. Die Idrin werden sich den Höllenhunden entgegenstellen«, bekräftigte Hieronymus, als ich es nicht mehr aushielt und ungehalten aufsprang. »Sie müssen, weil die Höllenhunde ansonsten ihre Beute zurück in die Hölle schleifen und ihren Herren zum Fraß vorwerfen: den Alten Göttern und den gefallenen Idrin, die wir Dämonen nennen. Die Idrin können nicht zulassen, dass ihre Feinde ihre alte Stärke zurückerlangen. Ihre eigenen Reihen wurden durch den Großen Krieg empfindlich geschwächt. Noch einmal werden sie nicht triumphieren – selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass Idrin und Nephilim sich wie in alten Zeiten verbünden und gemeinsam gegen den Feind vorgehen.«

»Das sind Vermutungen!«, rief ich aus. »Nichts als Vermutungen! Ihr habt keine verdammte Ahnung, ob die Idrin für euch die Drecksarbeit übernehmen oder nicht, und währenddessen gehen Menschen drauf!« Ich fuhr wir wild durch die Haare, sah hinauf zu dem beschissenen ausgestopften Krokodil und versuchte zu begreifen, was ich gerade erfahren hatte. Zombiegötter, die gegen Höllenhunde gekämpft und verloren hatten. Die von diesen Kreaturen gefressen worden waren. Wenn die Höllenhunde das mit Göttern anstellen konnten – welche Überlebenschance hatten dann schwache Sterbliche? Die Antwort lag auf der Hand: keine. Und die Nephilim sahen tatenlos zu. Sie versuchten noch nicht einmal, ihnen zu helfen. Sie wenigstens zu warnen. Weil die Gefahr zu groß war, dass die Nephilim dadurch ihre Deckung preisgaben. Weil Menschenleben eben nicht so viel zählten wie das elendig lange Leben eines Naphils. Nicht einmal ihre Leichen. Elion war sofort nach seinem Freispruch aufgebrochen, um seinen toten Freund zu bergen. Währenddessen verrotteten tausende, womöglich hunderttausende Leichen unter Asche und niemand machte sich die Mühe, nach ihnen zu suchen und ihnen ein würdiges Begräbnis zu verschaffen.

Mit Daumen und Zeigefinger umfasste ich meine Schläfen. Irgendetwas passte da doch nicht zusammen. Nabor hatte befohlen, über den Kampf zwischen Höllenhunden und Idrin zu schweigen. Warum?

Weil nicht alle Nephilim solche Arschlöcher waren wie er. Weil er befürchtet hatte, im Orden würde sich Widerstand regen. Die Forderung laut werden, einzugreifen. Niemals hätten Simon oder Salma ein solches drohendes Gemetzel stillschweigend hingenommen. Lay traute ich es instinktiv ebenfalls nicht zu. Und Elion ... Hatte offenbar ganz nebenbei seinen eigenen Vater umgebracht, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hatte. Nicht, weil Nabor Sterbliche opferte wie Bauern in einem Schachspiel, sondern weil er die Macht im Orden hatte an sich reißen wollen. Oder steckte doch mehr dahinter?

»Wer weiß von diesen Aufnahmen?«, zwang ich mich so ruhig wie möglich zu fragen.

»Der Ältestenrat«, erwiderte Hieronymus sofort. »Und einige Auserwählte wie ich, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens eingeweiht wurden.«

»Und natürlich Elion«, sagte ich lauernd. »Denn jetzt ist ja er der Primus und hat die Befehlsgewalt, nicht wahr?«

Hieronymus sah mich durchdringend an. »Erst mit seinem Freispruch wurde mein Neffe wieder zum Primus. Zwischen dem Freispruch und Elions Aufbruch vergingen nicht einmal zwei Stunden. Ich fürchte, der Ältestenrat hat es versäumt, ihn in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit über alle relevanten Kenntnisse der derzeitigen Lage zu informieren.«

»Blödsinn!«, entfuhr es mir heftig. Elion wusste es nicht. Er hatte nicht entschieden, Menschen weiterhin den Höllenhunden zum Fraß vorzuwerfen. Denn sobald er davon erfuhr ... Ich wollte den Gedanken nicht weiterdenken. Was, wenn Elion derselben Meinung war wie sein Vater? Nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. »Euer ganzes Gelaber von wegen Primus hier und Primus dort und Befehlsgewalt und Gehorsamkeit und der ganze Scheiß – ihr habt ihm nichts davon erzählt, weil ihr wusstet, dass er Nabors Entscheidung nicht gutheißen würde!«

Nabor senkte die Lider. »Es mag tatsächlich Vertreter im Ältestenrat geben, die der Meinung sind, Elion sei zu jung und unerfahren, um weise Entscheidungen von solch einem Ausmaß zu treffen. Um Stärke zu zeigen, wo es zwingend notwendig ist.«

»Aber alt genug, um über eine ganze beschissene Armee von Halbgöttern zu befehligen?«, schnappte ich. »Willst du mich gerade verarschen?«

Im Gegensatz zu seinem Neffen störte Hieronymus sich nicht an meinem vulgären Vokabular. »Es steht mir nicht zu, die Entscheidungen des Ältestenrates in Frage zu stellen. Ich übernehme lediglich eine beratende Funktion und unterliege in allen weiteren Belangen den geeinten Befehlen seiner Mitglieder.«

Die einzig und allein Elion hätte aufheben können. Weil er allen Befehle erteilen konnte, wenn er nur wollte. Selbst wenn das hieße, sich gegen den Ältestenrat und seine Machtbefugnisse zu stellen. Lay war sich sicher gewesen, dass Elion so etwas nie tun würde. Weil dadurch das Machtgefüge innerhalb des Ordens in Wanken geraten und eine Art Bürgerkrieg im Orden drohen würde. Dennoch hatte der Ältestenrat entschieden, Elion im Unklaren zu lassen. Dafür konnte es nur einen Grund geben: Sie wussten, dass er sich – obwohl er ein braver kleiner Soldat im Dienste des Ordens war – gegen sie stellen würde. Weil ihre Entscheidung ungeheuerlich war. Weil sie unmenschlich war. Weil Elion vielleicht nicht ganz so ein Riesenarsch war. Ganz vielleicht nicht.

»Wie lautet dieser Befehl des Ältestenrats?«, fuhr ich Hieronymus an. »Ich will den genauen Wortlaut hören.«

Hieronymus nickte ergeben, seinen durchdringenden Blick weiterhin auf mich gerichtet. »Einzig der Ältestenrat darf entscheiden, welcher Naphil eingeweiht wird.« Seine Lippen kräuselten sich. »Der Ältestenrat und natürlich der Primus, sobald er durch den Ältestenrat in Kenntnis gesetzt wurde.«

Langsam ließ ich meine Hand sinken. Auch ohne Daumen und Zeigefinger an meinen Schläfen ratterten meine Gedanken und fügten sich zu einem Gesamtbild. Hieronymus hatte mich eingeweiht, indem er mir die Bilder gezeigt und Zusammenhänge erklärt hatte. »Du willst, dass ich Elion verrate, was abgeht. Weil du es nicht kannst.«

»Das war meine Hoffnung, ja.«

»Und mir konntest du es sagen, weil ich keine Naphil bin.« Mit der Zungenspitze befeuchtete ich meine Unterlippe. »Was du ja schon längst wusstest, sonst hättest du mich nicht hierherzitiert und mich überredet, dir zuzuhören. Dein ganzes Gelaber, ich sei Zweck an sich – und dann willst du mich als Mittel benutzen, um die Scheißbefehle eures faschistoiden Ältestenrates zu umgehen.«

Hieronymus zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Ich sagte, ich sehe in dir auch stets den Zweck an sich, nicht nur das Mittel. Es wäre unklug, nicht beides im Blick zu behalten.«

Ich fuhr mir mit der rechten Hand übers Gesicht, als könnte ich so meine Wut, Überforderung und all die quälenden Fragen einfach fortwischen. Das Wichtigste war jetzt nicht ich, sondern dass die Bevölkerung vor den Höllenhunden gewarnt und beschützt wurde. Auf Zombiegötter konnten sie nicht hoffen. Also blieben nur deren verbohrte Nachkommen. »Wie kann ich Kontakt zu Elion aufnehmen?« Er musste eingreifen. Er würde eingreifen.

Beschwichtigend hob Hieronymus die Hände. »Eines nach dem anderen, Marika.«

»Nein«, sagte ich laut, »das muss jetzt geschehen. Sofort!« Jede einzelne Minute zählte. Während ich damit beschäftigt gewesen war, mir Jaro Irgendwen vom Hals zu halten und nicht zu oft auf eine Art und Weise an Elion zu denken, die mein Selbstwertgefühl in Grund und Boden stampfte, starben Menschen. Es war meine verdammte Pflicht, wenigstens jetzt nicht nur an mich zu denken, sondern so etwas wie Verantwortung zu übernehmen. »Entweder du sagst mir, wie ich mit dem verfickten Synphonon Kontakt zu ihm aufnehmen kann, oder ich spaziere laut brüllend durch euren verkackten Bunker und verrate allen, aus was für miesen Wichsern der Ältestenrat besteht!«

»Womit diese – ich zitiere – miesen Wichser sofort wüssten, dass du keine von uns bist.« Beiläufig strich Hieronymus eine Falte aus seinem Sacko.

»Ist mir egal«, knurrte ich zurück.

»Ein Geheimnis«, Hieronymus hob die Stimme, »das Elion nicht grundlos für sich behalten hat. Nicht einmal mir vertraute er sich an. Denn die Konsequenz wäre deine Vernichtung, egal wie groß der Nutzen deiner Gabe auch sein könnte.«

»Erzähl mir was Neues!« schnauzte ich ihn an. »Ich habe in Delta-Drei gesehen, was ihr mit Wesen anstellt, die nicht in euer Schema passen! Ihr habt ein verdammtes unschuldiges Kind aufgespießt! Früher oder später werden eh alle erfahren, dass ich keine von euch bin. Warum also Zeit verlieren?« Um meine Drohung zu unterstreichen, machte ich auf dem Absatz kehrt. Ich wäre sofort hinausgestürmt und hätte die Wahrheit aus mir herausgebrüllt, wenn ich nicht plötzlich vor einer undurchdringbaren Bücherwand gestanden hätte. Wo waren die verfluchten Gänge hin?

»Du meinst das bedauerliche Geschöpf aus der Vereinigung eines Idrin und einer Naphil«, sagte Hieronymus hinter mir. »Dein Vergleich hinkt, wenn auch nur teilweise. Der Ältestenrat würde deine Vernichtung befehligen und vorher dafür sorgen, dass Elion nichts davon mitbekommt, damit er nicht einschreitet.«

Ich schlug gegen die Bücherwand, wollte mir einen Weg hinausbahnen, doch der Schlag endete genauso wie der gegen den Spint in der Umkleidekabine: Ich schlug meine eh schon aufgeschürften Fingerknöchel blutig, als hätte ich gegen eine massive Betonwand geschlagen. »Fuck!« Fluchend schüttelte ich meine lädierte Hand.

»Und da mein Neffe sich momentan mitten im Kriegsgebiet befindet, wäre es die perfekte Gelegenheit, dich zu beseitigen. Sein Synphonos ist ausgeschaltet, um keine verräterischen Energiesignale für die Idrin auszusenden. Du kannst ihn nicht einfach kontaktieren.«

Ich ignorierte Hieronymus und warf mich mit der Schulter voran gegen die Bücher. Kein einziges von ihnen rührte sich auch nur einen Millimeter. »Was ist das hier für ein Scheiß?«

»Es ist immer gut zu wissen, über welche Gaben andere verfügen«, belehrte mich Hieronymus. »Für gewöhnlich musst du nur fragen. So hätte ich dir verraten, dass Papier unter meinen Händen nicht nur geduldig ist, sondern sich auch meinem Willen beugt. Meine Gabe erweist sich als nützlich, sobald es darum geht, rasch an niedergeschriebene Informationen zu gelangen. Oder die materielle Eigenschaft des Papiers so zu verändern, dass sie das Vielfache ihres natürlichen Gewichts annehmen.«

Vor Anstrengung, Wut und Frustration lehnte ich mich schnaufend wie ein irres Nilpferd mit dem Rücken gegen die Bücherwand. Man, wie mich das alles hier ankotzte!

»Das geht natürlich auch andersherum«, fuhr Hieronymus fort, als hätte ich ihm eine entsprechende Frage gestellt. »Wenn ich will, werden all diese Bücher federleicht. So leicht, dass du ein gutes Dutzend von ihnen spielend leicht auf deinem kleinen Finger balancieren könntest.«

Toll. Hoffentlich taten sie trotzdem weh, wenn ich sie ihm dann gegen den Kopf schleuderte.

Zornig rieb ich mir die Schulter. »Was willst du von mir?« Offensichtlich, dass ich Elion verriet, was der Ältestenrat ihm verschwiegen hatte. Nur nicht jetzt gleich. Und nicht auf die Gefahr hin, dabei draufzugehen.

»Ich will, dass du mir zuhörst«, sagte Hieronymus, beugte sich über den Tisch und deutete auf den Stuhl. »Dann wirst du auch verstehen, warum dein Vergleich mit der armen Kreatur in Delta-Drei hinkt, warum Idrin und Mithrae dich zurück in ihre Gewalt bekommen wollen und welcher Zusammenhang zwischen dir, dem ominösen Wachmann und den Höllentoren besteht.«

»Ach, diesen Zusammenhang gibt es also auch noch?«, knirschte ich. »Willst du mir am Ende sagen, das geöffnete Höllentor sei auf meinem Mist gewachsen?« Es sollte eine zynische Bemerkung sein, mehr nicht. Eine bewusste Übertreibung, weil Hieronymus doch kaum eine Verbindung zwischen mir und der Hölle ziehen konnte.

Seine Daumen umkreisten sich gegenseitig über seinem Bauch. Er wartete darauf, dass ich mich wieder setzte und brav zuhörte, ehe er mir Rede und Antwort stand. Aber da würde er lange warten können. Hieronymus wollte etwas von mir: Nicht nur, dass ich den Befehl des Ältestenrats unterwanderte und Elion warnte. Nein, da war noch mehr, sonst hätte er mir nicht den Weg mit seinen verdammten Büchern versperrt.

»Ich will die Kurzfassung hören. Kein Rumgelaber mehr, keine ausschweifenden Überlegungen, die du mit mir teilst, obwohl du schon längst weißt, was Sache ist.« Herausfordernd trat ich einen Schritt auf ihn zu. »Und dann verrätst du mir, wie ich Elion kontaktieren kann.«

Hieronymus Daumen kreisten weiter. »Die Kurzfassung könnte dich überfordern.«

»Ich genieße seit Jahren die Langfassung.« Ich breitete die Arme aus. »Sehe ich etwa aus, als würde die mich nicht überfordern?«

Hieronymus legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch, als ringe er sich zu einer tiefgreifenden Entscheidung durch. »Nun gut. Die Wasserleitungen in diesem und den angrenzenden Etagen habe ich vorsorglich schließen lassen. Wir müssen also nicht befürchten, dass du wieder ... die Kontrolle verlierst.«

Ich starrte ihn in Grund und Boden. Also hatte Hieronymus die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass bei unserem netten kleinen Gespräch dasselbe geschehen würde wie im Ekur. Dass ich die Nerven verlieren würde. Was auch immer er herausgefunden hatte: Es würde mir nicht gefallen. Nicht, dass ich es bis hierhin auch nur in Betracht gezogen hatte, irgendetwas Erfreuliches zu hören. Nein, wenn es um mich ging, konnte es nur maximal beschissen laufen. »Sag es mir.«

»Gut.« Hieronymus beugte sich vor und legte seine verschränkten Hände auf einige verstreute Akten vor sich. »Dann also die Kurzfassung, so wie du es wünscht. Es wäre mir trotzdem lieber, wenn du dich setztest.«

»Mir ist es scheißegal, was dir lieber ist.« Um ehrlich zu sein, fühlten sich meine Knie an wie Wackelpudding, aber ich hatte keine Lust, nach der Pfeife dieses farbenblinden Halbgottes zu tanzen.

Hieronymus musterte mich von oben bis unten. Er wirkte beinahe besorgt. Den Scheiß konnte er sich ebenfalls sparen. Doch hätte ich auch nur im Ansatz geahnt, was Hieronymus mir wenige Minuten später eröffnen würde, hätte ich dankbar den Stuhl in Anspruch genommen. »Also ...« Er räusperte sich vernehmlich. »Vor etwa eineinhalb Jahren-«

»Die Kurzfassung, verdammt noch mal!«, brüllte ich ihn an. Meine Nerven waren am Ende.

Doch Hieronymus fuhr stoisch fort: »- haben wir einen signifikanten Energiestoß im Süden Londons erfasst. Ein Energiestoß von solch einem Ausmaß, dass in halb England und Teilen von Wales buchstäblich die Lichter ausgingen. Nur wenig später war ein Theta-Team vor Ort: Eine kleine Kneipe, in der das Team neben einem ohnmächtigen Barkeeper die ausgeweideten Überreste eines Magus fand sowie einen winzigen Splitter eines Saphirs, der unter eine Fußleiste gerutscht war. Ich vermute, es handelt sich dabei um den Splitter einer Fluchtafel. Für besonders wirkungsvolle Zauber muss dieser in Schrift verfasst sein. Das Medium, auf dem er niedergeschrieben wird, bestimmt wiederum die Stärke des Zaubers. Eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, die nur wenige beherrschen. Sobald er gesprochen wird, zerbricht das Medium und setzt die für den Zauber notwendige Energie frei. Es gibt kein mächtigeres Medium als einen reinen Saphir und es ist zeitgleich beinahe unmöglich, mit ihm einen Zauber zu wirken. Doch wenn es gelingt und der Zauber auch noch in göttliches Blut getränkt wird ...« Hieronymus schnalzte mit der Zunge. »... dann könnte man rein hypothetisch einen Zauber sprechen, der mächtig genug ist, um bis in die tiefsten Tiefen der Hölle zu dringen. Ich sage rein theoretisch, weil wir diese Möglichkeit natürlich sofort in Betracht zogen und vorsichtshalber das Höllentor überwachen ließen. Doch nichts geschah. Es war, als wäre ein Zauber gesprochen worden und dann einfach«, Hieronymus wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum, »verpufft. So etwas kommt vor. Zum Beispiel, wenn auch nur eine Silbe des Zaubers falsch betont wird. Natürlich blieben wir trotzdem wachsam. Immerhin hatte sich jemand an einem mächtigen Blutzauber versucht, dessen Inhalt wir nicht kannten. Wir hatten aus naheliegenden Gründen die Mithrae in Verdacht und waren uns sicher, sie würden den Zauber erneut sprechen, sobald sich ihnen die Gelegenheit bot. Aber es blieb dabei: Nichts geschah. Bis sich vor zwei Wochen unversehens das Höllentor öffnete. Trotz des enormen zeitlichen Abstands hielt ich einen Zusammenhang für möglich. Im Gegensatz zu meinem Bruder, und sein Wort als Primus galt mehr als meines. Dabei wusste er zu dem Zeitpunkt schon so viel mehr als der Rest von uns. Und die Mithrae auch.«

Obwohl Hieronymus Kurzfassung schon jetzt viel zu lang ausfiel, war ich ihm nicht erneut ins Wort gefallen. Es hatte einen Moment gedauert, bis ich mich selbst in der Zeitlinie verortet hatte. Mich erinnerte, was vor eineinhalb Jahren geschehen war. Haltsuchend griff ich nach der Stuhllehne vor mir.

»An dem Tag, als der Blutzauber gesprochen wurde, haben Robert und Evelin Holz versucht, dich zu ertränken. Du sagtest selbst, Robert hätte dich angebrüllt, er sei des Wartens leid. Warten worauf? Warum wollte er dich ausgerechnet ertränken?« Mechanisch zuckte ich mit den Schultern. »Weil er wollte, dass deine Gabe erwachte. Er wusste, wozu in der Lage bist. Ebenso wie mein Bruder, der dich all die Jahre über im Auge behalten hat. Und just an dem Tag, als der arme Daniel Bowen mit herausgerissenem Herzen gefunden wurde, beschloss Nabor, dich zu holen. Es musste einfach einen Zusammenhang zwischen all dem geben. Ich verstand nur nicht welchen.« Hieronymus erhob sich, trat um den Tisch herum und hob das Tablet vom Boden auf, dass ich in meiner Rage achtlos hatte fallenlassen. »Und dann fing ich an, über die dritte Partei nachzudenken, die sich vor vier Tagen in dieses undurchsichtige Spiel mischte. Eine Partei, die sicherstellen will, dass weder Idrin noch Nephilim dich als Waffe einsetzen können. Weil man dich womöglich gegen sie richten könnte: Dämonen, die in den Feuern der Hölle gefangen sind. Wie ich schon sagte, bekämpft man Feuer mit Wasser, und das wortwörtlich. Aber das Bild wollte weiterhin nicht passen, denn warum ließen Idrin, Mithrae und Nabor dich unbehelligt, bis der Blutzauber gesprochen wurde? Was hatte sich verändert? Das Höllentor war damals ja noch geschlossen, so wie die fünf Jahrtausende zuvor.« Hieronymus wischte auf dem Tablet herum. Dann drehte er es so, dass ich das Display sah.

Er hatte ein weiteres Video geöffnet. Die Aufnahme einer wackelnden Kamera. Eine aschebedeckte Straße. Zerstörte Wagen. Ein Laternenmast, an dem ein Mann an einem neongelben Abschleppseil baumelte, dem man eine schwarze Mülltüte über den Kopf gezogen hatte. Nur wenige Meter vor ihm, auf einem Platz zwischen dem schaurigen Galgen und ohnmächtigen Leuten, lag ein undefinierbarer Haufen aus Federn, Fleisch und Knochen. Ich kannte diesen Ort. Dort war Elion beinahe das erste Mal gestorben, aufgeknüpft von einer wütenden Menge, nachdem er vor ihren Agen auf die Zombiegöttin geschossen hatte.

»Woher ...« Ein heiteres Pfeifen drang blechern aus dem Tablet. Ich erkannte es sofort. Das, was ich dort sah, war mit Simons Helmkamera aufgezeichnet worden. Er war nach unserer Rettungsaktion noch einmal umgekehrt, um die Überreste der Idrin in die Luft zu jagen. Simon beendete sein Pfeifen, blieb neben dem Gehängten stehen und sah zu ihm auf.

Ich schnappte nach Luft. In all dem Chaos und dem Versuch, Elion rechtzeitig vom Strick zu schneiden, hatte ich nicht auf den Gehängten neben ihm geachtet. Der Mann trug eine schwarze Uniform. So eine, wie sie die Wachleute im Gericht getragen hatten.

Simon murmelte etwas in der Alten Sprache. Es klang bedauernd. Dann wandte er sich den Überresten der Idrin zu und sprach weiter. Das Bedauern war Abscheu gewichen. »Und nun zu dir, du elender Truthahn«, übersetzte Hieronymus leise. »Ich denke, du wirst ein stattliches Feuerchen hergeben.« Simon kniete sich hin, die Kamera hielt direkt auf die unappetitliche Feder-Fleisch-Masse. »Kannst du mich überhaupt hören? Ich hoffe es doch sehr.« Mit einem schmatzenden Geräusch steckte Simon ein metallenes Ei in die Masse – eine Granate, an der noch der Sicherungsring hing. Hieronymus atmete tief durch und übersetzte: »Mit freundlichen Grüßen von Theta-1, du gefiedertes Arschgesicht!« Mit diesen Worten zog Simon den Ring, erhob sich und ging rasch den Weg zurück.

»Achte auf den Gehängten«, mahnte Hieronymus mich. »Ich glaube, du hast ihn bereits erkannt, nicht wahr?«

Wie in Trance nickte ich. Simons Helmkamera erfasste nur die Hälfte der baumelnden Leiche, doch es reichte um zu erkennen, dass sie sich so gedreht hatte, dass ihre auf dem Rücken gefesselten leblosen Hände zu sehen waren. Dabei hatte die Menge ihn mit dem Gesicht zur Idrin aufgehängt. So wie sie es auch mit Elion vorgehabt hatten. Simon begann wieder zu pfeifen.

»Achte auf die Hände!«, forderte mich Hieronymus eindringlich auf. »Sieh ganz genau hin.«

Ich trat einen halben Schritt dichter, bis der Stuhl mich stoppte. Simon brauchte nur wenige Schritte mehr, um den Gehängten erneut zu passieren. Im Gegensatz zu mir achtete er nicht auf den Toten. Anderenfalls wäre ihm womöglich aufgefallen, wie dessen bleiche Finger sich langsam streckten. Meine Augen weiteten sich. Das waren keine willkürlichen Todeszuckungen. Das war eine vorsichtige Bewegung, die nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken sollte. »Was zur ...«

Simon überquerte die Straße. Kurz sah ich Salmas und meinen Rücken, weiter vorne Lay, die Elion zum Bumvee schleppte. Dann folgte es eine gewaltige Explosion, die Simon zum Stolpern brachte. Hieronymus stoppte das Video.

Entgeistert sah ich zu ihm auf. »Er hat seine Hände bewegt. Der tote Wachmann hat seine Hände bewegt.«

»Zwei Wachmänner innerhalb weniger Stunden werden zum Gegenstand unseres Interesses«, sagte Hieronymus. »Der erste war laut Elion menschlich, kann aber eine Chimäre töten. Der zweite war bereits tot, als die Anhänger des Propheten Elion auf den Platz brachten. Wäre er ein Idrin gewesen, hätte Elion es bemerkt. Abgesehen davon hätte der Prophet wohl kaum die Hinrichtung eines Gottes gefordert, nicht wahr? Und doch bewegt der vermeidlich Tote seine Finger. Fast so, als wollte er nach etwas greifen.«

»Und er hat sich gedreht«, stammelte ich. »Ich bin mir sicher, dass er sich vorher gedreht hat.«

»Oh, das hat er definitiv«, bestätigte Hieronymus. »Glaub mir, ich habe mir die Aufzeichnung einige Male angesehen und bin mir sicher. Doch wonach will er greifen? Kurz bevor eine Granate nur wenige Meter hinter ihm in die Luft geht? Was er natürlich weiß, weil unser redseliger Magus es ihm unbeabsichtigt verraten hat.«

»Feuer«, sagte ich ohne nachzudenken. »Er hat von Feuer gesprochen, nicht von einer Granate.«

»Ganz genau. Es sieht so aus, als bereite der Gehängte sich darauf vor, nach dem Feuer zu greifen, das Aitken angekündigt hat. Etwas, was kein Idrin tun würde. Feuer verletzt sie ebenso wie dich und mich.«

»Vielleicht wollte er sich schützen?«, versuchte ich mich in einer Erklärung. Was keinen Sinn ergab, wenn der Gehängte menschlich war. Aber dann wäre er doch tot gewesen. Ich bekam Kopfschmerzen. Was erwartete Hieronymus eigentlich von mir? Dass ich allein darauf kam, warum eine Leiche, die kein Idrin war, plötzlich lebendig wurde? »Wer ist der Kerl?«

Bedächtig legte Hieronymus das Tablet auf einen Aktenstapel, ehe er sich wieder mir zuwandte. »Es tut mir leid, wenn ich dir sagen muss, dass ich es nicht weiß. Aber ich habe eine Vermutung. Wieder einmal. Ich denke, der Gehängte dort ist ein Mythos, Marika. Eine Schreckensgestalt aus alten Tagen, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Erschaffen von den Alten Göttern, um die Idrin mit Feuer und Schatten zu vernichten. Und glaub mir, wenn ich das sage: Ich hoffe inständig, dass ich mit meiner Vermutung falschliege. Dass er nicht ist, für wen ich ihn halte.«

»Wer. Verdammte. Scheiße. Ist. Er?« Ich würde Hieronymus gleich an die Gurgel springen, wenn er mir keine klare Antwort lieferte.

»Der Erste Dämon, erschaffen aus der lodernden Glut der Hölle, Geißel der Idrin und Verschlinger der Seelen.« Hieronymus strich sich über die Stirn, als glaubte er selbst nicht, was er gerade sagte. »Er hatte einst ebenso viele Namen wie Gestalten, in denen er über die Erde wandelte: der Listenreiche, Herr der Wüste, Chaosbringer.«

Meine Finger krampften um die Stuhllehne. »Sag es doch einfach. Immer nur heraus mit der Wahrheit. Ist ja nicht so, als würde mir nicht langsam dämmern, wer da neben Elion baumelte.« Immerhin, meine Stimme war fester als meine Knie, die jeden Moment unter mir wegzusacken drohten. Heilige Scheiße noch mal ...

Hieronymus legte seine Hand auf seine Brust. Schlug sein eigenes Herz ebenfalls so hart gegen die Rippen, dass sie zu brechen drohten? Dabei wusste er doch schon längst, was mir erst jetzt klar wurde. Ich hatte allen Grund zu einer panischen Überreaktion, er wohl kaum, also sollte er sich bitte mal wieder einkriegen.

»Satan, Lucifer, Diabolus.« Als würde Hieronymus mit Gewalt ein eingetrocknetes Pflaster von einer eitrigen Wunde ziehen: Kurz und schmerzlos, so wie ich es verlangt hatte. »Nach Jahrtausenden der Gefangenschaft dem Großteil seiner Macht beraubt und deshalb selbst für einen Seelenseher wie Elion menschlich erscheinend. Er ist euch gefolgt. Bis Delta-Drei, wo er den Motor des Bumvees zum Schmelzen gebracht hat. Und dann weiter bis in den Sturm hinein.« Mit Müh und Not und zitternden Beinen schaffte ich es, mich zu setzen, bevor Hieronymus sagte: »Er ist hinter dir her. Der Teufel persönlich hat es auf dich abgesehen, um dich dorthin zu bringen, wo du seiner Meinung nach wohl hingehörst: in die Hölle.«

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